Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXI. Die fünf Teufel

Asbjörn Krag schob seinen Stuhl an den Schreibtisch und legte Kuvert und Brief vor sich hin. Auch Dr. jur. Thomas Wide rückte interessiert näher.

»Beachten Sie, daß sowohl Brief wie Kuvert sehr zerknittert sind und das Kuvert gleichzeitig sehr schmutzig ist. Ich nehme an, Herr Doktor, daß die Papiere bereits so aussahen, als sie in Ihren Besitz kamen?«

»Das können Sie ruhig annehmen,« antwortete der zierliche Rechtsgelehrte lachend. »Ich wurde sehr erstaunt, als ich diesen schmutzigen Brief bekam und Abbé Montroses Handschrift erkannte. Man könnte glauben, daß der Brief aus einem Kohlengeschäft abgeschickt sei.«

»Oder von einem Kohlenhändler besorgt worden ist,« fügte Krag hinzu, »denn die Post pflegt Briefe derartig nicht zuzurichten. Indessen lege ich Gewicht darauf, daß der Bogen selbst nicht schmutzig ist, dagegen ist er ebenso zerknittert wie das Kuvert. Mit anderen Worten, der Brief ist übel zugerichtet worden, seit er in die Hände desjenigen gekommen ist, der ihn besorgen sollte. Der Brief ist auf der Annahmestation C 4 gestempelt, was bedeutet, daß er in einen Postkasten im Zentrum der Stadt geworfen und auf dem Postamt gestern nachmittag um vier Uhr abgestempelt worden ist. Ferner ist er B 37 abgestempelt.«

»Sehr richtig,« sagte Dr. Wide. »Mein Kontor liegt im Postbezirk B und der Brief lag zwischen meiner Post, als ich heute morgen ins Kontor kam.«

»Ein anderer bemerkenswerter Umstand ist der,« fuhr Krag fort, »daß der Brief unfrankiert ist. Bringen wir dieses mit dem schmutzigen Kuvert usw. in Verbindung, dann kommen wir zu dem einfachen Resultat, daß der Brief von einem diebischen Straßenjungen in den Postkasten geworfen ist, der das Portogeld behalten und den Brief unfrankiert abgeschickt hat. Eines können wir jedenfalls als sicher annehmen, daß nämlich Abbé Montrose selbst einen Brief nicht in solchem Zustand abgeschickt hat.«

»Undenkbar, ganz undenkbar,« antwortete Dr. Wide und schüttelte seinen hübschen Kopf.

»Andererseits will es mir auch undenkbar erscheinen, daß Abbé Montrose einen so wichtigen Brief den Händen eines kleinen schmutzigen Jungen anvertrauen würde, der ihn auf solche Weise behandeln konnte. Überhaupt muß die außerordentliche Wichtigkeit des Briefes das entscheidende Moment bei unseren Schlußfolgerungen bleiben. Ich möchte die paradoxe Behauptung aufstellen, daß der Brief so wichtig ist, daß er nicht hätte abgeschickt werden dürfen.«

Dr. Wide lachte.

»Was meinen Sie damit,« fragte er.

»Ich meine, wenn Abbé Montrose am Leben ist, müßte es für ihn von größter Bedeutung sein, seine Freunde und die Polizei hiervon in Kenntnis zu setzen. Das aber würde am sichersten dadurch geschehen, daß Montrose selbst käme und sagte: Meine Herren, ich bin nicht tot, ich bin springlebendig. Nach dem Brief zu urteilen, scheint er sich über das außerordentliche Aufsehen, das sein Verschwinden geweckt hat, völlig im klaren zu sein. Mag er seine ungestörte Arbeitsruhe auch noch so sehr lieben, so muß er doch begreifen, daß er seiner selbst wegen, den Skandal, der seinen Namen bedroht, niederschlagen müßte. Das aber tut er nicht mit so einem Brief, der nicht einmal Aufschluß darüber gibt, wo er sich befindet. Sieht es Abbé Montrose ähnlich, auf diese Weise aufzutreten? Sie kennen ihn ja, sieht es ihm ähnlich?«

»Ganz und gar nicht,« antwortete Dr. Wide, »im Gegenteil, ich kenne niemanden, der seinen Ruf so hütet, wie mein Freund Abbé Montrose, niemand, der sich mehr fürchtet, Sensation und Aufsehen zu erregen. In einem Fall wie diesem, würde er sicher selbst zur Polizei geeilt sein.«

»Und da er es nicht tut,« sagte Krag, »können wir als sicher annehmen, daß meine erste Annahme richtig ist, nämlich, daß er nicht kommen kann, weil er nicht Herr über seine Handlungen ist – daß er sich mit anderen Worten in der Gewalt gemeiner Schurken befindet, die ihn in irgendeiner Absicht mit Drohungen dazu getrieben haben, diesen Brief zu schreiben. Nehmen wir ferner an, daß Abbé Montrose irgendwo in der Vorstadt, oder noch wahrscheinlicher ein gutes Stück außerhalb der Stadt, gefangen gehalten wird, so haben wir damit auch die Erklärung für das beschmutzte Aussehen des Briefes. Denn in diesem Fall hat einer der Banditen ihn bei sich getragen und in der Stadt in einen Postkasten geworfen.«

»Ist es aber nicht sonderbar,« wandte Dr. Wide ein, »daß die Herren Banditen nicht die Mittel gehabt haben sollten, das Porto zu bezahlen?«

»Das kann ein Zufall sein – gerade derartige Vergeßlichkeiten sind mir in dieser Sache schon aufgefallen.«

»Aber«, fuhr Dr. Wide fort, »warum sollten die Banditen ihn mit Drohungen dazu gezwungen haben, diesen an und für sich ganz gleichgültigen Brief zu schreiben?«

»Wahrscheinlich, weil sie ein bestimmtes Interesse daran haben, der Öffentlichkeit mitzuteilen, daß er am Leben ist.«

»Was für ein Interesse sollte das sein?«

Asbjörn Krag zuckte die Achseln.

»Das ist bis auf weiteres in Dunkel gehüllt,« sagte er, »wahrscheinlich aber wird es sich schneller als wir glauben aufklären.«

Dr. Wide verharrte eine Weile schweigend, dann sagte er:

»Dergleichen Briefe pflegen einen anderen Charakter zu haben, ich kenne solche Briefe aus meiner Rechtspraxis. Sie pflegen einen Passus zu enthalten, daß, falls zu einer bestimmten Frist, an einer bestimmten Stelle, nicht soundso viele Tausend ausgezahlt würden, das Opfer, das den Brief schreibt, darunter zu leiden hätte. So pflegen Erpressungsbriefe sonst abgefaßt zu sein.«

»Das ist der Teufel,« sagte Krag.

»Wie meinen Sie?«

»Da haben wir wieder den verfluchten kleinen Teufel, der alle Schlußfolgerungen auf den Kopf stellt. Sie sehen selbst, daß die Erpressungsgeschichte fix und fertig ist, von Abbé Montroses rätselhafter Entführung bis zum Brief. Dann aber kommt der Widerspruch: der Brief enthält kein Wort von Erpressung. Auf diese Weise trifft in dieser Sache stets irgendein überraschendes Moment ein, das alle Schlußfolgerungen über den Haufen wirft.«

»Gibt es viele solche überraschende Momente?« fragte Dr. Wide und sah den Polizeibeamten forschend an.

»Ja, viele.«

»Könnte es nicht eine Kette werden, wenn man alle diese abweichenden Momente zusammenhielte?«

Krag lachte.

»Daran habe ich auch schon gedacht,« sagte er, »vorläufig aber habe ich nur Fetzen ohne Zusammenhang; dennoch sammle ich sie. Damit Sie einen Eindruck von dem seltsamen Chaos des Ganzen bekommen, will ich Ihnen den Faden in diesem Drama aufrollen.

Also hören Sie: Das Verbrechen ist offenbar von mehreren Verschworenen geplant worden, deren Anführer als Gartenarbeiter hier im Garten gearbeitet und als solche Gelegenheit gehabt haben, sich mit den lokalen Verhältnissen vertraut zu machen. Der eine, der Arnold Singer heißt, ist verhaftet. Ich glaube nicht, daß ich mich irre, wenn ich ihn als den Leiter des Ganzen bezeichne. Sehen Sie nun dieses Zimmer, welch wilder Kampf hat hier stattgefunden! Blut und Tinte und umgeworfene Stühle und zerschlagene Möbel überall. Kaum zwei Stunden nachdem das Verbrechen stattgefunden hatte, verhafteten wir Arnold Singer, aber es ist uns nicht gelungen, an seinen Kleidern Blutflecke oder nur die geringsten Abzeichen des Kampfes zu entdecken.«

»Das war Teufel Nummer I,« murmelte Dr. Wide.

»Dieser Umstand im Verein mit seinen sehr klugen Aussagen, bewirkten, daß seine Sache eigentlich ganz gut stand. Dann aber fällt er aus der Rolle und macht einen vollständig sinnlosen Fluchtversuch.«

Also Teufel Nummer 2,« sagte Dr. Wide.

»Ferner,« fuhr Krag fort, »warum haben die Banditen Abbé Montrose entführt? Ich versichere Sie, das Sinnlose einer solchen Gewalttat liegt auf der Hand. Die Verbrecher müssen ihn mit sich über das hohe Gitter geschleppt haben. Mit der Polizei auf den Fersen aber erscheint das so gut wie ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger ist Abbé Montrose in Gesellschaft der Banditen verschwunden. Ich kann es mir im Augenblick nicht anders erklären, als daß er freiwillig mitgegangen ist, und Sie, der Sie Abbé Montrose kennen, werden wahrscheinlich das Sinnlose einer solchen Annahme zugeben.«

»Nummer 3,« murmelte der Rechtsgelehrte.

»Gesetzt den Fall, daß es mit Hilfe irgendeiner unerklärlichen List, den Banditen indessen wirklich geglückt sein sollte, den gelehrten und angesehenen Abbé zu entführen, so kann es nur in der Absicht geschehen sein, von seinen Freunden und Verwandten Geld zu erpressen. Dann aber kommt dieser Brief, in dem von Erpressung gar keine Rede ist. Nummer 4, nicht wahr?«

Dr. Wide nickte.

Halb ärgerlich wollte Asbjörn Krag seine Darstellung fortsetzen, durch die er die unzusammenhängenden Einzelheiten des Dramas zu sammeln versuchte, als abermals Schritte auf dem Kiesweg des Gartens erklangen.

Es war Detektiv Keller.

Er kam in großer Hast angelaufen, riß die Tür auf und fragte:

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Wen?«

»Das Gefängnisgesicht, den Mann aus dem ›Vergoldeten Pfau‹. Er ist just in diesem Augenblick über den Gartenzaun gestiegen.«

»Nummer 5,« sagte Krag und erhob sich.


 << zurück weiter >>