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XXXII. Arnold Singers Bekenntnis I.

Der sonst so robuste und ruhige Polizeibeamte Keller konnte nicht verhehlen, daß er ebenso verwirrt wie aufgebracht war über das, was er während der letzten Stunde in der Gefängniszelle Nummer 42 gehört hatte. Es stimmte so wenig mit dem überein, was er erwartet hatte. Er und Asbjörn Krag befanden sich allein im Kontor, als er Arnold Singers Bekenntnis zusammenfaßte, indem er teils aus seinen Aufzeichnungen vorlas, teils das Gehörte nach dem Gedächtnis wiederholte. Es war in Krags Kontor, wo sie ganz ungestört bleiben konnten; die gelben Gardinen waren zugezogen. Durch die dicken Mauern des Polizeigebäudes hörten sie wie Wogenbrausen gegen ferne Ufer, den Lärm der abendlichen Stadt. Der Lärm war nicht größer, als daß sie den tönenden, metallischen Laut der Gasflammen über ihren Köpfen hören konnten.

»Seit mehreren Tagen habe ich keine Nahrung zu mir genommen,« so begann Arnold Singers Bekenntnis. »Und mit außerordentlicher Befriedigung merke ich, wie der Hunger meinen physischen Zustand schwächt. Nach und nach versinke ich in einen Traumzustand, der schließlich meinen ganzen Körper betäuben wird. Schon fühle ich die Schwere meiner Glieder. Wenn ich meinen Arm hebe, kann ich als Folge meiner Ermattung das Gewicht der Hand feststellen, denn sie senkt sich unfreiwillig im Handgelenk, und meine eigenen Finger erscheinen mir blaß und fremd. Es ist, als ob ich meine Adern geöffnet hätte und die Lebenskraft sich langsam in ein Gefäß ergießt. Ich sehe bereits den Augenblick vor mir, wo die Kraftlosigkeit, der völlige Mangel an gesunder Schwere meinem Dasein etwas ungewohnt Leichtes und Schwebendes verleiht.

Es ist kein Hungerstreik, mein Herr, meine vollständige Passivität ist nicht eingetreten, weil ich etwas erreichen oder gegen etwas protestieren will. Außer meinem eigenen seelischen Dasein interessiert mich nichts mehr, ich will einen bestimmten Zustand bei mir selbst hervorbringen, das ist alles. Ich bin im Begriff, meine Bilanz zu ziehen. Ich will die tiefsten Beweggründe zu meinen Handlungen suchen, ich will zu den Empfindungen zurückkehren, die meinen Willen ursprünglich in Fesseln geschlagen haben. Da ich mich jetzt am Schluß meiner Abrechnung befinde, befriedigt es mich nicht mehr, nur festzustellen, daß ich so und so gehandelt, diese und jene Missetaten begangen habe, nein, ich suche auch eine Antwort auf dieses furchtbare Warum, das unerbittlich und sphinxgleich das Leben der Unglücklichen verfolgt. Ich glaube, daß die Antwort mich schließlich erreichen wird, nicht in Form von Worten oder direkten Kundgebungen, sondern wie eine schwache, aber überzeugende Empfindung und Ahnung; ich werde sicher ein Verständnis erleben, das wie eine durchdringende Brise von den äußersten Grenzen des Daseins zu mir kommen wird. Ich bereite jetzt die Empfindsamkeit meines Gemütes vor. Ich will mich selbst an die Grenze der menschlichen Auflösung bringen, damit der Geist frei gemacht und empfänglich wird. Ich habe die Qual des Hungers gewählt.

Es gibt noch andere Tore, die zu der seltsamen Unwirklichkeit führen, wo die Seele Ahnungen, Offenbarungen, Düfte, Töne auffängt, die uns sonst nicht erreichen können. Wir haben das Tor des Fiebers, wo die Seele vom Körper losgerissen, klar denkend und im höchsten Grade empfänglich für alle unbestimmte Eindrücke auf die dunklen Regionen des Todes zuschwebt. Wir haben auch das Tor der unerhörten Kälte: Ich aber habe den Hunger gewählt.

Ich wollte mit Ihnen allein sein, nicht, weil Sie mir lieber sind als ein anderer, sondern weil Ihr ganz alltägliches Aussehen ermattend und beruhigend auf mich wirkt. Ihre Anwesenheit ist mir erwünscht, damit ich nicht gezwungen bin, ein Selbstgespräch zu führen, was nur zur Folge hätte, daß meine eigene Stimme mich irritieren würde. Ich bin also im Begriff zu bekennen, und ich will es in einem Gemütszustand und in einer Form tun, die gleichzeitig meine Wißbegierde über mich selbst befriedigt. Denn nicht nur für die Polizei ist der Verbrecher ein Rätsel, er ist es oft in noch größerem Maße für sich selbst. Von materiellen Mühen des Lebens befreit, will ich meine eigenen Handlungen kritisch betrachten, während meine Denkfähigkeit krankhaft visionär, aber klar ist; wie bei einem Menschen, der angesichts des Todes alle Ereignisse seines Lebens in wenigen Minuten durchlebt, will ich versuchen, die innersten Beweggründe zu verstehen. Darum kann ich mein Mordbekenntnis nicht vor der Schranke in einem Gerichtssaal ablegen. Ich sehe nicht mehr die faktische Struktur der Mordtat. Mein Gemüt hat bereits in seiner überirdischen Schwärmerei die eigentliche Seele des Mordes abgetan, den bebenden Schreck, der der Tat vorangeht, die unsagbare Angst des Augenblickes, die furchtbare nachfolgende Stille.

Wie deutlich erinnere ich mich an alles, wenn ich die Augen schließe ... oh, dieser Duft von Frühling und Apfelblüte; es war im Frühling, als es geschah.«

»Stellen Sie sich ein Haus vor,« so lautete Arnold Singers seltsames Bekenntnis weiter, »stellen Sie sich ein gewöhnliches Haus aus gelbem Sandstein vor. Es liegt am Ausläufer einer kleinen Stadt und es ist ein Abend Ende Mai. Ich werde die Umgebung später noch näher beschreiben, denn augenblicklich fühle ich nichts anderes, als die Stimmung, die die Stille des Abends in mir auslöste, die Bäume, die unbeweglich und hochragend die Villa flankierten, die Luft, die sich frühlingsherb am Himmelsrand vertiefte, grün und klar wie Rheinwein. Die Sonne war im Westen untergegangen, noch aber ruhte ihr Glanz auf dem oberen Teil des Waldes. Während ich stand und wartete, konnte ich den weichenden Tag in dem wechselnden Lichtspiel auf den Baumkronen verfolgen. Wie goldenes, glitzerndes Spinngewebe lagen die Strahlen zwischen dem Laub, wo sie wundersame, kupferglänzende Grotten bildeten. Fast unmerklich hob der Lichtstreifen sich, um schließlich auch von den obersten Baumwipfeln zu weichen. Der Garten wurde dunkler. Die Dämmerung heftete sich auf die Bäume und ließ mit ihrer Kühle das Laub erbeben, oder war es nur mein Herz, das in Angst und Ahnung erbebte?

Gibt es etwas Friedlicheres als solch kleines Haus vor der Stadt, auf der Grenze zum Lande mit Feldern und Wäldern? Anspruchsloser aber deutlicher als ein Haus in einer großen Stadt, drückt es die friedlichen Beschäftigungen des Alltagslebens aus. Tagsüber liegt es sonnenbeschienen und warm da, mit weißen, freundlichen Gardinen, die in den offenen Fenstern flattern. Eine Dame in einem hellen Sommerkleid kommt langsam und sorglos vor sich hinsummend, die Treppe hinab, um einige schöne Blumen im Garten abzuschneiden. Ein Kind spielt mit einem Hund. Ein Mann nimmt auf dem Balkon im Schatten einer rot- und weißgestreiften Markise Platz und entfaltet eine Zeitung. Gedämpfte Klaviertöne aus dem Innern des Hauses, losgerissene alltägliche Worte, die deutlich auf der staubweißen Landstraße zu hören sind, die Landstraße selbst, mit den Spuren von Fahrrädern und Milchwagen, der Rauch, der aus dem Schornstein steigt, die Telephondrähte, die in die gelbe Mauer führen, das Staket um den Garten mit den gleichmäßigen Pfählen und der kunstfertig gearbeiteten Tür, der Laut von Schritten auf der Steintreppe, der Klang der Mittagsglocke, der durch die offenen Fenster dringt, ist das alles nicht ein Ausdruck für das friedliche Leben der Menschen, für das Ewige und Unerschütterliche, das sich Familie nennt, für den Begriff Tag um Tag, Jahr um Jahr? ... Dann kommt der Abend, die Menschen im Hause gehen zur Ruhe. Die Fenster werden dunkel und das ganze Haus bekommt diesen schlafenden Ausdruck, den Häuser in stillen Sommernächten zu haben pflegen, wenn sie auf ihren dumpfen Schlagschatten ruhen. Ein Hund bellt, ein Wagen fährt ratternd vorbei, das Haus aber schlummert in ungestörter Ruhe. Solch einem Haus kann man von außen ansehen, daß es Menschen beherbergt, die keine Gefahr fürchten, Menschen, deren Herzen durch keine Gefahr schneller klopfen. Plötzlich aber geschieht es in einer Nacht, wenn alles ganz still ist, daß das Haus lautlos sein Aussehen verändert. Wie solch schwarze Fenster plötzlich erschreckt blicken können, wenn der Mörder aus dem Schatten des höchsten Baumes über das Staket steigt, der Mörder, mein Herr, der kein Mensch mehr ist, sondern ein lebendes Wesen, fern von aller Unschuld des Kindes, in dem sich alles menschliche Entsetzen und der primitive Schreck aller Zeiten vereinigt.«


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