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XXXIII. Arnold Singers Bekenntnis II.

»Was sagte ich? Ist er bereits über das Staket gestiegen? Meine Gedanken haben den Ereignissen vorgegriffen, mein Herr. Ich fühle dasselbe Beben, dieselbe Unruhe wie damals. Auch damals eilte meine Phantasie den Ereignissen voraus. Ich befand mich wie in einem Wogengang von schreckerfüllter Erwartung. Ich versuchte, meine Angst mit einer unerträglichen Eile zu übertäuben. So ist es auch jetzt wieder, wo ich mir alle Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen versuche; mein Herz hämmert wild, schneller! schneller! Wie ein Tier, das Nahrung wittert, eile ich der Entscheidung, der unwiderruflichen Entscheidung entgegen, die mein Gemüt mit Ruhe sättigen soll. Und dennoch erkenne ich jetzt, daß ich auf meiner Reise vom Gartenzaun bis zur eichenen Haustür, eine Unendlichkeit von Beobachtungen und Stimmungen erlebt habe. Eine Reise nenne ich es, mein Herr, obwohl es nur eine schleichende Wanderung von wenigen Minuten war. In diesen wenigen Minuten aber unmittelbar vor der Handlung, legt der Mörder eine seltsame Reise durch die Himmelsstriche wechselnder Stimmungen zurück. Alle seine Sinne sind in einer unerhörten Empfänglichkeit geöffnet, alles, was er hört und sieht, alles, was er aufnimmt, jede Kleinigkeit bekommt eine ungewöhnliche Bedeutung, während die heftigen Stoßwinde in seinen Nerven ihn vorwärtstreiben. Die Zeit selbst hat ihren Umfang verändert. Darum empfindet er die Sekunden schwer, sein Auffassungsinstinkt arbeitet aufs differenzierteste, ein Schatten, ein Blatt auf seinem Wege, das Geräusch eines rollenden Steines, werden zu großen, folgenschweren Ereignissen, die Schreck, Nachdenken, Verzweifeln und wieder Entschlossenheit hervorrufen. Oh, mein Herr, es ist richtig, daß der Mörder der größte Feind des Lebens ist, darum tun sich auch alle Äußerungen des Lebens zusammen, um seinen letzten Schritt zu einer langen, entsetzlichen Reise zu machen. Überwindet er sie, dann vollbringt er die Handlung, immer aber wird er von der schmerzvollen Ewigkeit der letzten Minuten eingefangen.

Was sah der Mörder, als er im Schatten des höchsten Baumes über das Staket glitt?

Er sah, wie das Haus in der Stille schlummerte. Die Bäume waren dunkel, die Landstraße grauer geworden. Wie eine halb verwischte Kohlenzeichnung ruhte die Landschaft in der Nacht, nur die hohen Pappeln zeichneten ihre Konturen, wie zwei schwarze Risse auf der tiefblauen Schale des Himmels; als er unter dem Baum dahinschlich und das Laub berührte, meinte er, daß das Rascheln des Laubes wie ein Flüstern in den Zweigen des Baumes klang. In der Stille, die darauf folgte, war es ihm, als ob der Baum etwas gesagt habe und als ob der ganze Garten atemlos einer furchtbaren Mitteilung lauschte. Eine Fledermaus fliegt auf unhörbaren Schwingen an ihm vorbei, er erbebt, ihm ist, als flöge sie durch sein Herz. Ein Spinnwebenfaden schneidet ihm messerscharf über die Stirn, und der Laut des leise knisternden Kieses unter seinen Füßen berührt ihn mit einem eisigen Kälteschauer. Das Gras ist feucht von Tau und klebt wie ein blutgesättigter Teppich an seinen Sohlen. Myriaden von Motten umschwärmen ihn, er sieht sie nicht, fühlt aber ihre Stöße gegen seine Augenlider und fängt mit einem unsagbar empfindsamen Gehör den schärfsten und leisesten Ton der Nacht auf: das Silbersausen der Legionen von Molekülen. Die Luft ist von Lebewesen erfüllt. In der Nähe ist ein Teich, er meint im Teich zu waten, die dunklen Rasen unter den Bäumen sind wie Schilf in stillstehendem Wasser. Von einer plötzlichen und unmotivierten Vorstellung ergriffen, blickt er ängstlich nach einem Toten aus, der still und mondbeleuchtet im Schilf liegt; der Mond aber zeigt sich heute nacht nicht, und was er sieht, ist Gras, eisgrüne Rasen, wie Gräber geformt, und über den Bäumen sieht er erschauernd die luftige Drapierung der Milchstraße. Ist eine Sekunde von der Ewigkeit des Mörders verflossen?

Er kommt zu einem offenen Platz und bleibt unwillkürlich stehen, weil er nicht mehr von den tiefen Schatten und der unmittelbaren Nähe der Bäume geschützt ist. Die Zweige, die er bei seiner schleichenden Wanderung zur Seite gebogen hat, gleiten wieder in ihre ursprüngliche Lage zurück und von neuem wird alles still. Der offene Platz um ihn herum wird kalt und feindlich, und er fühlt sich von dem fast unwiderstehlichen Verlangen, sich zu verstecken, ergriffen. Er meint, daß er sich in der Schußlinie einer Gefahr befindet und daß er im nächsten Augenblick getroffen werden kann. Von was getroffen? Es würde ihm eine Beruhigung sein, wenn er die geringste Äußerung menschlichen Lebens spürte, nur eine Stimme in der Ferne oder einen Schritt auf dem Wege. Aber diese ununterbrochen beobachtende und stumme Natur wirkt unglaublich beklemmend auf ihn. Die Steinpfosten der Gittertür haben ihren Granitblick auf ihn gerichtet. Die unergründlichen Massen der Pappeln verbergen Augen, die er nicht sehen kann, deren wachsame und drohende Macht er aber spürt. Alles Menschliche in ihm ist der bösen Seele des Mörders gewichen und bevölkert jetzt die toten Dinge um ihn her mit eindringlichen Vorwürfen; sein Gewissen starrt ihm aus der grauen Helligkeit der Landstraße entgegen. Ängstlich erhebt er seinen Blick zum Hause, und plötzlich wird es ihm klar, daß das Haus ihn entdeckt hat und sein Kommen erwartet. Das Haus hat seine schwarzen Fensteraugen aufgerissen! Menschliche Augen können keinen intensiveren Schreck ausdrücken, als diese boshaft starrenden schwarzen Höhlen.

Er sieht nur die drei oberen schwarzen, viereckigen Fenster, die unteren werden vom Garten verborgen. Er sieht auch undeutlich die aufgerollten Markisen über den Fensterrahmen, was die Ähnlichkeit mit aufgerissenen und erschrockenen Augen noch verstärkt. Während der Mörder dieses Phantom anstarrt, dieses traumähnliche Gesicht von Stein und Schatten, nimmt seine eigene unablässig wechselnde ahnungsvolle Gemütsstimmung eine neue Form an. Er meint seine eigene Angst in dem Phantom zu sehen. Langsam, als wenn eine Photographie auf einer anderen hervorgerufen wird, tritt ein neues Bild in seine weit geöffneten Augen. Die Bäume vor dem Hause, zwischen deren Zweigen der Mörder am Abend die hellen und freundlichen Gardinen des Fensters gesehen hat, und eine Frau, die sich sorglos gegen den Fensterrahmen lehnte – diese Bäume stehen jetzt wie mit Dunkelheit gefüllte Abgründe zu beiden Seiten der Treppe. Etwas ist plötzlich aus dem Gesicht des Hauses herausgefallen und verschwunden, die Dunkelheit der Bäume bildet zwei gewaltige, leere Augenhöhlen, und das knochengelbe Gestein der Fassade ist wie die Silhouette eines Totenkopfes gegen den Nachthimmel. So, alle Sinne von Tod und Untergang erfüllt, geht er zur Mordtat, sogar die Luft schwitzt einen durchdringenden Geruch von Friedhof aus. Fledermäuse umflattern ihn auf schwarzen, stummen Schwingen. Bei jedem schleichenden Tritt in dem feuchten Gras ruft er die Geister des Mordes, diese Wesen der Dunkelheit und des Schweigens. Jetzt schweben sie über seinem Kopf, lautlos, in steigendem und fallendem Fluge ...

Wo bin ich geblieben? Ich habe ein Gefühl, als ob ich ihm nicht mehr folge, und doch bin ich der Mörder. Ich stehe draußen im Garten, umgeben von dem unbeschreiblichen Frühlingsduft. Und dennoch befinde ich mich drinnen vor der Paneeltür mit den breiten, braun gebeizten Feldern. Worauf warte ich hier draußen? Jetzt kommt es. Auf den Todesschrei des Opfers. Den will ich hören. Ich sage Ihnen, mein Herr, nicht nur das Opfer schreit. In diesem Schrei werden alle stummen Leute beredt. Der ohnmächtige Schreck der Menschenwohnung, die wachsame Dunkelheit der Pappeln, alles, was den Menschen gehört und seine Freunde sind, die Steinpfosten der Gittertür, die Landstraße, das saubergeschnittene Gras der Rasen, alles, was mit seinen toten, aber abwartenden Augen die Ankunft des Mörders gesehen hat, macht seinem Schmerz in dem Todesschrei des Opfers Luft, wie eine unvergängliche Anklage alles dessen, was dem Leben und den Menschen gehört. Da hörte der Mörder den Schrei, ja, da hörte ich ihn – –«

Keller war zu Ende. Während er vorgelesen hatte, war er sich unablässig mit der Hand übers Haar gefahren. Jetzt fiel ihm nichts Besseres ein, als nervös in den Papieren zu blättern, seine Finger zitterten, er war sehr nervös und sah mit einem fragenden Blick auf.

»Alle Wetter,« rief Krag erstaunt, »ist das alles?«

»Ja, bis auf weiteres. Als er soweit gekommen war, schloß er die Augen und sagte, daß er todmüde sei. Ich solle in einigen Stunden wiederkommen, dann wolle er fortfahren.«

»Stenographieren Sie?«

»Ja.«

»Was glauben Sie?« fragte Krag weiter.

»Was ich glaube,« antwortete Keller mit einem bitteren Lächeln, »ich glaube, daß Sie zweifeln.«

»Das meine ich nicht. Was glauben Sie von dem Bekenntnis?«

Keller, der sonst so kühle Polizeiagent, war offenbar von dem Erlebnis mit Arnold Singer stark erschüttert. Er verbreitete sich eifrig darüber, welch starken Eindruck dieser Mann auf ihn gemacht habe.

»Er ist offenbar eine höchst seltsame Erscheinung im Leben der Großstadt,« sagte er. »Ich bin fest davon überzeugt, daß wir die merkwürdigsten Enthüllungen von ihm erwarten können. Er ist ein Produkt unserer überreifen Zivilisation. Sie wissen, lieber Krag, daß während der letzten zwei, drei Jahre mehrere rätselhafte Morde unaufgeklärt geblieben sind. Stellen Sie sich vor, wenn nun Arnold Singer uns diese Geheimnisse lösen würde. Vielleicht ist er eine Art mystische Figur, einer von den seltsamen Tigern des Großstadtlebens.«

»Aber Montrose?« fragte Krag und lachte.

»Ja, Montrose – – – das kommt noch, das kommt später. Ich fragte ihn auch nach Montrose. Das kommt, sagte er. Es dauert noch eine Stunde, bis das Verhör von neuem beginnt. Ich bin selten so gespannt gewesen.«

»Ich möchte Sie nur noch einmal daran erinnern,« sagte Krag, indem er seinen Mantel anzog, »ich möchte Sie nur noch daran erinnern, was wir vor allen Dingen erfahren müssen, nämlich:

  1. Wo ist Montrose, tot oder lebendig?
  2. Wer und wo sind seine Mörder oder die, die ihn entführt haben?
  3. Wo sind die Mörder des verrückten Professors?«

»Ich glaube,« sagte Keller, »daß Arnold Singer Abbé Montrose ermordet hat.«

»Aber, lieber Freund, kann man sich auch auf seine Vernunft verlassen, wenn er es sagt? Er ist augenblicklich sehr exaltiert.«

»Seine Exaltation gibt ihm ja gerade die visionäre Erinnerung an alles Geschehene. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als ich ihn verließ und bevor ich das Licht löschte. Er war versteinert, abwesend ... Ich muß beständig an ihn denken.«

Krag dachte auch an ihn. Er meinte ihn unbeweglich in der dunklen Zelle liegen zu sehen. Er mußte an den Ausdruck vom Reisen denken, den er gebraucht hatte. Jetzt reiste Arnold Singer in seiner Zelle in einem kleinen Viereck von Stein, fern von allem Gegenwärtigen, dem Verbrechen früherer Tage und dem Entsetzen ehemals erlebter Stunden entgegen.

Daran dachte Asbjörn Krag.


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