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XXIV. Blumen und schmutzige Finger

Zum zweitenmal erschien Asbjörn Krag in Arnold Singers kleiner Wohnung.

Mit dem Sinn für Kleinigkeiten, der für Polizeibeamte charakteristisch ist, erfaßte er auch jetzt sofort, wie rein und ordentlich alles in der kleinen Häuslichkeit gehalten war. Es sah aus, als ob die Angst und Aufregung der letzten Tage den Sinn für Sauberkeit bei der jungen Frau nicht im geringsten beeinträchtigt hätte, sogar frische Blumen standen auf den Borden ...

Blumen! Krag blieb auf der Schwelle stehen und ließ die anderen vorangehen. Er blieb stehen und betrachtete die Blumen. Es waren ungewöhnlich zahlreiche und ungewöhnlich schöne Blumen. Erst als der Arzt sich Krag mit einem Gruß näherte, konnte der Detektiv sich von seiner Bewunderung für die schönen Blumen losreißen, – eine Bewunderung, die Keller so unangebracht vorkam, daß er seinen Freund vorwurfsvoll ansah.

Der Arzt sagte:

»Hier ist nichts mehr zu machen – ein Schuß durch die Schläfe – der den Tod sofort herbeigeführt hat. Ich werde später meinen ausführlichen Rapport einreichen.«

»Wer hat nach Ihnen geschickt?« fragte Krag.

Der Arzt deutete aufs Nebenzimmer.

»Der da drinnen,« sagte er, »ein großer, dicker Mann, sein Vater, wie ich annehme.«

Als Krag ins Nebenzimmer trat, war Keller bereits im Begriff, den Toten zu untersuchen.

Krag blieb in der Tür stehen und nahm das Zimmer in Augenschein.

Es war etwas kleiner als das erste, offenbar eine Art Ankleidezimmer in sehr anspruchslosem Stil. Das Zimmer hatte zwei Fenster, eins zur Straße und eins zum Hof. In dem Fenster zum Hof hatte Schutzmann 314 Clary Singer gesehen, als sie zu Tode erschrocken um Hilfe schrie. Beide Fenster standen offen und der feuchte Wind strich durchs Zimmer und machte die Stimmung drinnen noch ungemütlicher. Die Luft wurde immer dunkler, der Regen war nicht mehr fern. Der Arzt war gegangen, und außer Krag und Keller hielten sich nur zwei Menschen im Zimmer auf. Der eine war der Wirt vom »Vergoldeten Pfau«, der riesige Restaurateur Whist, der mit seiner ungeheuren Körperfülle das Fenster beschattete, und der, als er Asbjörn Krag ansichtig wurde, förmlich vor Ingrimm schwoll und schrie:

»Sie! Sie – Sie!«

Mit diesen Worten drückte er so deutlich wie es ihm möglich war, seinen Abscheu und sein Bedauern über das Geschehene aus. Der Wortvorrat dieses Kolosses schien ungewöhnlich beschränkt zu sein und seinen Gefühlen nicht Luft genug schaffen zu können, so daß er fast platzte.

Krag trat auf ihn zu und ließ seine Hand in einer regenfeuchten Falte der Gewitterwolke verschwinden.

»Wir sind hier, um Klarheit in das Vorgefallene zu bringen und das Verbrechen zu rächen,« sagte er, »uns brauchen Sie darum nicht böse zu sein.«

»Nein, nein,« brummte das Morgengewölk, »aber seitdem ich Ihr Gesicht im Pfau gesehen hab', ist all dies Unglück über uns hereingebrochen.«

»Doch nicht alles,« antwortete Krag, »denn es hatten sich schon Dinge zugetragen, bevor ich mich dort zeigte.«

Krag wußte, daß das Morgengewölk diese Bemerkung nur halb verstehen würde, er hatte aber Lust, ihm in die Augen zu sehen. Sie glänzten grimmig wie immer in diesem gewaltigen und unnatürlichen Kopf, gleichzeitig aber drückten sie in diesem Augenblick eine gewisse Hilflosigkeit aus.

Darauf wandte Krag sich an die zweite Person, die sich im Zimmer befand.

Müde gegen den Fensterpfosten gelehnt, während sie mit ihren bebenden Händen die flatternde Gardine zurückzuhalten versuchte, stand Clary Singer.

Krag faßte sie sanft am Handgelenk und führte sie sorgsam ins Nebenzimmer, wo 314 wartete. Sie ließ sich willig führen, es war, als ob sie ein gewisses Zutrauen zu ihm gefaßt habe.

»Können Sie sich das Geschehene erklären,« fragte der Detektiv.

Sie schüttelte nur den Kopf.

»Nein,« antwortete sie hilflos. »Ich war ausgegangen, um Milch fürs Kind zu holen, das im Schlafzimmer schläft. Charlie lag auf dem Sofa und las. Er war gerade von der Polizei zurückgekommen, wo er sich ja jeden Tag melden muß. Ich kam mit der Milch zurück, öffnete die Tür zum Schlafzimmer und das Kind schlief noch immer. Es schläft auch jetzt noch. Wollen Sie es sehen?«

»Nein,« antwortete Krag, »lassen Sie das Kind schlafen. Was dann weiter?«

»Dann blieb ich am Fenster sitzen, wo ich die ganze Zeit gesessen habe, seit Sie mir Arnold genommen haben. Ich sitze am Fenster und sehe auf die Straße hinaus, denn ich erwarte ja noch immer, daß er jeden Augenblick zurückkommt. Ich bin fest davon überzeugt, daß Arnold nichts mit all diesen Geschichten zu tun hat. Ich weiß es, denn ich kenne ihn. Wenn die Polizei ihn besser kennte, würde sie es auch verstehen; wenn Sie ihn kennten, dann ...«

»Hier ist nicht von Arnold die Rede,« unterbrach Krag sie, »sondern von Ihrem ermordeten Bruder. Wie entdeckten Sie den Mord? Haben Sie etwas gehört?«

»Nein,« antwortete sie, »im Gegenteil, ich hörte gar nichts, ich hörte nicht einmal, daß er die Seiten seines Buches umblätterte, alles war totenstill. Das Furchtbare muß geschehen sein, während ich fort war. Gerade die furchtbare Stille weckte mein Mißtrauen. Sie wissen nicht, wie entsetzlich es ist, wenn man Stunde um Stunde wartet und nachts nicht schlafen kann, nein, Sie ahnen nicht, wie schrecklich es ist, wenn alles um einen herum still ist, totenstill. Während ich so saß, wurde ich ernstlich unruhig, weil ich nicht mehr hörte, wie er die Seiten umwandte, und schließlich rief ich zu ihm hinein: ›Charlie, schläfst du?‹ Er aber antwortete nicht. Da dachte ich: Er schläft. Und wieder saß ich eine lange Weile und lauschte, ob ich seine Atemzüge nicht hören könnte. Ich hörte aber nichts. Die Tür stand offen und ich dachte: Vielleicht ist er ausgegangen. Ich ging zur Tür und guckte hinein, und plötzlich meinte ich, daß ich einen furchtbaren Traum hätte, denn er lag mit den Füßen auf der Erde und dem Kopf auf dem Sofa, und Blut rann von seiner Stirn auf den Teppich. Und dann weiß ich nichts mehr von mir, bis ich am Fenster stand und schrie, während ein Schutzmann auf mich zukam ...«

Sie sprach mit einer Art hysterischer Geschwätzigkeit, der Frauen bei nervösen Anfällen anheimfallen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und verstört.

Krag hieß sie zu dem Kind hineingehen und dort bis auf weiteres verweilen. Außerdem ließ er 314 an der Tür aufpassen, damit sie nichts Unüberlegtes tat.

In dem kleinen Ankleidezimmer hatte Keller unterdessen eine sorgfältige Untersuchung des Toten vorgenommen.

»Sehen Sie hier,« sagte er, als Krag hereintrat, »ein gewaltsamer, aber kurzer Kampf hat stattgefunden, die Kleider des Ermordeten sind auf der Brust aufgerissen und das Hemd ist zerfetzt. Das Gesicht des Toten spiegelt einen intensiven Schreck. Das ist indessen nicht das Wichtigste, sondern das Wichtigste ist, daß der Mörder deutliche Abdrücke seiner Finger auf dem Hemd hinterlassen hat. Endlich etwas, woran wir uns halten können. Was ist Ihnen denn ...«

Keller sah seinen Kollegen bestürzt an.

»Sie wittern durch die Luft wie ein Hund,« sagte er, »was soll das bedeuten?«

»Das Wichtigste,« antwortete Asbjörn Krag halb abwesend, »das Wichtigste ist vielleicht dieser seltsame Duft. Kennen Sie ihn nicht aus dem Zimmer des verrückten Professors? Es ist derselbe Blumenduft und dieselben Blumen.«


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