Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII. »Zum vergoldeten Pfau« I

»Sie sind Kellner?« sagte Krag.

Das war nicht schwer zu erkennen, die schwarzen Hosen und die weiße, fleckige Hemdbrust verrieten ihn. Statt des Kellnerfracks trug er einen großkarrierten Mantel. Er sah aus wie ein Schauspieler, der mit geübter Maskierungskunst einen Kellner aus einem kleinen Wirtshaus darstellen will. Alles an diesem Mann war von durchwachten Nächten und Trunk geschwächt. Durch den gelben und dünnen Bart sah man die blasse Haut. Die Reste seines Haares waren mit anerkennenswerter Ökonomie und mit Hilfe von Pomade zierlich geordnet, um den zunehmenden Mond zu verbergen, wenn es angebracht ist, bei diesem Schädel einen Vergleich mit der hohen Astronomie zu wagen. Der Blick seiner Augen war matt und trübe und erinnerte an den schmierigen Glanz eines schlecht abgewaschenen Schnapsglases, die Nase war spitz und hatte jenes verfrorene Aussehen, das Menschen, die schon längere Zeit Bacchus angebetet haben, kennzeichnet. Er sprach in einem leisen, vertraulichen Ton und verbeugte sich immerzu, als fragte er diskret, ob er die Rechnung bringen dürfe.

»Ja, ich bin Kellner,« flüsterte er, »und fürchte sehr, daß ich meinen Platz verlieren könnte.«

»Wie heißen Sie?« fragte Keller.

»Rudolf.«

»Und wo sind Sie Kellner?«

»Das kann ich den Herren erst sagen, wenn Sie mir versprechen, mich nicht zu verraten.«

»Das versprechen wir.«

»Denn wenn mein Prinzipal erfährt, daß ich auf die Polizei gegangen bin, o du mein Himmel, dann jagt er mich gleich fort.«

»Hat Ihr Prinzipal solche Angst vor der Polizei?«

»Nein, nein, so war's nicht gemeint, er mag nur nicht, daß die Polizei sich in seine Angelegenheiten mischt. Die Polizei hat in einem anständigen Geschäft nichts zu suchen, sagt mein Prinzipal immer.«

»Da hat er recht,« sagte Keller, »und wir wollen Sie auch nicht in Verlegenheit bringen. Also, wo sind Sie angestellt?«

»Im Hotel ›Zum vergoldeten Pfau‹.«

Keiner der beiden Detektive verriet durch das leiseste Mienenspiel die Überraschung, die sie bei diesen Worten fühlten. Die kleine Pause aber, die entstand, zeigte, daß sie beide an den unerwarteten Zufall dachten, der die Fäden abermals auf dieses Hotel zuführte.

»Und in diesem Hotel sind Sie Abbé Montrose begegnet?«

»Ja.«

»Heute morgen um sechs Uhr?«

»Gleich nachdem ich aufgestanden war, und ich stehe immer Punkt sechs Uhr auf.«

»Kannten Sie denn Abbé Montrose von früher?«

»Nein.«

»Woher wußten Sie denn, daß er es sei?«

»Das erfuhr ich auch erst später – als ich die Zeitung gelesen hatte.«

Keller machte ein mißmütiges Gesicht.

»Da haben wir es,« murmelte er, »wenn ein Mensch verschwindet und die Zeitungen eine Sensation daraus machen, kommen immer eine Menge Menschen, die uns Dummheiten einbilden wollen.«

»Vergessen Sie nicht, das Hotel ›Zum vergoldeten Pfeil‹,« sagte Krag.

»Das ist wahr,« gab Keller zu. »Wir müssen Näheres erfahren. Sagen Sie mal, Herr Rudolf, Sie meinten also den Abbé nach der Beschreibung der Zeitungen zu erkennen?«

»Freilich,« antwortete Rudolf, »der Priesterrock ... der Priesterrock mit dem Riß darin.«

»Hallo,« fiel Krag freundlich ein. »Kommen Sie näher und setzen Sie sich ...« Und Krag zog seine Füße vom Tisch herunter.

»Der Priesterrock,« sagten beide Detektive wie aus einem Munde, »war der Abbé denn in Amtstracht?«

»Nicht als er kam,« antwortete Rudolf, »er hatte sie aber bei sich. Er kam vom Bahnhof mit einer braunen Handtasche. Ich ließ ihn herein, denn der Wirt war noch nicht aufgestanden.«

»Einen Augenblick,« unterbrach Keller. »Hatten Sie diesen Mann schon früher gesehen?«

»Nein, nie.«

»Gut, fahren Sie fort.«

»Er fragte, ob er ein Zimmer bekommen könne, denn er wolle einige Stunden ruhen, er käme von einer langen Reise, sagte er. Ich wies ihm ein Zimmer an und er ging gleich zu Bett, nachdem er mir aufgetragen hatte, ihn um zwei Uhr zu wecken. Er schrieb seinen Namen ins Fremdenbuch, Thomas Uri, Schiffsmakler. Ein komischer Name, finden Sie nicht auch, meine Herren?«

»Ein gut gekleideter Mann?« fragte Keller.

»Ein sehr feiner Herr, höchst anständiges Trinkgeld, ein vornehmes und priesterliches Auftreten. Leider habe ich ihn nicht um seinen Segen gebeten, als er wieder fortging, denn ich ahnte damals nicht, wer er war, ich habe ja so selten Gelegenheit, in die Kirche zu gehen,« lispelte Rudolf unzusammenhängend.

»Wie kamen Sie auf den Gedanke«, daß es Abbé Montrose sei?« fragte Keller.

»Ich will der Reihe nach erzählen,« antwortete Rudolf. »Um zwei Uhr weckte ich also den Herrn. Hat jemand nach mir gefragt? war das erste, was er sagte. Nein, Herr Thomas Uri, antwortete ich, denn wenn man sich den Namen der Gäste gleich merkt, wird man immer freundlich behandelt. Ich erwarte einen Herrn, sagte er, führen Sie ihn gleich herauf, wenn er kommt. Kaum fünf Minuten später erschien dieser Herr. Es war ein älterer, sehr vornehm aussehender Herr, mit zarter, rosiger Haut und weichem Bart. Wenn ich's mir recht überlege, kann es ein Bischof gewesen sein, ich habe allerdings nie das Glück gehabt, einen Bischof zu sehen. Aber so hab' ich ihn mir vorgestellt, mit solchem Gesicht, das geradezu Frieden ausstrahlte. Nun, diesen Herrn, den ich mir erlaube, einen Bischof zu nennen, obgleich er vielleicht nur ein Pfandverleiher aus der Hafengegend war, diesen Herrn führte ich selbst zu Herrn Thomas Uri hinauf, und sie sprachen eine halbe Stunde sehr leise zusammen, auf Herrn Uris Zimmer.«

»Waren Sie denn bei diesem Gespräch zugegen?« fragte Keller.

»Nein, allerdings nicht, aber es wurde so leise geführt, daß ich draußen nichts verstehen konnte. Nachdem eine halbe Stunde verstrichen war, klingelte Herr Uri und bezahlte seine Rechnung und dann gingen die Herren zusammen hinunter. Herr Uri trug seine kleine braune Handtasche selbst, ich durfte es nicht. Bei dieser Gelegenheit aber erfuhr ich, daß Herr Uri schon früher im Hotel gewohnt haben muß, obgleich nicht zu meiner Zeit. Denn er war mit der Hausgelegenheit vertraut. Er ging ohne weiteres durch die Tür ins Café, obgleich der eigentliche Ausgang vom Hotel durchs Vestibül und den Torweg führt. Im Café blieben sowohl Herr Uri wie der Bischof vor der Bar stehen und begrüßten den Wirt.«

»Herrn Whist?« fragte Keller.

»Ja, Whist, obgleich dieser Name besser auf einen jungen Gecken als für den Wirt paßt, der ein furchtbar dicker, schwerfälliger Mann ist, ganz rot und ganz weiß, denn er steht immer hinter dem Schenktisch in einem weißen Anzug mit einer weißen Mütze auf dem Kopf. Herr Uri kannte den Wirt, der allerdings nicht mit ihm sprach, denn der Wirt spricht selten, das strengt ihn zu sehr an, aber er gab ihm seine Hand über den Bartisch. Ich kenne diese Begrüßung. Sie bedeutet vertrauliche Freundschaft, ein Grunzen bedeutet Wiedererkennen, ein kleines Räuspern bedeutet Willkommen. Wenn er sich aber von dem Schenktisch losmacht und hervorkommt, weiß und rot wie ein drohendes Morgengewölk und den Fuß hebt, dann bedeutet es Abschied, meine Herren, hinaus aus meinem Haus, Elender, bedeutet es, und was soll dann der arme Rudolf machen? Sie werden also begreifen, was ich aufs Spiel setze, meine Herren, und Sie müssen sehr vorsichtig sein und mich nicht verraten.«

Krag warf ihm einen Geldschein zu.

»Weiter,« sagte er ungeduldig.

Rudolf steckte den Schein mit einer Behendigkeit in die Tasche, wie nur der sie besitzt, der aus alter Gewohnheit auf einen Schein herauszugeben vergißt.

»Ich begab mich auf Herrn Uris Zimmer,« fuhr Rudolf fort, »was ich stets zu tun pflege, um nachzusehen, ob die Reisenden etwas vergessen haben. Menschen sind so vergeßlich. Wenn die Gäste etwas Wertvolles vergessen haben, behalte ich es – bis sie wiederkommen und danach fragen. Ich bin, wohlgemerkt, ein ehrlicher Mensch. Wenn es etwas weniger Wertvolles ist, laufe ich hinter den Gästen her und bekomme dann immer ein kleines Trinkgeld. Ich öffne also die Tür und nehme einen Überblick über das Zimmer. Niemand versteht es wie ich, meine Herren, in einem einzigen Augenblick ein Zimmer zu übersehen. Die kleinste Veränderung entgeht mir nicht. Und da sah ich gleich, daß der Zipfel eines schwarzen Kleidungsstückes aus dem Gitter der Zentralheizung heraussteckte. Der Heizkörper sitzt unter dem Fenster und ist von einem hübschen Messinggitter verdeckt. Nur mein geübter Blick konnte den kleinen Zeugfetzen entdecken. Ich öffne das Gitter (es laßt sich nämlich öffnen) und ziehe, was glauben Sie, einen Priesterrock, Abbé Montroses Priesterrock hervor.«

»Woher wußten Sie, daß es Abbé Montroses Rock sei?«

»Liebe Herren,« antwortete Rudolf. »Ich hatte ja in der Zeitung von dem zerrissenen Rock gelesen und dieser Rock war genau so zerrissen, wie die Zeitungen es beschrieben hatten. Da dachte ich bei mir: Donnerwetter, der verschwundene Abbé ist hier gewesen, und darauf stopfte ich den Rock wieder auf den Heizkörper.

Ich habe keiner lebenden Seele etwas davon gesagt, denn ich wußte ja, daß Herr Uri den Wirt kannte, und ich bin zu klug, um die Geheimnisse des Hotels zu verraten und bin klug genug, um zu verstehen, daß solche Geheimnisse wertvoll sind.«

Er schlug mit Wohlbehagen auf seine Tasche, wo Krags Schein steckte.

Krag erhob sich.

»Wann müssen Sie wieder im Hotel sein?« fragte er.

»Um neun Uhr.«

»Schön. Um halb zehn kommen zwei Herren, die in Ihrem Hotel einkehren wollen.«

»Ich verstehe, ich verstehe,« antwortete Rudolf. »Was aber wollen die beiden Herren sein? Das Hotel ›Zum vergoldeten Pfau‹ ist eine besondere Art Hotel, und ungewohnte Gäste erwecken Aufsehen.«

»Sie haben recht,« antwortete Krag, »was sollen wir denn vorstellen?«

»Verzeihen Sie,« antwortete Rudolf, »aber Sie müssen ein Trapezkünstler und der Herr dort ein Bänkelsänger sein. So ist nun einmal unser Hotel.«


 << zurück weiter >>