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XXX. Vor der Entscheidung

Keller sah triumphierend aus, als er diese Mitteilung machte, und hinter ihm stand ein Gefängniswärter mit einem rasselnden Schlüsselbund. Der Gefängniswärter nickte.

»Ja, das hat seine Richtigkeit,« sagte er. »Ich sollte von dem Gefangenen Nummer 42 grüßen und er möchte gern ein Bekenntnis ablegen. Während der letzten Tage ist er still und verschlossen gewesen, offenbar bereut er und will sein Gewissen entlasten.«

»Warum gehen Sie nicht zu dem Untersuchungsrichter damit?« fragte Krag.

»Weil er sein Bekenntnis nicht vor der Schranke, sondern in der Zelle ablegen will, sagte er.«

»Und vor dem Prediger?«

»Er will mit keinem Priester sprechen.«

»Warum aber gerade Keller?« fragte Krag weiter. Diese Mitteilung war ihm offenbar höchst überraschend gekommen.

»Natürlich, weil er Vertrauen zu mir gefaßt hat,« warf Keller ein, nicht ohne einen gewissen Stolz.

Der Gefängniswärter fügte hinzu:

»Der Gefangene hat ausdrücklich gewünscht, sich Herrn Keller anzuvertrauen.«

»Kannte er ihn vielleicht?«

»Nein, er sagte nur, daß er mit dem Detektiv in dem gelben Khakianzug sprechen möchte.«

Krag betrachtete Keller, der einen gelbbraunen Khakianzug trug, der bei Hitze so praktisch ist. Er selbst, Krag, trug einen gewöhnlichen schwarzen Jackettanzug. Ein Mißverständnis war ausgeschlossen. Singer hatte Keller gemeint.

Keller lachte herausfordernd.

»Sie sind wohl paff, nicht wahr, lieber Freund,« sagte er.

»Keineswegs,« antwortete Krag, »ich bin nie erstaunt, wenn etwas Ungewöhnliches passiert. Ich bin immer auf Überraschungen vorbereitet.«

»Ich sehe bereits die Zeitungen morgen früh vor mir,« fuhr Keller in demselben neckenden Ton fort. »Der Gefangene hat gestern dem tüchtigen Detektiv Sirius D. Keller ein vollständiges Geständnis abgelegt – – – klingt das nicht gut? Dergleichen hat immer einen günstigen Einfluß auf die Beförderung. Aber ernsthaft gesprochen, Krag, das ist nur Scherz von mir. Ich weiß ja, welchen wesentlichen Anteil Sie an der Arbeit in dieser Sache haben. Sie sollen mich auch ins Gefängnis begleiten ... Aber zum Teufel, warum starren Sie mich denn so an?«

Asbjörn Krag betrachtete seinen Kollegen von oben bis unten, eifrig forschend, als ob er plötzlich etwas Eigentümliches an ihm entdeckt habe.

»Es fällt mir zum erstenmal auf,« sagte er, »wie verschieden wir beide im Grunde sind. Ich bin groß, mager und sehnig, wie ein Bergsteiger, Sie sind mittelgroß und muskulös, wie ein moderner Sportsmann. Der Khakianzug steht Ihnen übrigens gut. Sie sollten stets in Khaki gehen. Wenigstens in dieser Jahreszeit. Die Sonne sticht bereits wie mitten im Sommer.«

»Zum Donnerwetter, was soll das bedeuten?« rief Keller ärgerlich und runzelte die Stirn. »Machen Sie sich über mich lustig?«

»Keineswegs,« antwortete Krag und reichte ihm die Hand. »Ich pflege nur so ins Blaue hinein zu schwatzen, wenn ich an etwas ganz anderes denke.«

»Wollen Sie mich ins Gefängnis begleiten?«

»Ja, ich werde Sie begleiten, um festzustellen, daß ich hinausgeworfen werde.«

»Von wem?«

»Von dem Gefangenen.«

»Wie beliebt? Wie sollte ein Arrestant es wagen, Sie hinauszuwerfen?«

»Wenn der Gefangene sagt, daß er den Mund nicht auftun wird, solange ich in der Nähe bin, dann nenne ich es mit einem milden Ausdruck, daß ich hinausgeworfen werde.«

»Wir werden sehen.«

»Aus diesem Grunde gehe ich mit.«

Pol erhob sich.

»Wenn ich recht verstehe,« sagte er, »ist meine Expedition jetzt überflüssig geworden.«

»Im Gegenteil,« sagte Krag, »sie ist jetzt erst recht notwendig.«

»Gut, dann wird es Zeit, daß ich verschwinde.«

Er nahm seine Brieftasche heraus, zählte die hohen Scheine und brummte befriedigt.

»Da ich ausgehe, um mich bestehlen zu lassen,« sagte er, »wünsche ich um einen anständigen Betrag bestohlen zu werden. Ich bin ein Mann von Ehre.«

Krag trat ans Fenster, um Pol im Auto abfahren zu sehen. Schlank und elegant lehnte er sich graziös in die Ecke des Autos zurück. Dann fuhr er ab.

Bevor die beiden Detektive sich ins Gefängnis begaben, fragte Krag:

»Haben Sie den Rapport über das Gefängnisgesicht gelesen?«

»Über Georges, ja. Und ich muß gestehen, daß ich selten so überrascht worden bin. Das bringt uns der Lösung ja nicht um den kleinsten Schritt näher. Die Affäre Georges ist eine Sache für sich, eine Rachetat, die ganz und gar nichts mit der Affäre Montrose zu tun hat.«

»Sehr richtig,« antwortete Krag, »und gerade solche Fälle machen die einfachste Sache so undurchdringlich geheimnisvoll. Nach Georges' Bekenntnis habe ich seine Angaben Punkt für Punkt durchgeprüft und sie haben sich alle als richtig erwiesen. Übrigens hatte ich bereits, als ich den Brief von dem Gefängnisdirektor bekam, in dem er Charlies gemeine Verräterei und Georges' unglückliche Grübeleien erwähnte, das bestimmte Gefühl, daß Georges nichts mit der Affäre Montrose zu tun habe. Durch einen reinen Zufall haben der Fall Montrose und der Fall Georges sich gekreuzt. Wären wir davon ausgegangen, daß ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Sachen existierte, würden wir niemals diesem Geheimnis auf den Grund gekommen sein. Durch einen Zufall bekamen wir durch Charlie die Verbindung mit der Affäre Montrose, weil er Husarenweg 28 wohnte und mit dem verdächtigen Arnold Singer verschwägert war. Georges' Rache aber hätte ebensogut irgendeinem anderen gelten können, und in dem Fall hätte diese ganz nebensächliche Rachetat niemals unsere Annahmen gekreuzt.«

»Auf diese Weise,« meinte Keller mißvergnügt, »kann es leicht geschehen, daß auch andere Glieder in der Untersuchung sich in Bestandteile auflösen, die nichts miteinander zu tun haben. Vielleicht haben wir es hier nicht mit einer Sache, sondern mit mehreren Sachen zu tun, die sich nur rein zufällig ineinander verfilzt haben.«

»Das glaube ich kaum,« antwortete Krag, »denn alles übrige kann direkt auf die tragische Nacht in Abbé Montroses Garten zurückgeführt werden. Übrigens, wenn die Sache Georges uns auch nicht direkt angeht, so hat sein Bekenntnis uns doch erklärt, warum es Charlie so eilig war, fortzukommen. Ihm ahnte, daß der Rächer unterwegs sei. Er mußte Geld haben, um noch in derselben Nacht abzureisen. Aber ich bin froh, daß wir die Affäre Georges abgesondert haben, weil uns auf diese Weise die Lösung des Knotens leichter werden wird.«

»Leichter,« rief Keller erstaunt. »Durch Arnold Singers Bekenntnis werden doch hoffentlich alle Rätsel aus dem Wege geräumt werden.«

»Meinen Sie?« antwortete Krag. »Nun, wir werden sehen, was er zu sagen hat.«

Die beiden Detektive bekamen den Schlüssel von dem Gefängniswärter und standen einige Minuten darauf in Arnold Singers Zelle.

Die beiden Tage seiner Gefangenschaft hatten den Gartenarbeiter auffällig verändert. Er war magerer geworden und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Diese Augen aber leuchteten noch immer mit demselben ruhigen, intensiven Glanz. Krag fühlte sich stets von diesem Blick gefesselt, der durchdringend, überlegen und wachsam war. Solche Augen, dachte der Detektiv, gehören einem willensstarken und unzugänglichen Menschen. Ebenso wie das vorige Mal, als Krag ihn besuchte, lag er auch jetzt auf der Pritsche ausgestreckt, die Arme unter dem Nacken verschränkt. Vor ihm auf der Erde stand sein Essen, das er nicht angerührt hatte.

»Warum essen Sie nicht,« fragte Krag.

»Weil ich krank bin,« antwortete Arnold Singer.

»Sie haben den Wunsch geäußert, ein Geständnis abzulegen?«

»Ja.«

»Warum wollen Sie nicht vor die Schranken gestellt werden?«

»Weil ich es nicht vertragen kann, all die dummen neugierigen Augen auf mich gerichtet zu sehen.«

»Haben Sie etwas dagegen, daß ich höre, was Sie zu sagen haben?«

»Solange Sie hier sind, werde ich kein Wort sagen. Man vertraut sich doch nur einem Menschen an.«

»Und Sie wünschen nicht, daß ich dieser Mensch bin?«

»Nein, ich will mich diesem Herrn da anvertrauen. Wie heißen Sie? Keller, schön. Ihnen will ich mich anvertrauen. Es ist ja das einzige, was mir noch freisteht, nicht wahr, den zu wählen, dem ich mich anvertrauen will.«

Er sah Krag kalt und abweisend an.

»Adieu, mein Herr,« sagte er.


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