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XXVIII. Die Peitschenschläge

Er saß hinter der Schranke auf der Polizeibehörde B. unten beim Hafen. Er war zaghaft auf das Heuerkontor der Seemannsmission gekommen mit der Mütze m der Hand und hatte mit heiserer Stimme gefragt, ob es für einen geübten Seemann Heuer gäbe, und dann hatte man ihn gleich verhaftet, denn ein Detektiv hatte schon dort gesessen und gewartet. Er sagte nur: »Es ist gut« – und seither hatte er nichts wieder geäußert. Man hatte ihm einen Revolver, in dem noch vier Schüsse waren, abgenommen. Jetzt saß er auf der Bank hinter der Schranke, vornübergebeugt, die Arme auf die Knie gestützt. Hin und wieder sah er zu dem Schutzmann auf und reckte seinen Körper, eine Bewegung, mit der er stumm eine Art trotzige Selbstaufgabe ausdrückte. Die Schutzleute behandelten ihn gemütlich, wie die Polizei stets das Wild behandelt, wenn es eingefangen und in ihrer Gewalt ist. Er bekam Kaffee und Brot, das er begehrlich hinunterschlang, und Tabak wurde ihm angeboten, den er indessen nicht annahm. Er habe selbst Tabak, sagte er.

Als der Assistent ihn fragte:

»Warum haben Sie den armen Burschen erschossen?«

Antwortete er:

»Weil er es verdient hat.« Worauf er trotzig seine Muskeln streckte und schwieg.

Bald darauf kam Krag herein und setzte sich neben ihn auf die Bank hinter der Schranke. Er behielt seinen Regenmantel an, hatte aber seinen Filzhut in der Hand. Er war allein in einem Auto vom Polizeiamt gekommen.

»Sie haben ein sauberes Stück Arbeit ausgeführt,« sagte Krag zu ihm.

Georges richtete sich höher auf, aber rückte etwas zur Seite auf der Bank, um nicht so dicht neben dem Detektiv zu sitzen.

»O ja, es war ganz gut gemacht,« sagte er und lachte. Ein sonderbares Lachen in diesem graubleichen, unberührten Gesicht.

Das schwache Geräusch von Wagenrollen und Straßenbahngeklingel drang halb erstickt durch die dicken Wände. Wie ein Blitz schoß der Gedanke Krag durch den Kopf: Die Stadt draußen, Tausende von Menschen, beschäftigten sich jetzt mit dieser alles überragenden Mordsensation. Durch ein meilenweites Gewimmel von Straßen gellt es: Der Mörder, der Mörder, habt ihr ihn? Wo ist er? Wie bei einer Katastrophe, die alle mit Tod bedroht, bei einem unheilverkündenden Wahrzeichen, das alle sehen können, ist die Bevölkerung, der Begriff alle, von einem gemeinsamen schreckgemischten Verlangen besessen, etwas von diesem einen Menschen zu erfahren. Wo ist er? Durch welche unserer unzähligen menschenbelebten Straßen eilen jetzt seine verängstigten Schritte?

Und nun sitzt er hier in diesem engen und düsteren Raum, von einer bläulichen Gasflamme beleuchtet, die von einer frisch gekalkten Decke herabhängt, und zeigt ein Lächeln in einem schmutzigblassen, unglaublich müden Gesicht. Er hat braune, von Tabak verdorbene Zähne. Krag sagte zu ihm:

»Wenn die Verhältnisse anders gewesen wären, hätte ich gern gesehen, daß Sie auf das Meer entkommen wären, an Bord eines Segelschiffes zum Beispiel. Stellen Sie sich vor, wenn Sie in diesem Augenblick auf einem schaukelnden Deck stünden, während die Leuchtfeuer hinter Ihnen verschwänden.«

»Es ist gut, so wie es ist,« sagte Georges und schwang seine Mütze. »Wie lange dauert es?«

»Was?«

»Bis ich gehängt werde?«

»Vielleicht werden Sie gar nicht gehängt. Das kommt drauf an.«

»Nein, es ist unmöglich,« antwortete Georges, »es ist unmöglich, zum Teufel.«

Er blickte sich im Zimmer um wie ein Mensch, der erwacht und sein Auge blieb an dem Revolver haften, der auf dem Tisch lag.

Asbjörn Krag machte ein Zeichen und der Polizeibeamte steckte den Revolver in die Tasche.

»Der soll Sie nicht mehr in Versuchung bringen,« sagte der Detektiv freundlich zu Georges.

Das »Gefängnisgesicht« beugte den Kopf und ließ ein tiefes Brummen hören, das ganz unten aus der Brust zu kommen schien.

Krag bat jetzt, daß man ihn mit dem Gefangenen allein lassen möge und die beiden Polizeibeamten entfernten sich, obgleich sie dem Verhör gern beigewohnt hätten. Der eine nahm ein Stück Papier und der andere ein Protokoll; auf diese Weise pflegen Menschen aufzutreten, die nur notgedrungen ein Zimmer verlassen.

Das »Gefängnisgesicht« begriff, daß das Verhör beginnen sollte, und wurde offenbar unruhig. Er rückte noch weiter von Krag ab. Sie saßen da und sprachen wie zwei, die zufällig nebeneinander in dem Wartesaal eines Bahnhofes sitzen. Dieser Vergleich fiel Asbjörn Krag ein, als er die gelbe blankgescheuerte Bank sah. Wenn die Unterhaltung zu Ende war, würden sie sich trennen und jeder seinen Zug besteigen. Krag würde zum Leben und zu allem, was es bot, zurückkehren – der andere aber hatte nur die unwiderrufliche letzte Reise ins Nichts vor sich. Sie waren gleich alt, der eine aber war frei und der andere gezeichnet. Der eine triumphierte, der andere saß bebend und wünschte sich den Tod und kämpfte mit einem seltsamen rauhen Husten, der unterdrücktem Weinen glich.

Krag fragte:

»Sind Sie heute im Garten der katholischen Gemeinde gewesen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich nach ihm, dem Schuft, suchte. Ich wußte ja, daß er an der Sache mit dem Priester beteiligt war. Und da dachte ich: Früher oder später wird er sich wohl in Gesellschaft der Detektive zeigen. Und dann kommt die Reihe an mich.«

»Bereuen Sie nicht Ihre Tat?«

»Nein.«

»Würden Sie es noch einmal tun?«

»Ja.«

»Hatten Sie denn etwas verbrochen, bevor Sie den Mord ausführten? Warum flohen Sie vor dem Polizeibeamten?«

»Ich fürchtete, daß man mich wieder verhaften würde. Mit einem verdächtigen Menschen, der so aussieht wie ich, pflegt nicht viel Federlesens gemacht zu werden.«

»Es war also ein reiner Zufall, daß Sie Charlie Whist hinter dem Fenster entdeckten?«

»Ja.«

»Womit wollen Sie sich verteidigen?«

»Mit nichts. Ich will meine Sache so schlecht wie möglich darstellen.«

»Ein Rachemord ist ein überlegter Mord, damit machen Sie Ihre Sache auch nicht besser. Sie können gern die Wahrheit eingestehen.«

Der Mörder richtete sich wieder auf und lehnte den Oberkörper nach hinten, als ob ihm das Atmen schwer würde; wenn er ausatmete, röchelte es leise in seiner Brust. Wie deutlich drückte dieses beschwerliche Atmen seine Qual aus, seine Hoffnungslosigkeit und gleichzeitig seine erbitterte Selbstbehauptung!

Plötzlich riß er seine Jacke und sein Hemd von den Schultern. Über seiner nackten Haut liefen die breiten Spuren von Peitschenschlägen. Krag betrachtete voller Mitgefühl seine Augen, in denen eine verzweifelte Frage, eine stumme Anklage über eine unerhörte Kränkung leuchtete, die nur der Tod rächen konnte.

»Ich geriet ins Gefängnis,« sagte der Mann, »weil ich in der Heftigkeit einen gemeinen Schlingel zu hart angepackt hatte.«

»Warum aber ertrugen Sie die Gefängnisstrafe nicht mit Geduld?«

»Wer ergreift nicht eine günstige Gelegenheit, wenn sich ihm eine bietet? Mir bot sich solche Gelegenheit, und unsere Flucht wäre geglückt, wenn wir nicht von diesem elenden Gewürm Charlie verraten worden wären.«

»Das alles weiß ich,« unterbrach Krag ihn, der den Mann gern beruhigen wollte. »Der Gefängnisdirektor hat es mir geschrieben. Charlie, der gleichzeitig mit Ihnen in Haft war, hat Sie verraten. Sie mußten sich einer Disziplinarstrafe unterziehen, das ist hart, aber gerecht. Bedenken Sie, im Gefängnis sitzen zweitausend Verbrecher, dazwischen Mörder, die vor nichts zurückscheuen.«

Georges hatte ihm gar nicht zugehört. Er mußte seinem Zorn über die Demütigung, den tödlichen Schimpf, den er erlitten hatte, Luft machen.

»Warum hat dieser fette, krummbeinige Bengel uns verraten? Um ein besseres Bett zu bekommen und Zigaretten und Weißbrot zum Kaffee. O wie freute ich mich, als ich ihn gepackt hatte. Ich sah an dem Schreck in seinen Augen, daß er alles begriff. Warum sollte ich ihn schonen? Ich träume noch oft von dem Raum mit den dicken Wänden und dem Arzt, der untersuchen sollte, wieviel Schläge ich vertragen konnte, ich, ein ehrlicher Seemann, nein ...«

Er schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zusammen.

»Nein, es ist gut so,« sagte er, »ich bereue nichts.«

Krag ließ jetzt die anderen Polizisten wieder hereinkommen und trug ihnen auf, den Gefangenen in eine Zelle zu führen. Als der Detektiv im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, sagte er noch wie zufällig zu dem Gefangenen:

»Sie sind ja Steuermann an Bord der ›Eddystone‹ gewesen. Kennen Sie einen Matrosen, der Hans Christian Andersen heißt?«

»Ja. Das ist kein guter Mensch, er ist an Land jetzt, ich sah ihn neulich im ›Pfau‹, wo er ein Mädchen hat, ›die rote Dora‹.«

»Haben Sie mir ihm gesprochen?«

»Nein.«

»Mehr habe ich Sie vorläufig nicht zu fragen,« sagte Krag freundlich, »ich wünsche Ihnen die Ruhe und den Frieden, den Sie nötig haben.«

Krag schickte das Auto fort und ging zu Fuß zum Polizeiamt zurück. Er wollte sich etwas vom Herzen wälzen, das ihn aufs Tiefste verstimmte. Und als er mir hockgeschlagenem Mantelkragen, die Hände in den Taschen, in dem regenschweren und dunklen Abend durch die Stadt wanderte, konnte er sich nicht von den traurigen Betrachtungen über die unbarmherzigen Zufälle des Lebens, die auf ihn eindrangen, freimachen. Er sah Clarys verständnislose und schmerzerfüllte Augen vor sich und meinte ihr kindliches Weinen zu hören, er sah die Augen des Mörders Georges mit ihrem hoffnungslos fragenden Blick, und meinte die seltsamen Stöße aus seiner eingesunkenen Brust zu hören.

Zur selben Zeit war seine Exzellenz, der Polizeichef, so glücklich, seiner Tischdame auf der Mittagsgesellschaft beim Minister erzählen zu können:

»Gnädige Frau! Wir haben den Mörder um sieben Uhr gefaßt.«

Diese Worte wurden von seiner nächsten Umgebung aufgefangen; alles verstummte und blickte mit unverhohlener Bewunderung auf den zierlichen Herrn mir dem stahlgrauen Blick.


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