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XVI. Die Gemüsehändlerin

Asbjörn Krag wurde mehr und mehr davon überzeugt, daß der Wirt vom »Vergoldeten Pfau« nur eine originelle Großstadtfigur sei, die offenbar nichts Direktes mit den unheimlichen Geschehnissen zu tun hatte. Indessen hatte der Wirt so nahe Beziehungen zu mehreren Hauptpersonen des Dramas, daß der Detektiv beschloß, ihn im Auge zu behalten. Darum befahl er dem Wirt, daß er sich am nächsten Morgen in der Detektivabteilung melden solle. Der Wirt schimpfte leise über die Polizei, die ihre Nase in sein Geschäft gesteckt habe und fluchte laut über den verrückten Professor, während er in seine unvergleichliche Bar zurückkehrte, wo Polizeibeamte an allen Türen Wache hielten. Krag schickte auch die beiden Kellner fort.

Als Krag und Keller mit dem Toten allein geblieben waren, betrachtete Keller schweigend das Gesicht des Ermordeten. Dann sagte er:

»Ich begreife nicht, daß wir diesen Mann jemals für einen hervorragenden Priester gehalten haben. Sehen Sie nur die Züge des Unglücklichen, sind sie nicht ein schlagender Beweis für das Bild eines verfallenen Trinkers? Warum mußte er ermordet werden?«

»Er war ein Trinker,« sagte Krag, »ging umher und schwatzte Dummheiten. Das ist vielleicht Erklärung genug. Unter dem Einfluß des Rausches war er geschwätzig, und anderen Menschen wird es nicht gepaßt haben, daß dieser Schwätzer frei umherging. Vielleicht wußte er zuviel, ja, sicher wußte er zuviel. Darum mußte er aus dem Weg geräumt werden. Hätten wir ihn noch eine Stunde bei uns behalten, würde er uns vielleicht die Lösung des Rätsels gegeben haben. Während wir mit ihm auf unserem Zimmer Unsinn schwatzten, haben die Verbrecher sich bereits in unserer Nähe herumgetrieben. Wahrscheinlich unserem Gespräch gelauscht, ein unheimlicher Gedanke. Sie sahen wohl ein, daß ihre eigene Sicherheit in Gefahr sei, solange der gute Professor frei herumging und in seinem betrunkenen Zustand alles ausschwatzte. Sie beschlossen, ihn aus dem Weg zu räumen und führten ihren Plan so schnell und schlau durch, wie ich selten etwas erlebt habe. Daß sie aber so viel aufs Spiel setzten, überzeugt mich wiederum davon, daß diese seltsame Geschichte eine tiefe Tragödie enthält. Ich fürchte, lieber Freund, daß der wirkliche Abbé Montrose nicht mehr am Leben ist.«

»Ich bin fest davon überzeugt, daß er tot ist,« antwortete Keller, »nur begreife ich nicht, warum diese gefährlichen Verbrecher sich just Abbé Montrose als Opfer ausgesucht haben. Wenn Verbrecher ans Werk gehen, unter der Voraussetzung, daß Menschen aus dem Weg geräumt werden sollen, pflegen sie meistens mit größerer Beute zu rechnen, als mit der, die sie bei Abbé Montrose erwarten konnten.«

»Vielleicht«, bemerkte Krag nachdenklich, »ist das Verbrechen wie ein Schneeball gewachsen, der im Rollen ist. Anfänglich haben sie vielleicht nur einen gewöhnlichen nächtlichen Einbruch in der Wohnung des Abbés geplant, da sie wußten, daß die Gemeindegelder, einige tausend Kronen, sich in seinem Geldschrank befanden. Sie wurden indessen von dem Abbé überrascht, und um sich zu retten, haben sie ihn aus dem Weg räumen müssen. Darauf haben sie den verrückten Professor unschädlich machen müssen, weil er sie in Gefahr brachte, sie mit seiner Trinkergeschwätzigkeit auszuliefern.«

Keller lachte.

»Das klingt ja ganz logisch,« sagte er, »ist es aber nur scheinbar. Ihre Erklärung hinkt. Warum begnügten die Verbrecher sich nicht damit, den Abbé totzuschlagen? Warum schleppten sie ihn auch mit sich? Oder wäre der Fall denkbar, daß er lebt und wie ein merkwürdiger Affe über das hohe Gartengitter geklettert ist –? In Gesellschaft der Verbrecher? Und wie kommen so schlaue Verbrecher, wie diese anscheinend sind, dazu, solch armen Toren, wie den verrückten Professor, zu ihrem Mitschuldigen zu machen?«

»Eitel Rätsel,« anwortete Krag. Und indem er den Toten abermals forschend betrachtete, fügte er hinzu:

»Dieser Mann hätte uns fast die Lösung des Rätsels gegeben. Sein Tod hat ihn daran verhindert. Dennoch glaube ich, daß sein Schicksal uns helfen wird. Er wohnt hier in der Nähe bei der Gemüsehändlerin Großmann, wie Rudolf mir gesagt hat. Die Gemüseläden werden heute am Sonnabend spät geschlossen, wir werden Frau Großmann sicher noch antreffen. Wenn wir etwas Näheres über das Leben dieses sonderbaren Mannes erfahren, werden wir sicher auch Näheres von dem Drama, in dem er mitgespielt hat, zu wissen bekommen.«

Da erklangen Schritte auf dem Korridor, und ein Polizeibeamter kam herein und teilte mit, daß das Publikum unten im Café wütend sei, weil man es zurückhielte. Er bat um Instruktion.

»Was sollen wir mir diesen Menschen?« fragte Keller. »Allesamt können wir sie ja doch nicht verhaften, dazu haben wir kein Recht.«

Er zeigte aufs Fenster und fuhr fort:

»Die Mörder, die einzigen Personen, die uns interessieren, haben sich schon auf diesem Weg davongemacht.«

»Und sind jetzt über alle Berge,« fügte Krag hinzu. »Schließen Sie die Türen auf, Schutzmann, und geben Sie den Leuten im Café die Freiheit. Jeder kann gehen, wohin es ihm beliebt.«

»Vielleicht der Wirt,« meinte Keller fragend. Krag aber antwortete:

»Ein Mann mit solchem Körperumfang flieht nicht.«

Nachdem er dem Schutzmann noch Verhaltungsmaßregeln wegen des Toten gegeben hatte, verließ er mit Keller zusammen das Zimmer.

Unten im Café nahmen sie Rudolf mit sich, damit er ihnen den Weg zu der Gemüsehändlerin Großmann zeigen konnte. Die Bar war übrigens in einem Zustand vollkommener Auflösung. Die Mädchen standen eingeschüchtert in einem Haufen hinter dem Schenktisch, das Morgengewölk saß unbeweglich hinter seinem blitzenden Mix-Apparat, mit Flüchen geladen, es war gefährlich, in seine Nähe zu kommen. Und der ganze bunte Schwarm von Chinesen und Juden, Schlangenmenschen, Luftköniginnen und Löwenbändigern redete durcheinander, man hörte Flüche und Schimpfworte in allen Sprachen. Mitten in dem Wirrwarr aber standen zwei riesige Schutzleute unbeweglich und unbestechlich. Dann kam der Befehl, daß die Türen geöffnet werden sollten, und um dem Befehl Nachdruck zu geben, wurden sie weit aufgerissen. Die säuerliche, kühle Frühlingsluft strömte ins Café und machte die Mädchen frösteln. Sie fingen an zu niesen und kletterten auf ihre Taburetts. In der Dämmerung draußen auf dem Fußsteig sah man neugierige fahle und glotzende Menschengesichter. Von dem Luftzug getragen, kam der frische Lärm stoßweise in seiner Mannigfaltigkeit in das eingeschlossene schwüle Café ... Jetzt aber erlebte man das Sonderbare, daß in dem Augenblick, wo der Weg frei war, niemand sich gutwillig entfernen wollte. Nur ein paar ältere Spießbürger, die kühn diesen Ort aufgesucht hatten, schlichen sich gedrückt davon. Da rief das Morgengewölk:

»Schließt die Türen!«

Die Türen wurden geschlossen, aber aus freiem Antrieb. Der junge Herr mit der goldenen Kette am Fußgelenk nahm wieder auf dem Taburett vor seiner Angebeteten Platz. Die Gäste sammelten sich um die Tische, denn alle hatten das Bedürfnis, beisammen zu sein und das Geschehene zu besprechen ... Da aber waren Krag und Keller, vom Kellner Rudolf geführt, bereits bei der Gemüsehändlerin angelangt, die im Begriff war, ihren Laden zu schließen.

Frau Großmann war eine korpulente und selbstsichere Matrone, so eine, wie man sie in den meisten Gemüseläden antrifft, wo sie wie ein alter geprüfter Grenadier, das Tuch auf der Brust gekreuzt, hinterm Ladentisch zu stehen pflegen. Auf der Oberlippe hatte sie einen kleinen Schnurrbart, und ihre Hände waren so rot wie reife Tomaten. Sie betrachtete die beiden Polizeibeamten mit ruhiger Neugierde, Rudolf aber, den sie anscheinend kannte, mit entschiedenem Mißtrauen.

Rudolf erklärte ihr, daß die beiden Herren sie wegen des verrückten Professors aufsuchten.

»Er wohnt ja bei Ihnen, nicht Frau Großmann?«

»Ja,« antwortete sie vorsichtig.

»Die beiden Herren sind von der Polizei,« erklärte Rudolf.

»Was Sie sagen,« antwortete sie nicht weiter erstaunt.

Plötzlich heftete sie ihre zornigen Augen auf Rudolf und rief:

»Packen Sie sich weg, Sie elender Wicht. Ich will mit der Polizei allein sprechen.«

Rudolf drückte sich schleunigst. Als die beiden Polizeibeamten mit der Frau allein geblieben waren, sagte Krag:

»Es scheint Sie nicht sonderlich zu verwundern, daß die Polizei Sie wegen des verrückten Professors aufsucht?«

»Nein,« antwortete sie.

»Wie lange hat er bei Ihnen gewohnt?«

»Zwei Jahre. In der ersten Zeit fragte ich mich selbst immer: kommt die Polizei nicht bald? Aber keine Polizei kam. Seither habe ich aufgehört, mich danach zu fragen. Und jetzt ist die Polizei also da. Aber verwundern tut es mich nicht.«

Sie griff nach einem großen Schlüsselbund, das an einer rostigen Kette auf ihrem Leib hing.

»Ich glaube nicht, daß er zu Hause ist,« sagte sie.

»Er ist nicht zu Hause,« antwortete Krag. »Aber wir wollen gern sein Zimmer sehen.«

Sie hob eine Klappe im Ladentisch und die Detektive traten näher. Erst wackelte sie zur Ladentür und schloß sie ab. Darauf führte sie, indem sie vorausschritt, das rasselnde Schlüsselbund in ihrer tomatenroten Faust, die Detektive durch einen Raum hinter dem Laden, der mit Säcken und Kisten und allerhand Obst und Gemüsen voll war. Die Luft war dick und herbe. Von diesem Raum führte eine Tür zu einem dunklen Gang. Die rauhe Feuchtigkeit hatte sich durch die Mauern gefressen. Auch in dem dunklen Gang roch es nach Kartoffeln und Kohl und anderem Gemüse, und dieser Geruch begleitete sie die Treppe hinauf, bis er nach und nach von dem unbeschreiblichen Geruch abgelöst wurde, der unausrottbar an alten Häusern klebt und von feuchten Mauern und altem faulen Holz herstammt. Die Treppe war eng und knarrte jämmerlich unter dem Gewicht der schweren Frau. Man konnte keine Hand vor Augen sehen, die Gemüsehändlerin aber ging mit geübter Sicherheit durch die Dunkelheit und die Detektive folgten ihr auf den Fersen.

Schließlich blieb sie auf einem Absatz stehen und steckte den Schlüssel in eine Tür.

Die ganze Zeit über hatte sie kein Wort gesagt, jetzt aber fragte sie:

»Ist er verhaftet?«

»Nein,« antwortete Krag. »Er ist tot.«

Einen Augenblick verharrte das Schlüsselbund geräuschlos in ihrer Hand. Auch von draußen kam kein Laut, und die Dunkelheit umgab sie dicht und beklemmend. Von unten aber drang ein rauher, saugender Luftzug durch die enge Treppe zu ihnen hinauf.

Sie drehte den Schlüssel um, und die drei Menschen betraten einen Raum, der auch dunkel war, nur an einer Stelle sah man ein graues Fensterviereck, nicht größer als eine Steintafel über einem Grab.

Keller atmete tief.

»Was für ein Duft!« rief er erstaunt aus. »Blumen ...«

»Frische Blumen,« sagte Krag, »wie auf einem Kirchhof. Machen Sie Licht.«


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