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XXX.

»Was das Telegramm bedeutet, weiß ich nicht,« sagte der Förster, »aber es ist klar, daß wir auf der richtigen Spur sind.«

»Plötzlich ist ein neuer Mann aufgetaucht,« sagte Arvidson, »das ist alles, was ich vorläufig weiß. Seinen Namen habe ich noch nie gehört, jedenfalls nicht in Verbindung mit dieser Sache. Das Telegramm ist gestern morgen aus Kopenhagen abgesandt. Zu dieser Zeit mußte Hengler also noch in Kopenhagen gewesen sein. Das aber stimmt wiederum nicht mit Rists telegraphischer Nachricht überein, daß Hengler gestern abend abgereist ist.«

»Das ist nicht entscheidend,« sagte der Förster, »jemand anderes kann für Hengler das Telegramm abgesandt haben, zum Beispiel ein Portier. Was aber bedeutet die Zahl 400?«

»Das mag eine Chiffre sein,« antwortete Arvidson. »Vorläufig aber haben wir also eine Verbindung zwischen Hengler und dem Botaniker festgestellt. Und bereits früher haben wir eine Verbindung zwischen Hengler und Marienburg und zwischen Hengler und dem alten Baron Milde konstatiert.«

»Wissen Sie was?« sagte der Förster und seine Augen blitzten eifrig, »ich glaube fast, es besteht eine Verbindung zwischen Dr. Howard und dem nächtlichen Besucher auf Marienburg. Mögen deine naiven Gutsangestellten auch noch so viel von Geistern fabeln. Ich habe den Mann mit eigenen Augen im Fenster stehen sehen und seine Schritte im Zimmer gehört. Ich weiß, daß er existiert, und daß er da war. In weitem Umkreis gibt es hier in der Gegend keinen anderen Fremden als diesen Botaniker. Der Mann tritt mit großer Geheimnistuerei auf. Heute nacht ist er nicht nach Hause gekommen. Es ist nicht unmöglich, daß der Botaniker und der Gast auf Marienburg ein und dieselbe Person sind.«

»Gesetzt den Fall, es wäre so,« sagte der Professor, »dann könnte man sich denken, daß Dr. Howard und Hengler ein Komplott gebildet haben, um die Sammlungen in den verschlossenen Zimmern zu bestehlen. Wie aber kann man einem berühmten Kunsthändler wie Hengler solchen Streich zutrauen?«

»Vielleicht handelt es sich gar nicht um einen Diebstahl,« behauptete der Förster eigensinnig, »es mag auch etwas ganz anderes sein. Diese ganze Angelegenheit ist ja von Anfang bis Ende so voller Geheimnisse, daß sogar du mit deinen logischen Schlüssen sie nicht durchdringen kannst.«

Darauf antwortete der Professor nicht gleich. Er blickte sich im Zimmer um, als ob er aus den hinterlassenen Sachen des Gastes eine Lösung finden wollte. Dann sagte er zum Förster: »Ich finde, daß die Gefahr, der dieser Mensch sich aussetzt, zu groß ist, im Verhältnis zu dem, was er erreichen kann. Es ist doch der reine Zufall, daß man ihn noch nicht als Dieb gefaßt hat. Und das Risiko ist sogar noch größer gewesen. Denn, antworte mir, lieber Freund, hättest du dich bedacht, eine Kugel hinter ihm herzusenden, wenn du ihn aus einem der Zimmer hättest fliehen sehen?«

»Wahrlich nicht,« antwortete der Förster ernst.

»Und weiter,« wandte der Professor ein, »in den drei Zimmern sah es nicht aus, als ob dort ein Dieb gehaust hätte.«

»Darum kann doch ein Dieb dort gewesen sein. Denn wir wissen ja nicht, welche Sachen der alte Baron dort aufbewahrt hat.«

»Nach unserer eingehenden Untersuchung schien nichts angerührt worden zu sein. Ein Einbrecher würde zum Beispiel den alten Schrank mit den goldenen Schmuckstücken nicht unberührt gelassen haben.«

»Ich meine auch nicht, daß es ein gewöhnlicher Dieb war, ich versuche nur den Lebenden, Dr. Howard, mit dem dummen Geist des Verwalters zu identifizieren.«

Professor Arvidson fuhr fort, als ob er mit sich selbst spräche: »Außerdem. Wer ist dieser Howard. Ein Fremder, der in der Gegend ganz unbekannt ist. Wohingegen der geheimnisvolle Gast auf Marienburg eine eingehende Bekanntschaft mit dem alten Schloß verrät. Er kennt Wege und Schlupfwinkel, die jedenfalls uns unbekannt sind. Und glaubst du wirklich, daß ein gewöhnlicher Einbruchsdieb sich im vollen Mondlicht ans Fenster stellen würde, um in einem alten Buch zu lesen. Es ist das Seltsame bei dieser Sache: jedesmal, wenn sich etwas Neues ereignet, stimmt es nicht mit dem übrigen zusammen, es macht sich ohne Zusammenhang und ohne Sinn breit. Das ärgert mich!«

»Und dennoch wird das Ganze sicher eine einfache Erklärung haben, wenn man nur die Ursache findet. Ob wir sie vielleicht finden können, wenn wir diesen Fremden persönlich kennenlernen. Ich nehme an, daß er, ebenso wie wir, die ganze Nacht aufgewesen ist, und wir können wohl voraussetzen, daß er sein Zimmer über kurz oder lang aufsuchen wird. Offenbar meint er, keinen Grund zu haben, etwas zu verbergen, alles liegt offen herum. Lieber Freund, uns tut Ruhe not. Wir gehen zur Försterei zurück, und währenddessen wird der Fremde sicher früher oder später zu seinem Zimmer zurückkehren. Vater Abraham kann uns Bescheid zukommen lassen.«

Vater Abraham, der bei der Nennung von Einbruch und Diebstahl ganz unruhig geworden war, gab brummend seine Zustimmung. Er würde ihnen mitteilen, wenn der Gast zurückgekehrt sei. Darauf gingen die beiden Freunde nach Haus. Beide waren müde nach der Aufregung der Nacht, und außerdem war es jetzt warm geworden. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel herab.

In der Försterei aber schien der Tag noch nicht begonnen zu haben. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch auf, der Hof lag friedlich schlafend in seinem Garten, mit hellem Vogelgezwitscher ringsherum.

Als sie durch die Gartentür traten, lag die breite Veranda gerade vor ihnen. Die Türen zum Hause waren geschlossen, auf der Veranda aber stand der Tisch noch vom vorhergehenden Abend gedeckt, mit einer bunten Decke und Korbstühle ringsherum. Zu gleicher Zeit sahen beide Freunde, daß ein Mensch in einem der Korbstühle saß. Eine ganz zusammengesunkene Gestalt, die die Beine weit von sich gestreckt hatte. Die Hände hingen schlaff herab, sie waren ganz weiß. Sein Gesicht konnte man nicht sehen, denn der Kopf war tief zur Brust geneigt und von einem großen, weißen Strohhut bedeckt, größer als ein Panamahut, so einer, wie französische Arbeiter sie in den Weinbergen gebrauchen. An einem Riemen über der Schulter trug er eine grüne Botanisiertrommel.

Dr. Howard!

Die beiden Freunde blieben bei dem unerwarteten Anblick verblüfft stehen. Der Mann im Stuhl rührte sich nicht.

»Er schläft,« flüsterte der Förster, »er hat auf uns gewartet und ist eingeschlafen.«

»Diese Stellung,« murmelte Professor Arvidson.

»Was meinst du?«

»Ich meine die Stellung des Mannes ...«

Arvidson strich sich nervös mit der Hand über die Stirn, um seine Gedanken zu sammeln, sich zu beruhigen. Seine Hände zitterten.

»Genau so saß auch der alte Milde in seinem Stuhl, als wir ihn nach dem Mord fanden,« murmelte er.

Darauf antwortete der Förster nichts, aber er ging raschen Schrittes zur Veranda und beugte sich über den Mann im Stuhl. Darauf winkte er dem Professor.

»Er schläft nur,« sagte er, »er ist nicht tot.«

Er legte die Hand fest auf die Schulter des Schlafenden und rief: »Mein Herr!«

Der Fremde aber schlief so fest, daß der Förster ihn ein paarmal tüchtig rütteln mußte. Endlich erwachte er und hob langsam den Kopf. Der breitrandige Hut fiel auf den Boden. Plötzlich schlug der Fremde die Augen auf und war sofort ganz wach. Als er der beiden Männer ansichtig wurde, lächelte er auf eine seltsam sarkastische Weise. Arvidson und der Förster standen in äußerster Verblüfftheit vor ihm.

Der Mann im Stuhl war Torben Milde.

Mit Mühe konnte der Förster hervorstammeln: »Dr. Howard ... Dr. Howard ...«

»Bin ich auch,« antwortete der Sohn des Ermordeten, »und ich wohne in Vater Abrahams Wirtshaus.«


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