Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V. Der Unglücksvogel

Der Eintretende, der ungestüm aus dem Nebenzimmer hereinkam, schien über Detektiv Kellers erkennenden Ausruf keineswegs erstaunt zu sein. Es war ein junger Mann, etwa zwanzig Jahre alt, ganz gut gekleidet, mit einer Locke, die ihm in die Stirn fiel. Er sah aus, als ob er Kellner oder irgendein untergeordneter Kontorist sei, es lag etwas Kindliches und Unselbständiges über ihm. Es war nicht schwer, die Ähnlichkeit zwischen ihm und Singers Frau festzustellen, sie waren anscheinend Geschwister. Für Krag war das Eintreten dieses Menschen ganz überraschend gekommen und noch erstaunter war er, daß Keller den jungen Mann kannte und ihn noch dazu so empfing, wie Freunde oder wie Polizeibeamte alte Bekannte zu begrüßen pflegen, was allerdings nicht dasselbe bedeutet. Es zeigte sich bald, daß hier letzteres zutraf.

Das Erscheinen des jungen Mannes aber bewirke zugleich, daß die arme unglückliche Clary ihre Fassung wiedergewann. Als ihr Bruder ins Zimmer gestürzt kam, schlug sie entsetzt die Hände zusammen.

»Unglücksvogel!« rief sie, warf sich über den Tisch und verbarg ihr weinendes Gesicht in den Armen. Sie weinte leise. Ihr Mann blieb neben ihr stehen und ließ seine Hand auf ihrer Schulter liegen.

Krag liebte solche dramatischen Szenen. Denn es kam vor, daß in Augenblicken, wo menschliche Leidenschaften zum Ausbruch kamen, mehr von dem Zusammenhang eines Konflikts verraten wurde, als bei langen und eingehenden Verhören.

»Der Unglücksvogel« kam nicht gleich zu Worte, weil er gar zu überwältigt wurde von Detektiv Kellers Anwesenheit und Zuruf. Einen Augenblick schien es, als ob er bereue, daß er hereingekommen sei. Er sah sich spähend nach der Tür und darauf nach dem Fenster um, als ob er die Möglichkeiten einer Flucht abschätzte. Dann aber sagte er:

»Mit dieser Sache habe ich nichts zu schaffen.«

Er griff in die Tasche, zog ein Bündel Scheine hervor und warf sie dem Arbeiter vor die Füße, indem er schrie:

»Behalt dein Geld, ich will nicht in neue Geschichten hineingerissen werden.«

In Singers Gesicht stieg eine flammende Röte auf.

»Das ist kein gestohlenes Gut,« sagte er ärgerlich, »es ist mein eigenes Geld. Und so behandelt man kein Geld.«

»Mach, daß du fortkommst,« sagte er drohend.

Keller pfiff leise den Refrain der letzten populären Operettenmelodie.

»Was für eine Komödie,« rief er und lachte. Und indem er mit dem Kopf auf den »Unglücksvogel« deutete, fügte er zu Krag gewendet hinzu, der stillschweigend am Fenster saß und dem Gang der Ereignisse folgte:

»Das ist Charlie Whist, im Grunde ein flinker Junge, nur etwas wankelmütig von Charakter. Er hat erst vor kurzem sechs Monate wegen Billettfälschung gesessen ... Und schon wieder auf Abwegen, Freundchen, diesmal steht die Sache aber fauler. Nein, nein, verlassen Sie sich nicht auf die Tür. Zwischen Ihnen und der Tür stehe ich. Und verlassen Sie sich auch nicht aufs Fenster, dort steht mein Kollege. Wir wollen lieber vernünftig miteinander reden und werden uns bald einigen. Nur ruhig. Wir brauchen nicht so zu schreien, daß die ganze Nachbarschaft zusammenläuft. Was ist es für Geld, was Sie mit dieser unvergleichlichen Geste von sich werfen?«

Charlie antwortete nicht. Singer aber beugte sich herab und nahm die Scheine auf.

»Es ist mein Geld,« wiederholte der Arbeiter.

Das Kind, das im Nebenzimmer allein gelassen war, fing jetzt an zu weinen. Frau Singer erhob sich, ging hinein und kam mit der Kleinen auf dem Arm zurück.

»Sie sind nicht gefragt worden,« begann Keller wieder, »im übrigen – rufen Sie das Kindermädchen, damit das Kind hinauskommen kann, dies hier ist keine Kindervorstellung. Die Mutter aber muß hierbleiben und alle Erwachsenen können es sich schenken, Türen und Fenster in ihre Betrachtungen einzuziehen.«

»Wir haben kein Kindermädchen,« antwortete die junge Frau, »wir sind nicht reich.«

»An Kleingeld scheint es hier im Hause nicht zu fehlen,« sagte Keller ironisch. »Soweit ich von hier sehen kann, schätze ich das Geld in der Hand Ihres Mannes auf tausend Kronen, das ist immerhin eine ganz hübsche Summe.« Und indem er sich an Charlie wandte:

»Was wissen Sie von diesem Geld?« fragte er barsch. Und als Singer seiner Antwort zuvorkommen wollte, schrie er ihn an:

»Halten Sie den Mund, Mensch, Sie sind ja dumm. Wenn Sie ihn daran hindern, eine Erklärung zu geben, verschlimmern Sie Ihre Sache nur.«

»Halten Sie den Mund,« murmelte Singer, als ob diese Anrede ihn in Erstaunen setze. Krag betrachtete ihn die ganze Zeit unverwandt. Dieser Arbeiter hatte etwas Hilfloses und Eigensinniges zugleich an sich. Krag dachte bei sich, daß ein kluger Mann, der in einer außerordentlich schweren Lage ertappt worden ist und Zeit gewinnen will, um einen Ausweg zu finden, gerade so auftreten würde. Aber auch etwas anderes hatte dieser Mann an sich, etwas, was Krag unsicher machte, es war ein Ausdruck von Erstaunen in seinen Augen, als beobachtete er ein Schauspiel, das ihn selbst nichts anging.

Charlie antwortete:

»Ich hab' das Geld von dem da bekommen.«

Krag beobachtete alles bis auf die kleinsten Einzelheiten. »Der da,« sagte Charlie mit einem Ton von Verachtung und meinte seinen Schwager. Charlie war ja ein notorischer Verbrecher, dennoch schien es, als ob er der Ansicht sei, daß er moralisch über dem anderen stehe.

»Wann haben Sie das Geld bekommen?« fragte Keller.

»Heute nacht, ich glaube, es war zwischen zwei und drei Uhr.«

»Und Sie bekamen das Geld von Ihrem Schwager, als er von seinem nächtlichen Spaziergang zurückkehrte?«

»Ja.«

»War er vielleicht ausgegangen, um das Geld herbeizuschaffen?«

»Ja.«

»Eilte es?«

»Ja, denn ich sollte heute morgen um neun Uhr mit dem Dampfer nach Südamerika reisen. Sie können ja sehen, da steht mein Koffer.«

»Wann sind Sie aus dem Gefängnis entlassen?«

»Gestern nachmittag.«

»Hm, ich fange an zu verstehen,« sagte Keller. »Man hat Ihnen drüben einen Platz angeboten und Sie wollten so schnell wie möglich fort, weil Sie sich nach dem Skandal mit dem Billett ungern zwischen alten Bekannten zeigen wollten. Ich sehe Sie nicken, es stimmt also. Und darum kamen Sie zu Ihrer Schwester, damit sie Ihnen helfen sollte. Wann?«

»Gestern abend um acht Uhr. Aber der da kam erst um zwölf Uhr nach Hause. Ich werde dir das Geld verschaffen, sagte er, und ging wieder fort.«

»Wo haben Sie das Geld geholt?« fragte Keller und näherte sich dem Arbeiter.

»Bei einem Freund,« antwortete Singer, »bei einem sehr guten Freund.«

(Das ist dumm, dachte Krag, solchen verbrauchten Ausweg hätte ich einem Mann, der so helle aussieht, nicht zugetraut.)

»Wie heißt dieser Freund und wo wohnt er?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen,« antwortete Singer, »er möchte nicht genannt sein.«

(Krag dachte bei sich: Er sagt es jedenfalls gut, er trägt diesen Unsinn auf eine recht glaubwürdige Weise vor, vielleicht meint er, daß er uns täuschen kann, wenn er Dummheit simuliert. Ich nehme an, daß er folgenden Ausweg ergriffen hat: er will uns einbilden, daß er ungewöhnlich einfältig ist. Ein Schaf aber hat keine solchen Augen, er gehört der höheren Tierwelt an.)

Keller lachte laut.

»Das sind Schulausreden,« sagte er. »Lieber Charlie,« fuhr er fort, »Ihr Benehmen deutet an, daß Sie bereits vorher Mißtrauen hegten. Das Gefängnis scheint einen guten Einfluß auf Sie gehabt zu haben, immerhin scheint es Sie nicht zu verlangen, dorthin zurückzukehren.«

»Ich will nicht wieder in solche Sachen verwickelt werden,« antwortete Charlie mürrisch, »ich hab' das Geld zurückgegeben und habe nichts mehr damit zu tun.«

»Daran tun Sie recht, mein Lieber,« antwortete Keller und klopfte dem jungen Mann ermunternd die Schulter. »Diesmal hätten Sie leicht in eine verfluchte Geschichte verwickelt werden können. Ich kann Ihnen erzählen, daß das Geld heute nacht bei Abbé Montrose gestohlen worden ist.«

»Abbé Montrose?« sagte Singer halb für sich. »Wirklich?«

»Kennen Sie ihn vielleicht?« fragte Keller.

»Ja,« antwortete Singer.

»Haben Sie bei ihm gearbeitet?«

»Ja, in seinem Garten.«

»Sind Sie Gartenarbeiter?«

»Ja.«

(Krag dachte: Jetzt antwortet er nicht planlos. Er geht bewußt ins Netz. Wenn man hart bedrängt wird, ist es klüger, ins Netz zu gehen, als sich demselben zu entziehen. Er scheint aber einen Ausweg zu haben. Ich glaube bestimmt, daß er einen gefunden hat.)

»Wann haben Sie zuletzt in seinem Garten gearbeitet?« fragte Keller weiter.

»Gestern. Dort habe ich wahrscheinlich auch die Photographie verloren, als ich die Beete jätete

»Und Sie meinen, daß der Abbé sie dort gefunden und mit in sein Zimmer genommen hat?«

»Ja.«

Keller lachte laut.

»Haben Sie gehört, Krag,« sagte er, »das ist doch wirklich kindlich. Die ganze Sache scheint mir sonnenklar. Was meinen Sie?«

»Fast zu klar,« antwortete Krag.

Singer ließ seinen Blick erst auf Keller, dann auf Krag ruhen, und Krag dachte:

Mich betrachtet er mit größerer Neugierde. Fast scheint es, als ob er Keller bereits durchschaut hat. Es ist, als ob er Klarheit darüber gewinnen möchte, welche Gefahr ich möglicherweise für ihn bedeute.

Keller sagte:

»Hier haben wir nichts weiter zu tun. Folgen Sie uns, Singer.«

»Aber ich habe Ihnen nichts weiter mitzuteilen.«

Keller nahm die Sache von der gemütlichen Seite, als ob bereits alles klar und erledigt wäre.

»Was Sie sagen,« meinte er, »nun, wir wollen Sie auf alle Fälle etwas näher kennenlernen.«

Plötzlich fiel Asbjörn Krag ins Gespräch ein:

»Haben Sie nicht Blut auf Ihrem Anzug.«


 << zurück weiter >>