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VII. Eine Mannsperson.

»Aber«, fuhr der Detektiv scherzend fort, »der berühmte Dichter kann nichts dafür, daß er einen Namen trug, der seit zweihundert Jahren in seinem Heimatland Dänemark sehr allgemein war. Sie können sicher sein, daß ein Mann, der Hans Christian Andersen heißt, an den freundlichen dänischen Gestaden zu Hause ist.«

Krag breitete das spanische Halstuch aus und ließ die Farben im Sonnenschein, der durchs Fenster fiel, leuchten.

»Jedenfalls ist es bei dem Besitzer dieses Tuches der Fall,« sagte er, »bei Hans Christian Andersen, dem dänischen Leichtmatrosen auf der Brigg ›Eddystone‹. Der ist Nummer IV auf unserer Liste.«

»Auf diesen Namen bin ich bei der Affäre Montrose noch nicht gestoßen,« sagte Keller. »Wo zum Teufel haben Sie den aufgefischt? Steht dieser Name auf dem abscheulichen Halstuch?«

»Nein,« antwortete Asbjörn Krag, »hier steht ein anderer Name: Cienfuegos, Bilbao.«

»Ist das vielleicht Nummer IV?«

»Keineswegs, das ist nur der Firmenname. Er steht hier oben in der Ecke. Können Sie sehen, Keller, das Halstuch ist ganz neu und von bester Seide. Einer der Verbrecher hat es in der Hitze des Gefechts in der Bibliothek verloren. Wahrscheinlich hat er es nur dieses eine Mal getragen. Es ist ein typisches Seemannshalstuch, wie sie in den spanischen Häfen in kleinen Hafenläden verkauft werden. Es gehört kein besonderer Scharfsinn dazu, um dies als eine Spur zu erkennen. Im Laufe des Tages habe ich Nachforschungen am Hafen anstellen lassen und erfahren, daß das Segelschiff ›Eddystone‹ vor fünf Tagen aus Bilbao angekommen ist und daß einer der Leichtmatrosen gestern zum ersten Mal Landurlaub gehabt hat und mit solch einem Halstuch an Land gegangen ist. Dieser Matrose ist Däne und heißt Hans Christian Andersen, was indessen das einzige ist, was er mit dem Verfasser des ›häßlichen grauen Entleins‹ gemein hat.«

»Donnerwetter,« rief Keller, »das ist ja ein äußerst wichtiger Aufschluß.«

»Vielleicht,« murmelte Krag, »nun lassen Sie mich aber etwas Näheres über die römischen Ziffern I, II und III erfahren.«

Keller breitete seine Papiere aus und las:

»I. Arnold Singer, gibt an, daß er fünfunddreißig Jahre alt und nicht vorbestraft ist, weder seine Fingerabdrücke, noch seine Photographie sind in der Signalementabteilung der Polizei vorhanden. Behauptet, nichts von dem Verbrechen bei Abbé Montrose zu wissen. Gibt auffallend spärliche Aufschlüsse über sein Leben. Hat Gärtnerei in der Handelsgärtnerei bei Hobbemas in Amsterdam gelernt. Verließ diese, als er siebzehn Jahre alt war, ist später zur See gefahren und hat bald hier, bald dort Arbeit gehabt. Auf die direkte Frage, ob er vor ungefähr drei Jahren als Dekorateur im Hotel ›Zum vergoldeten Pfau‹ gearbeitet hat, gibt er dies ohne weiteres zu. (Siehe unter II.) Gibt an, daß er vorige Woche als Gärtner in Abbé Montroses Garten gearbeitet und dafür dreißig Kronen erhalten hat. Eine von der Hand des Abbés gemachte Auszeichnung bestätigt diese Behauptung. Erklärt, daß er während der Arbeit im Garten die Photographie, die später in der Bibliothek gefunden wurde, verloren hat. Die Photographie zeigt deutliche Fingerabdrücke und Flecke von Gartenerde. Es sind Arnold Singers Fingerabdrücke. (Kellers private Anmerkung: Die Polizei muß zugeben, daß die Umstände, die die Photographie betreffen, den Arbeiter Arnold Singer entlasten.)

II.

Clary Whist-Singer, Tochter des Wirts ›Zum vergoldeten Pfau‹. Lernte Arnold Singer vor drei Jahren kennen, als er als Dekorateur im Hotel ihres Vaters arbeitete. Heiratete ihn einen Monat darauf. Erklärt, daß sie ihren Mann über alle Maßen liebt, erklärt ferner, daß ihr Mann ein Muster von Ordnung und Fleiß ist. Alle vierzehn Tage gab er ihr von seinem Verdienst genug, um den kleinen Hausstand zu führen. Er war fast den ganzen Tag auf Arbeit, sogar häufig des Nachts, wenn er an entlegenen Orten Arbeit hatte. Gibt zu, daß sie sich bisweilen darüber gewundert habe, daß Arnold keine feste Arbeit hatte. Gesteht ferner, daß sie unruhig war, wenn er mehrere Tage fort blieb und daß sie dann auf den Gedanken verfiel, daß er etwas Geheimnisvolles an sich habe; sobald er sich aber zeigte, verflog diese Unruhe wieder. Zweimal hatte sie ihn zufällig im Besitz bedeutender Geldsummen gesehen, mehrerer großer Scheine. Als sie ihn aber fragte, wie es mit diesem Geld zusammenhinge, hatte er lachend Ausflüchte gemacht und gesagt, daß er etwas für einen Freund zu besorgen habe. Diesen Freund hatte sie nie gesehen, Arnold verkehrte mit niemandem, und es kam niemand in ihr Haus. Sie bestätigte in allen Punkten die Erklärung, die ihr Mann von den Ereignissen der Nacht gegeben hatte. Sie glaubte nicht, daß Arnold später als zwei, halb drei Uhr nach Hause gekommen sei (die Verbrecher verließen den Garten um drei Uhr), doch konnte sie es nicht mit Bestimmtheit sagen. (Kellers private Anmerkung: Geht man von dem Verdacht aus, daß Arnold Singer ein Verbrecher ist, stellt sich das Eheleben des jungen Paares als ein typisches Bild der Ehe eines Verbrechers dar. Arnold verheimlicht seiner Frau, daß er von gestohlenem Gut lebt. Wenn er nachts auswärts ist, was Verbrecher oft sein müssen, kommt er mit nichtssagenden Ausflüchten. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist es auch ganz natürlich, daß Arnold seiner Frau nicht sagen kann, daß er feste Arbeit hat. Sonst hätte sie ihn leicht auf Lügen ertappen können. Alles deutet darauf hin, daß er seine Verbrechen um jeden Preis vor seiner Frau, die er liebt, verbergen wollte. Er ist der Typ eines modernen Verbrechers, der ein freundliches Familien- und ein dunkles Verbrecherleben führt, eines dieser schlauen kaltblütigen Individuen, die eine große Gefahr für den Staat sind. Mit großer Geschicklichkeit versucht er jetzt zu retten, was noch zu retten ist. Es paßte ihm nicht, daß der leichtsinnige Charlie sich herumtrieb, Charlie konnte ihn leicht in Gefahr bringen, und da sich ein Ausweg bot, ihn los zu werden, benutzte er ihn gern. Er hat ohne Zweifel in Gemeinschaft mit Kameraden das Verbrechen in der Bibliothek begangen. Eine ganz zufällige Spur hat die Polizei zu der idyllischen Villa hingeführt.)

III. Charlie Whist, Bruder von II, Sohn des Wirtes ›Zum vergoldeten Pfau‹. Ein leicht zu durchschauendes Subjekt, das eine untergeordnete Rolle spielt. Er wurde gestern aus dem Gefängnis entlassen, wo er seine erste Strafe abgesessen hatte und wandte sich an die Schwester, statt an den Vater, dem er nicht unter die Augen zu treten wagte. Als er nachts von Singer das Reisegeld erhielt, bekam er gleich den Verdacht, daß ein armer Arbeiter nicht ohne weiteres über solche große Summe verfügen könne. Und als die Polizei morgens auftauchte, schleuderte er das Geld fort, weil er nicht abermals in die Krallen des Gerichts geraten wollte. (Kellers private Anmerkung: Charlies Darstellung ist Punkt für Punkt durch Nachforschungen bestätigt worden. Er hatte einen Platz an Bord des Dampfers ›Argo‹ genommen, der um neun Uhr nach Argentinien abgehen sollte und auch abgegangen ist. Die Ereignisse haben ihn zum Aufschub seiner Reise gezwungen.)«

»Das ist alles,« sagte Keller.

»Viel ist es ja nicht, dennoch übernehme ich es, auf Grund dieser flüchtigen Angaben, Arnold Singers Teilnahme an dem Verbrechen festzustellen. Jetzt gilt es nur noch, seiner Mitschuldigen habhaft zu werden. Und es scheint fast, als ob Sie bereits den einen aufgespürt hätten. Lassen Sie hören.«

Krag hatte keine Aufzeichnungen gemacht, halb scherzhaft aber ging er mündlich auf Kellers Protokollstil ein.

Er sagte:

»Römische Ziffer IV, Hans Christian Andersen, Leichtmatrose, auf dem Segler ›Eddystone‹, Besitzer dieses Halstuches in leuchtenden spanischen Farben, das in der Bibliothek gefunden worden ist. Hat auf Grund desselben zweifellos an dem Überfall auf Abbé Montrose teilgenommen. Bekam gestern morgen Landurlaub, hat sich später nicht wieder an Bord gezeigt. Als der Kapitän erfuhr, daß die Polizei gern Hans Christians habhaft werden wollte, antwortete er, das wolle auch er lieber wie gern. Es zeigt sich nämlich, daß der Matrose alle Wertgegenstände des Kapitäns mitgenommen hat. Er ist mit anderen Worten durchgebrannt, und muß überall anders als an Bord der ›Eddystone‹ gesucht werden.

Hier können Sie,« fuhr der Detektiv fort, »als private Anmerkung von Krag hinzufügen: Diese Flucht beweist, daß das Verbrechen in der Bibliothek des Abbés bereits längere Zeit geplant war. Daß dieser Plan aber auf einen Matrosen an Bord eines Schiffes, das gerade von einer langen Reise zurückgekehrt war, zurückzuführen ist, macht die Sache noch rätselhafter.«

Keller stieß einen Fluch aus.

»Einen durchgebrannten Matrosen in dem überfüllten Hafenviertel aufzuspüren,« sagte er, »heißt dasselbe, wie eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen.«

Krag wiegte sich auf seinem Stuhl hin und her; wie ein Amerikaner hatte er die Beine auf den Tisch gelegt. Er antwortete geistesabwesend, als ob seine Gedanken ganz irgendwo anders seien.

»Mir könnte es nie einfallen,« sagte er, »eine Nadel in einem Heuhaufen zu suchen. Dieser ewige Heuhaufen ist ein schlechtes Beispiel für die Schwierigkeiten bei Nachforschungen. Wer eine Nadel in einem Heuhaufen sucht, muß verrückt sein. Das Sprichwort kann also nur von den trüben Erfahrungen eines Verrückten herrühren.«

Was Keller auf diese Bemerkung erwidern wollte, erfuhr die Welt niemals. Denn in diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und eine Mannsperson kam wie ein Dieb hereingeschlichen. Er blickte sich scheu um, als ob er sich verfolgt glaubte und schloß darauf vorsichtig die Tür.

»Entschuldigen Sie,« sagte diese Mannsperson, »entschuldigen Sie, daß ich auf diese Weise hierherkomme, aber ich fürchte, daß ich meinen Platz verlieren könnte.«

»Ich glaube, er ist verrückt,« meinte Keller.

»Vielleicht kommt er geradewegs aus dem Heuhaufen,« sagte Krag.

»Ich verstehe Sie nicht, meine Herren,« lispelte die Mannsperson verschüchtert, »aber ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen. Ich habe Abbé Montrose gesehen.«

»Das haben noch andere außer Ihnen,« antwortete Keller, »aber seit heute nacht um drei Uhr ist der Abbé verschwunden.«

Die Mannsperson antwortete:

»Ich aber habe Abbé Montrose heute morgen um sechs Uhr gesehen, als er von einer weiten Reise kam.«


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