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XV. Die Erklärung

Nachdem Krag die gesprengte Tür zur Seite geschoben hatte, blieb er auf der Schwelle stehen und überblickte die Lage im Zimmer. Er begriff sofort, daß das Unglück nicht so groß war, wie er gefürchtet hatte.

Hinter ihm drängten sich der Wirt, die Polizeibeamten und die Kellner.

Krag hörte den Wirt mehrmals ausrufen:

»Das ist ja der verrückte Professor, bei meiner Seele – das ist der verrückte Professor.«

»Ach ja, jetzt erkenne ich ihn auch,« flüsterte Rudolf, »ohne den Hut sieht er ganz anders aus.«

Der Tote war unberührt. Er saß wie vorhin im Lehnstuhl, und zu seinen Füßen lag der breitrandige Priesterhut.

Drüben auf dem Bett aber lag Detektiv Keller.

Es sah aus, als ob er sich zu einem kleinen Mittagsschlaf hingelegt hätte und jetzt wütend war, weil man ihn störte.

Er lag angezogen auf dem Bett und hatte ein Tuch über sein Kinn gezogen, so daß nur etwas von der Nase und seine Augen sichtbar waren.

Diese Augen aber sagten alles. Sie funkelten förmlich vor Wut und Erbitterung. Bei ihrem Anblick war es, daß Krag sich beruhigte, so daß er mehrere Sekunden auf der Schwelle stehen blieb.

Krag hatte fast eine Katastrophe gefürchtet, diese Augen aber gehörten so unbedingt einem lebendigen Menschen, daß er sich beruhigte.

»Warum haben Sie die Tür nicht geöffnet?« fragte Krag.

Keller antwortete nicht.

»Warum antworteten Sie nicht, als ich Sie rief? Ich hab ja so laut geschrien, daß selbst ein Tauber es hören mußte.«

Noch immer antwortete Keller nicht.

»Aha,« murmelte Krag verständnisvoll, trat ans Bett und zog das Tuch zurück. Dort lag Keller, an Händen und Füßen gebunden, mit einem Knebel im Mund. Krag befreite ihn von dem Knebel, und während er noch dabei war, seine Fesseln zu durchschneiden, hörte er, wie sein Freund seiner Wut durch eine Salve von Flüchen Luft machte. Kaum war er frei, als er ans Fenster eilte und seine Beschimpfungen fortsetzte. Er schien sich an unsichtbare Wesen zu wenden, die über dem Dach zwischen Himmel und Erde schwebten.

»Sind Sie bald fertig?« fragte Krag.

»Ja, jetzt bin ich fertig,« antwortete Keller und atmete tief auf.

Er blickte das Morgengewölk grimmig an und äußerte sich in aufgebrachten Worten über das Hotel, was den Fleischklumpen sehr zu beleidigen schien.

Indessen beruhigte Krag seinen Freund, so gut er es vermochte, schickte die Kellner fort und behielt nur den Wirt. Krag hatte ein gewisses Zutrauen zu dem dicken Menschen gefaßt.

»Ich war kaum zehn Minuten fort,« sagte Krag darauf zu Keller, »eine lange Zeit ist das nicht, trotzdem aber ist es Ihnen geglückt, in dieser Zeit etwas zu erleben. Solches Glück habe ich selten.«

Er zeigte auf den Toten.

»Sind Sie vielleicht von dem überrumpelt worden?«

»Der ist mausetot,« antwortete Keller.

»Wer kann es gewesen sein? Ich habe ja selbst gehört, daß Sie die Tür verschlossen, als ich Sie verlassen hatte.«

»Zum Teufel, das war ja gerade das Pech. Die Schurken hielten sich hier drinnen auf, und ich konnte nicht hinauskommen.«

»Wo hielten sich die Schurken auf?« fragte Krag.

Keller schob einen Vorhang beiseite. Der Vorhang verbarg eine Tür, die zu einem Nebenzimmer führte, die Tür aber lag so tief in der Wand, daß sich zwischen ihr und dem dicken Vorhang reichlich Platz für mehrere Menschen befand.

»Es geschah, während ich die Tür verschloß, gleich nachdem Sie gegangen waren,« erklärte Keller, »und ich dem Vorhang den Rücken kehrte. Plötzlich fühlte ich mich von starken Fäusten festgehalten. Sie wissen, wie schnell so etwas geht. Krag, eine Minute danach lag ich gebunden auf dem Bett, mit einem Knebel im Munde, außerstande, mich zu bewegen oder zu schreien. Ich mußte hübsch still wie ein Kind in einer Wiege liegen und zusehen, wie die beiden Kerle hier im Zimmer rumstierten.«

»Demnach waren es zwei,« sagte Krag, »und der eine war Seemann, nicht wahr?«

Keller sah ihn erstaunt an.

»Haben Sie sie gesehen?« fragte er.

»Nein,« antwortete Krag, »aber nur Seeleute können einen Strick auf diese Weise binden. Ich kenne diesen Knoten. Nun aber erklären Sie mir, wie ist es möglich, daß Sie sich jetzt auf Zimmer Nummer 66 befinden, während ich Sie auf Zimmer Nummer 333 verließ?«

»Dies ist Nummer 333,« antwortete Keller.

»Nein,« sagte Krag und zeigte ihm die Nummer über der Tür.

Kellers Erstaunen war fast komisch.

»Ich bin nicht eine Sekunde ohne Bewußtsein gewesen,« sagte er, »das kann ich mir nicht erklären.«

»Bis vor einem Augenblick meinte ich auch, daß es ganz unerklärlich sei,« antwortete Krag und zeigte auf das Bild der Königsfamilie an der Wand. »Dieses Bild erst brachte mich auf die Spur. So ein Bild hängt in allen Zimmern, nicht wahr,« fragte er den Wirt.

»Ja,« antwortete der Wirt, »in den meisten.«

»Und außerdem ist das Zimmer nebenan genau ebenso möbliert. Sobald ich das entdeckt hatte, wurde es mir klar, daß wir uns in der Nummer des Zimmers geirrt hatten. Die Nummern sind vertauscht worden, während ich unten im Café war.«

»Unmöglich,« brauste der Wirt auf, »dies Zimmer ist Nummer 66 und ist immer Nummer 66 gewesen, und das Zimmer, in dem wir zuerst waren, ist Nummer 333. Ich werde mein eigenes Hotel doch kennen.«

»Sehr richtig. Aber wie Sie selbst wissen, sind die Nummerschilder draußen an den Türen beweglich und können gewechselt werden. Ich begreife nicht, warum der arme Kerl dort ermordet worden ist; daß die unbekannten Verbrecher aber den Mord geplant haben, das ist sicher, und sie haben geplant, daß das Verbrechen in diesem Zimmer, also auf Nummer 66 stattfinden sollte. Warum es just hier geschehen sollte, kann Keller uns vielleicht erklären.«

Keller trat ans offene Fenster und blickte hinaus.

»Die Ursache mag sein,« sagte Keller, »daß dieses Zimmer zwei Ausgänge hat.«

»Zwei Ausgänge,« brummte der Wirt.

»Ja, einen durch die Tür und einen durchs Fenster. Hier unterm Fenster hängt nämlich eine Rettungsleiter aus Eisen, die an der Mauer befestigt ist, und in dieselbe Richtung habe ich die Verbrecher verschwinden sehen.«

»Gut,« bemerkte Krag, »das ist eine sehr annehmbare Erklärung. Im übrigen kann man sich das Vorgefallene leicht erklären. Die Mörder haben ihr Opfer hierher locken wollen, und haben Nummer 66 mit Nummer 333 vertauscht, während der Unglückliche bei uns war. Darauf ist der Mann fehlgegangen, das kann man ja leicht in diesem Labyrinth, und das Verbrechen ist ausgeführt worden. Als wir hier drinnen waren, Keller, haben die Mörder bereits hinter dem Vorhang gestanden, haben unser Gespräch mit angehört und sind zum Vorschein gekommen, als ich das Zimmer verließ. Nachdem sie Sie dann wehrlos gemacht hatten, haben sie die Nummern wieder umgetauscht. Da haben Sie die ganze Verwechslung.«

»So wird es wohl gewesen sein,« sagte Keller, »ich erinnere mich übrigens, daß einer der Verbrecher die Tür öffnete und sich etwas daran zu schaffen machte. Gleich nachdem er die Tür wieder abgeschlossen hatte, hörte ich Ihre Schritte auf dem Korridor, Krag, ein recht erheiternder Gedanke, nicht wahr?«

»Seltsam,« antwortete Krag, »während wir uns im Nebenzimmer befanden und in Betrachtungen darüber verloren, wieso es leer sei, haben die Mörder sich also hier in diesem Zimmer aufgehalten. In Wahrheit seltsam. Warum flohen sie nicht gleich durchs Fenster?«

»Weil sie sich erst der Briefe des Ermordeten bemächtigen wollten, seiner Korrespondenz oder Kospenz, wie er es nannte.«

»Die Briefe, die beweisen sollten, daß er war, wofür er sich ausgab, nämlich Abbé Montrose.«

»Es ist nicht Abbé Montrose,« zischte der Wirt, »es ist der verrückte Professor.«

»Sie nahmen dann auch alles mit sich, was sie in den Taschen fanden,« fuhr Keller fort, ohne sich um die Bemerkung des Wirtes zu kümmern. »Lange aber suchten sie nach einem Stück Papier, ich nehme an, daß es die Quittung war, die Sie aus der Hand des Toten lösten.«

»Und die aus dem Archiv der Polizei gestohlen sein muß,« sagte Krag, »und die ich jetzt in meiner Tasche habe.«

»Ja. Als sie sie aber nicht fanden und hörten, daß Sie hier draußen auf dem Korridor meinen Namen riefen, gaben sie es auf und eilten fort. Oh, Sie können mir glauben, Krag, es war heiter, Sie draußen rufen zu hören, und hier machtlos mit einem Knebel im Munde zu liegen.«

»Wir müssen den Ermordeten fortschaffen,« sagte Krag, »ich werde die Schutzleute rufen. Das Seltsame bei dieser Sache ist, Keller, daß immer mehr Geheimnisse auftauchen, je mehr wir uns in sie vertiefen. Es ist, als ob bei jedem abgehauenen Kopf soundso viel neue herauswachsen. Nicht weniger als acht Fragen gibt es zu beantworten:

  1. Wo ist Abbé Montrose?
  2. Tot oder lebendig?
  3. Wie ist dieser Mann in den Besitz von Abbé Montroses Papieren gekommen?
  4. Warum ist er ermordet worden?
  5. Wer hat ihn ermordet?
  6. Wo sind die Mörder?
  7. Sind diese Verbrecher dieselben, die Abbé Montrose entführt und ermordet haben?
  8. Warum hat dieser Mann sich für Abbé Montrose ausgegeben?«

»Was Nummer 5 betrifft,« antwortete Keller, »so kann ich vielleicht einen Aufschluß geben. Der eine der Verbrecher war ein unbarbierter Kerl mit einem brutalen Gesicht. Gleich, als ich ihn sah, mußte ich an Ihren Märchendichter H. C. Andersen denken.«

»Aha, der Seemann, der verschwundene Montrose. – Hier haben wir abermals eine Verbindung mit dem Drama in der Bibliothek des Abbé.«

»Und was die Frage Nummer 6 betrifft,« fuhr Keller fort, »indem er aufs Fenster zeigte, »so wissen wir jedenfalls, daß die Verbrecher sich nicht mehr im Hotel befinden.«

Krag trat ans Fenster. Es führte zu einem dunklen und engen Hof. Er sah den Wirt fragend an.

»Sie müssen durch zwei Höfe, bevor sie auf die Straße kommen,« erklärte dieser, »in diesem Viertel ist ja alles ineinandergeschachtelt. Ja, ja, durch zwei Höfe, dann erst gelangen sie auf die Straße.«

»Welche Straße?« fragte Krag.

»Den Husarenweg,« antwortete der Wirt.

»Die Straße, in der Arnold Singer wohnt,« murmelte Krag nachdenklich.

»Abermals dieser Name.«


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