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XIX. Die Gestalt im Garten

Als Krag an diesem Abend die Sache überdachte, konnte er sich nicht verhehlen, daß, obgleich die Umstände mehr und mehr darauf deuteten, daß Arnold Singer der Verbrecher sei, er trotzdem mehr und mehr die Überzeugung gewann, daß da etwas nicht in Ordnung sei. Krag war stets geneigt, sich zweifelnd zu stellen, wenn andere überzeugt waren. Das Entscheidende für seinen Standpunkt in dieser Sache war folgendes: Die einfache Lösung Arnold Singer erschien ihm gar zu einfach im Verhältnis zu den sonderbaren Umständen, die das Verbrechen umgaben. Erstens der rätselhafte Umstand, daß der Abbé selbst tot oder lebendig verschwunden war. Ferner, daß Menschen, die noch in Freiheit waren, offenbar so viel aufs Spiel setzten, um den Verdacht, den die Polizei gegen Singer hatte, zu verstärken.

Nur wenn Krag sich vorstellte, daß die wirklich Schuldigen noch frei herumliefen, wurde der Mord, der an dem verrückten Professor begangen war, erklärlich, denn er allein konnte eine Zeugenaussage zum Vorteil für Arnold Singer abgeben. Darum wurde er aus dem Wege geräumt, ein toter Mann plaudert nichts mehr aus.

Andererseits mußte Asbjörn Krag zugeben, daß Arnold Singers Sache nicht gut stand. Das selbstbewußte, überlegene Wesen des Mannes hatte einen starken und auf gewisse Weise vorteilhaften Eindruck auf Krag gemacht, der sich unwillkürlich von seelenstarken Menschen angezogen fühlte, ob sie in Gestalt eines Räubers oder eines ehrenhaften Mannes auftraten. Es wollte ihm nicht recht einleuchten, daß dieser Mann bei dem Verbrechen eine untergeordnete Rolle gespielt haben sollte. Krag hatte ihn von vornherein für den Führer der Bande gehalten. Solch ruhiger und gegen jede Einwirkung gefeiter Mann wie Arnold Singer, war zum Befehlen geboren. Daß er vor dem Verbrechen am Ort der Tat gewesen war, konnte fast unwiderlegbar bewiesen werden. Auch sein plumper Fluchtversuch sprach stark gegen ihn, denn ein Unschuldiger flieht nicht vorm Gericht, er bleibt – und verteidigt sich. Also: wenn er schuldig war, deuteten alle Umstände daraus, daß er der Haupträdelsführer war. Wie aber war es dann zu erklären, daß seine Mitschuldigen nicht einmal vor einem Mord zurückschreckten, wenn es galt, einen Beweis seiner Unschuld zu vernichten, oder einen Menschen, der zu seinem Vorteil zeugen konnte, aus dem Wege zu räumen? Sonst pflegen Kameraden doch, wenigstens die untergeordneten, alles zu tun, um einem Anführer, der in die Klemme geraten ist, zu Hilfe zu kommen. Hier lag also wieder ein Umstand vor, dem es an logischem Zusammenhang fehlte.

Und an derartigen Widersprüchen war diese Sache reich. Just das war es, was Krag in Erstaunen setzte und ihn veranlaßte, sich gründlich mit den Einzelheiten der Sache zu beschäftigen. Das Hauptgeschehnis selbst wies solch eine Lücke in der logischen Folge auf. Der Überfall auf den Abbé, in der Absicht, sein Geld zu rauben, war ja eine ganz alltägliche Affäre. Mitten darin aber tauchte jener ganz sinnlose Umstand auf: das Verschwinden des Abbés. Ging man nun davon aus, daß Arnold Singer schuldig war, dann war er von dem Augenblick seiner Verhaftung mit großer Klugheit aufgetreten und hatte seine Verteidigung mit strenger Logik durchgeführt. Plötzlich aber kam der ganz sinnlose Fluchtversuch. Was sollte der bedeuten? Eine andere Sache: Das Verbrechen war mit Kühnheit und Kaltblütigkeit durchgeführt, warum aber hatten die Verbrecher den armen Wicht, den stets betrunkenen und töricht schwatzenden verrückten Professor, zu ihrem Mitschuldigen gemacht? Zu irgendeinem Zeitpunkt steckte immer ein Teufel seinen Kopf hervor, sowohl was das Gebaren der Menschen, wie die Entwicklung der Ereignisse betraf, und brachte alles durcheinander. Woher aber kam dieser Teufel? Alle diese widersprechenden Überraschungen weckten in Krag die Ahnung, daß ein noch größeres Geheimnis in diesem Drama mitspielte.

Der nächste Tag brachte mehrere unerwartete Ereignisse.

Die Polizei hatte an diesem Tag eine gute Presse, dank der Verhaftung von Arnold Singer, was die Zeitungen als eine gute Detektivtat bezeichneten. Die Journalisten hielten nicht mit ihrer Meinung zurück, daß man hier wahrscheinlich den Hauptverbrecher der Bande gefaßt habe. Im übrigen waren die Zeitungen voll von Bemerkungen über das Privatleben von Abbé Montrose, auf das man nicht den geringsten Schatten werfen konnte. Man pries seine wissenschaftliche Gründlichkeit, seine Wohltätigkeit und seinen Fleiß, und bedauerte, daß ein unsanftes Schicksal diesen angesehenen Gelehrten allzu zeitig hingerafft habe.

Den Mord, der an Strantz, dem verrückten Professor begangen worden war, hatten bisher nur vereinzelte Zeitungen gebracht. Man hatte den Zusammenbang zwischen diesem Mord und dem Verbrechen in Abbé Montroses Bibliothek noch nicht recht kapiert. Eine der Zeitungen berichtete jedoch, daß der Ermordete als Gartenarbeiter in Abbé Montroses Garten gearbeitet habe und knüpfte daran eine poetische Bemerkung. Sie schrieb:

»Es ist, als ob ein mystischer Tod die Menschen verfolge, die in diesem Frühjahr das Lenzesbrausen in Abbé Montroses Garten erlebt haben. Erst wurde der Abbé selbst eines Nachts getroffen, als die Bäume in ihrem ersten zarten grünen Flor standen. Darauf suchte der Tod einen der Arbeiter heim, der sein Teil dazu beigetragen hatte, den Garten für den Einzug des Frühlings empfänglich zu machen. Wird die Todessense noch mehr niedermähen, bevor der Garten in seiner vollen Pracht steht ...?«

Merkwürdigerweise beschäftigte dieser poetische Erguß Asbjörn Krag, als er am Morgen durch die schmiedeeiserne Gitterpforte den Garten des Abbés betrat. Im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden hatte der Frühling dort große Fortschritte gemacht. Das Laub war dichter und saftiger grün geworden, und ein milder Südwind strich langsam durch die Bäume, mit jenem unvergleichlichen Frühlingsbrausen, das die Gemüter der Menschen mit sehnsuchtsvoller Wehmut füllt und sie die Enge und Unbarmherzigkeit des Lebens intensiver empfinden läßt. Etwas geheimnisvoll Tönendes lag in dem einförmigen Gesang dieser Jahreszeit. Krag dachte an den Mann, der jetzt verschwunden war, der aber sonst zur Frühjahrszeit unter diesen Bäumen gelustwandelt hatte, und es war ihm, als ob er in einer mystischen Ahnung etwas von der Seele des Rätsels in dem Sausen der Baumkronen hörte. Es war, als ob eine geheimnisvolle Stimme, die von weit her kam, hier auf ihrer stillen Wanderung eingefangen ward und tönenden Ausdruck bekam. Der Duft des sprießenden Gartens erinnerte ihn an die übertriebene und perverse Blumenpracht in dem elenden Zimmer des verrückten Professors; und wieder war es ihm, als ob der Blumenduft ihm die unbarmherzige Vision von Kirchhof und Tod näher brachte ... Kein Mensch war im Garten, der Frühling breitete sich in seiner Alleinherrschaft und Fülle, von der tiefen schwarzen Erde bis zu den höchsten Baumkronen.

Als Asbjörn Krag sich der Wohnung des Abbés näherte, sah er, daß noch alles wie am vorhergehenden Tage war, als er das Haus verlassen hatte. Noch hing das zerschlagene Fenster schief in seinen rostigen Angeln, und unten auf dem gelben Sand blitzten die Glasscherben wie Silber in der Sonne. Krag ging durch die breite Haustür und begab sich zur Bibliothek, wo ebenfalls noch alles unberührt stand. Er machte eine Runde durch die Zimmer und betrachtete die verschiedenen Gegenstände; die mit dem Verbrechen im Zusammenhang standen: den zerschmetterten Schrank, die umgeworfenen Stühle, das zerbrochene Tintenfaß und all die kleinen Gegenstände, die während des Kampfes durcheinander geworfen waren. Er untersuchte auch die Blutspuren, die hier und dort zu finden waren: auf dem Teppich, dem Schreibtisch und – mit heimtückischer Deutlichkeit – auf dem weißen Feld der Tür. Schließlich sammelte er alles in einem Überblick, als ob er durch das schweigende Zimmer, denen Verstörtheit eine abgebrochene aber gewaltsame Bewegung verriet, eine Vorstellung von dem Geschehenen erlangen wollte. Eines wurde ihm klar – daß der Kampf, der hier ausgekämpft wurde, ein Kampf auf Leben und Tod gewesen war, Stühle hatten als Waffen gedient, Tinte floß wild umher, die zahlreichen Blutspuren deuteten darauf, daß Messer in Tätigkeit gewesen waren ... Aber, dachte Krag, indem er einen Gedankengang vollendete – Arnold Singers Anzug hatte keinen Riß, keinen Blutfleck gehabt.

Darauf ging der Polizeibeamte an die Ausführung seiner eigentlichen Absicht: er untersuchte alle Schlösser und es wurde ihm sofort klar, daß seine Annahme betreffs der Schlüssel, die er in dem Zimmer des verrückten Professors gefunden hatte, richtig gewesen war. Es war Abbé Montroses Schlüsselbund. Dieser Umstand bestätigte die Mitschuld des verrückten Professors; wahrscheinlich hatte er sich beim Kampf der Schlüssel bemächtigt, oder auch ... und bei diesem Gedanken erbebte Krag – oder auch gehörte dieses Schlüsselbund zu den Gegenständen, die der entführte Abbé Montrose, tot oder lebendig bei sich getragen hatte.

Krag hatte bald den Schlüssel zur Haustür gefunden, er fand auch die Schlüssel zu den anderen Türen, zum Bücherschrank, Schreibtisch, Kleiderschrank, sogar zur Küchentür, zum Weinkeller und zum Treibhaus. Vier Schlüssel aber blieben übrig, deren Verwendung er sich nicht erklären konnte. Es war ein Yaleschlüssel mit dem Stempel Nummer 22 470, ein gewöhnlicher Haustürschlüssel, ein Schrankschlüssel (oder Schubladenschlüssel) und ferner ein kleiner, kunstvoll geschmiedeter Schlüssel, dessen eigentümliche Form verriet, daß er zu einem wertvollen alten Schrein gehörte.

Asbjörn Krag löste diese vier Schlüssel von dem Bund, behielt sie in der Hand und betrachtete sie lange. Sie überzeugten ihn davon, daß es ein Geheimnis gab, das sich nicht auf die zerstörte Bibliothek und den frühlingsbrausenden Garten allein beschränkte. Krag hatte sich mit dem Schlüssel in der Hand in einen Lehnstuhl des Abbés niedergelassen. Von seinem Platz aus hatte er Aussicht über den Garten und den breiten Kiesweg, der von dichten Bäumen beschattet, zum Treibhaus führte, dessen blitzendes Glasdach zwischen den Bäumen sichtbar war. Er fühlte den kalten Stahl der Schlüssel zwischen seinen Fingern und hatte ein klares instinktives Gefühl, daß, wenn er diesen kalten Stahlschlüsseln folgen könnte, wohin sie gehörten, er zum Kern, zur Lösung des Geheimnisses durchdringen würde ... Er würde an eine Tür kommen, die Tür mit diesem Schlüssel öffnen – und was würde ihn drinnen erwarten? Ein Toter? Ein Sterbender? Ein Lebendiger, ein Glücklicher? Wieder war es der Verschwundene, der ihn beschäftigte, der unerträgliche Gedanke: Warum ist der Abbé mit fortgeschleppt worden, warum ist er nicht hier?

Da erreichte ein schwacher Laut aus dem Garten sein Ohr. Er blickte auf.

Zwischen den Bäumen zeigte sich eine menschliche Gestalt, die sich gleichsam aus dem Schatten loslöste.

Die Gestalt kam näher.

Es war ein schwarz gekleideter Herr von priesterlichem Aussehen, der sich der Bibliothek näherte, und indem er aus dem Schatten trat, in starker Sonnenbeleuchtung auf dem gelben Sand stand.


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