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XXV. Das Kind und der Mord

Keller stutzte. Er mußte Krag recht geben. In der kleinen Wohnung waren ungewöhnlich viele schöne und wohlriechende Blumen. Als Krag das vorige Mal hier gewesen war, hatte er die Blumen auch gesehen, aber er hatte gedacht, daß die stille und sympathische junge Frau Vorliebe für schöne Blumen habe und sich nicht weiter bei diesem Gedanken aufgehalten. Jetzt aber rief der Duft der Blumen mit intensiver Deutlichkeit die Erinnerung an den säuerlichen, fast friedhofsartigen Blumenduft in dem Zimmer des verrückten Professors wach. Auch jetzt umschwebte der Blumenduft einen ermordeten Menschen. Vielleicht war dies der Grund, daß die bunten Blumenfarben plötzlich so unheimlich wirkten und mit solcher Eindringlichkeit die Vorstellung von der Nähe des Todes hervorriefen.

»Dieselben Blumen,« murmelte Krag. »Sehen Sie nur, dort auf dem Bord stehen ebensolche roten, japanischen Sonnenrosen wie bei dem verrückten Professor.«

»Ich gebe zu, daß es mit diesen Blumen und diesem ermordeten Menschen ein seltsames Zusammentreffen ist,« sagte Keller, »die Blumen selbst aber scheinen mir hier durchaus nicht unerklärlich. Sie stammen allesamt aus dem Treibhaus des Abbés.«

»Zweifellos.«

»Nicht nur der verrückte Professor hat Blumen gestohlen, sondern auch der Gartenarbeiter Singer hat lange Finger gemacht.«

Darauf antwortete Krag nicht. Lange konnte er seine Augen nicht von den Blumen losreißen; hätte jemand in diesem Augenblick in seinem Gesicht lesen können, würde er darin ein plötzliches Nachdenken bemerkt haben. Als er die bunten Farben der Blumen sah und den Wohlgeruch spürte, der wie ein Hauch von Gräbern und Friedhofskapellen durch seinen Kopf zog, war es, als ob er zum erstenmal das Geheimnis ahnte, das schließlich alles erklären sollte, was jetzt so geheimnisvoll erschien.

Indessen war Keller in den Toten und die Fingerabdrücke vertieft, die ihn weit mehr zu interessieren schienen als die Blumen, die die Wohnung schmückten.

Mit Hilfe der schmutzigen Fingerabdrücke, die der Verbrecher auf der Fensterbank hinterlassen hatte, war es ihm ein Leichtes, festzustellen, daß der Mörder auf diesem Wege ins Zimmer gekommen war. Wahrscheinlich hatte Charlie versucht, ihn zu entwaffnen, ein heftiger, kurzer Kampf war entstanden, worauf Charlie von einem Schuß aus nächster Nähe durch den Kopf getötet worden war. Darauf hatte der Mörder das Zimmer ganz ruhig durch die Tür verlassen.

Dies alles erklärte Keller Krag mit großem Eifer. Um den Mörder identifizieren zu können, riß er ein Stück von Charlies Hemd ab und legte es sorgfältig in sein Taschenbuch.

Der dicke Wirt horchte mit steigender Unruhe und Interesse auf das Gespräch der Detektive, während sie murmelnd und forschend über den Toten gebeugt standen und mit einem Vergrößerungsglas die Flecke auf der weißpolierten Fläche der Fensterbank untersuchten. Er hörte sie folgendes sagen:

»Von dort muß er gekommen sein.«

»Er hat Charlie durch das geöffnete Fenster gesehen.«

»Der Schuß muß gefallen sein, während der Schutzmann in der Nähe des ›Pfau‹ nach ihm suchte.«

Da brummte die Gewitterwolke zornig:

»Soll der ›Pfau‹ vielleicht auch an diesem Mord schuld sein, meine Herren?«

Krag antwortete ihm:

»Sie scheinen mehr um Ihr Wirtshaus als um Ihren Sohn besorgt zu sein?«

»Der ist ja tot,« antwortete die Gewitterwolke mit einer Logik, die keiner von den anderen verstand. Und er fügte hinzu:

»Außerdem ist er ja erst kürzlich aus dem Gefängnis gekommen. Er hat nie ordentlich arbeiten wollen. Vielleicht hält der Tod ihn davon zurück, daß er von neuem dorthin kommt.«

»Wissen Sie, ob er Feinde hatte?«

»Ich kenne weder seine Feinde, noch seine Freunde.«

»Wer hat nach Ihnen geschickt?«

»Ich nehme an, daß es einer von den Schutzleuten war. Ich aber habe nach dem Arzt telefoniert.«

Krag forderte ihn auf, seine Tochter und ihr Kind mit sich nach Hause zu nehmen.

»Lieber wie gern,« brummte die Gewitterwolke bitter und wehmütig, »und dort soll sie bleiben. Ich hätte sie nie fortgeben sollen. Alles Unglück stammt von damals, als sie mich verließ, um mit dem Maler davonzugehen.«

»Maler?« fragte Krag. »Meinen Sie den Gartenarbeiter Singer?«

»Meinetwegen können Sie ihn auch Gartenarbeiter nennen. Er hat nie feste Arbeit gehabt. Als er zu mir kam, war er Maler. Er ist es, der alle Pfauen in meinem Hotel gemalt hat. Der ist nun auch fort. Den haben sie schon gefaßt, und den da drinnen können sie nicht mehr kriegen. Ich gehe jetzt und nehme meine Tochter mit mir, die sollen sie jedenfalls nicht bekommen und mich auch nicht, und wenn sie zehntausend Teufel auf uns hetzen, um uns ins Elend zu bringen.«

Es war lange her, seit das Gewittergewölk sich so kräftig entladen hatte, und er atmete mühsam nach der Anstrengung.

Krag hielt ihn am Mantelaufschlag zurück.

»Einen Augenblick noch,« sagte er. »Hat wirklich Arnold Singer die Pfauen gemalt?«

»Ja.«

»Gut gemacht,« sagte er, »ein bedeutendes Malertalent, ungewöhnlich und etwas degeneriert, doch bedeutend.«

Krag äußerte sich über Blumen und Kunst, als ob er seine Meinung in einer Ausstellung zum Besten gäbe. Es klang seltsam an diesem Schreckensort, wo Polizeihelme blitzten, eine erschreckte Volksmenge im Regenwetter vor den flatternden Gardinen wartete, eine blutige Leiche im Zimmer lag und das verzweifelte Weinen einer Frau zu hören war. Krag stand noch immer und bewunderte die Blumen, als Clary mit dem Kind auf dem Arm und von dem Koloß geleitet, die Wohnung verließ. Gerade, als sie die Schwelle überschreiten wollte, erwachte das Kind und legte seine runden Ärmchen um den Hals der Mutter, während seine Augen, die von Gesundheit und Schlaf blank waren, von dem blitzenden Messing der Schutzmannhelme eingefangen wurden. In diesem Kinderblick, aus dem Unschuld und Spiel sprach, erreichte der Gegensatz zwischen dem frommen Anfang des Lebens und seiner schweren und gefahrvollen Entwicklung fast das Sublime. Als das Kind fort war, erschien das Elend in diesem zerstörten Heim doppelt sinnlos.

Doch Polizeibeamte bekommen so viel Derartiges zu sehen, daß es sie schließlich nicht mehr berührt. Darum fiel es auch Keller nicht schwer, seinen polizeimäßigen Ton wieder aufzunehmen.

»Der Mord hat in der Viertelstunde stattgefunden, als Clary Singer fort war, um die Milch zu holen. Genau in dieser Viertelstunde hat der Schutzmann 314 das ›Gefängnisgesicht‹ durch das Häuserviertel vor sich her gejagt. Das ›Gefängnisgesicht‹ muß sich in dem Augenblick hier in der Nähe aufgehalten haben. Wahrscheinlich hat er den Mörder gesehen, oder er ist selber der Mörder gewesen.«

»Einverstanden,« sagte Krag.

»Und da wir den Fingerabdruck haben,« fuhr Keller fort, »wird es uns ein Leichtes sein, festzustellen, inwieweit letztere Annahme richtig ist.«

Bevor eine Stunde um war, war man sich über folgendes klar:

Die Fingerabdrücke auf dem Hemd des Ermordeten führten auf einen Mann zurück, der kürzlich aus dem Gefängnis entlassen war, wo er wegen Raubmordversuch gesessen hatte.

Der Name des Mannes war Georges.

Als man im Verbrecheralbum nachschlug, zeigte es sich, daß Georges mit dem ›Gefängnisgesicht‹ identisch war.

Charlie war also von dem Mann ermordet worden, den 314 vor sich hergejagt hatte. Dieses Resultat hatten die beiden Detektive halb und halb erwartet.

Was man indessen nicht erwartet hatte, war die Aufklärung, die man aus dem Verbrecheralbum bekam, wo unter anderem stand:

Georges, geboren 1879, ehemals Steuermann auf dem Segler ›Eddystone‹ ...

»Ich hätte darauf schwören mögen, daß er Seemann war,« sagte Keller, »so wie der Kerl klettern konnte.«

›Eddystone,‹ sagte Asbjörn Krag nachdenklich. »Jetzt sind wir wieder bei dem Märchendichter und den bunten spanischen Farben angelangt. Denn von der ›Eddystone‹ ist H. C. Andersen verschwunden, nicht der Verfasser des ›Häßlichen grauen Entleins‹, sondern sein Namensvetter Hans Christian Andersen, Eigentümer des Halstuches aus Bilbao.«


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