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V.

Es war einige Tage später im Privatkontor des Chefs der Detektivabteilung, abends gegen neun Uhr. Der bekannte Polizeimann wiegte sich in seinem amerikanischen Schreibtischstuhl. Der Schreibtisch mit der roten Löschpapierunterlage lag in dem blendenden Lichtkreis der Schreibtischlampe, der Chef aber saß im Schatten des grünen Schirmes. Vor ihm, den Arm auf den Tisch gestützt, saß Professor Arvidson. Die beiden Herren hatten ein eifriges Gespräch geführt, waren aber jetzt zu dem Punkt gelangt, wo die Pausen unwillkürlich länger werden, weil die ausgetauschten Meinungen beide zum Nachdenken angeregt hatten. Der Nervenarzt trommelte nervös auf der Tischplatte, und der Polizeichef spielte mit einem Papiermesser aus Elfenbein. Sonst war es ganz still in dem großen, hohen Raum. Das Telephon stand stumm auf einem kleinen Tisch neben dem Chef, als ob es mit seinen vielen Lauschfäden wartete.

»Sie sind wohl froh, daß die Sache so wenig in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist?« nahm Arvidson das Gespräch wieder auf.

»Allerdings. Denn das erleichtert uns die Sache sehr,« bestätigte der Polizeibeamte.

»Die öffentliche Meinung scheint sich mit der Annahme eines Selbstmordes zufrieden zu geben. Für den großen Haufen ist ja auch der Selbstmord einer vornehmen Persönlichkeit schon Sensation genug. Als ich Sie an jenem Vormittag in Mildes Wohnung rief, glaubten ja auch Sie zuerst an Selbstmord.«

»Ja.«

»Und jetzt?«

»Jetzt bin ich überzeugt, daß Herr von Milde ermordet worden ist.«

»Und beraubt?«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Aber der Mörder? Wo finden wir den Mörder?«

Der Polizeibeamte sprang erregt vom Stuhl auf und ging ein paarmal durchs Zimmer.

»Drei Tage und Nächte sind schon vergangen. Das sind viele Stunden. Und es können noch viele Stunden vergehen. Kopenhagen ist eine große Stadt.«

Plötzlich blieb er stehen und zeigte auf seine drei Telephone: »Ich warte auf ein bestimmtes Signal,« sagte er. »Augenblicklich kann ich nichts unternehmen, weil schon alles in Bewegung gesetzt worden ist. Wenn ich persönlich eingriffe, würde es nur störend wirken. Hinter diesen Telephonen aber, mein lieber Professor, arbeiten alle meine Detektive, fieberhaft, ohne Rast. Ueber die ganze Stadt habe ich sie verteilt. Mir ist, als ob ich sähe, wie sie aus merkwürdigen Schlupfwinkeln kommen, sich auf ihre Räder schwingen und durch die Straßen sausen. Hat einer von ihnen das Gewisse, was ich suche und was sich in dieser Stadt befinden muß, gefunden, dann geht mir wenige Minuten später ein Signal durch eines dieser Telephone zu. Dann ist meine Zeit, einzugreifen, gekommen. Bis dahin aber muß ich warten. Ach ja, warten ... Eine Zigarre, Herr Professor, falls Sie so spät noch schwere Zigarren rauchen? Bei mir ist es eine schlechte Angewohnheit.«

Kurz darauf wirbelte der blaue Zigarrenrauch durch das weiße Lampenlicht. Der Professor blickte nachdenklich dem Rauch nach.

»Ich kann nicht loskommen von dieser Sache,« sagte er, »sie plagt mich bei meiner Arbeit, sie stört meine Nachtruhe. Anscheinend liegt der Fall ja ganz einfach; wenn ich aber die verschiedenen Umstände miteinander vergleiche, fehlt mir jeder Zusammenhang. Sie müssen entschuldigen, Herr Detektivchef, daß ich jetzt schon zum zweitenmal zu Ihnen komme und Sie mit einem Gespräch plage. Ich bin für Sie doch eigentlich nichts weiter als ein Privatmann, der sich gar nicht in die Sache zu mischen hat.«

Der Polizeibeamte lächelte beruhigend. »Vor allen Dingen sind Sie ja ein Freund des unglücklichen Mannes. Außerdem ist Ihre eingehende Analyse mir von großem Nutzen gewesen. Es ist mir wirklich sehr wertvoll, mit Ihnen zu sprechen.«

Professor Arvidson stützte den Kopf in seine Hand. Und als ob er mit sich selbst spräche, fuhr er halblaut und sinnend fort: »So weit stimmt alles. Der Mörder hat die Umgebung sehr genau studiert. Wahrscheinlich hatte er gar nicht mit der Anwesenheit des Barons gerechnet, sondern vorausgesetzt, daß Milde auf Marienburg sei und die Wohnung leer stünde. Sicher hat er auch gewußt, daß der schwachsinnige Diener unten bei der Mutter schlief. Das alles war wie geschaffen für einen Einbruch, den man in größter Ruhe vornehmen konnte. Auch die Möglichkeiten des Gartens hat er richtig ausgenutzt, hat sich falsche Schlüssel verschafft, wahrscheinlich hat er ein ganzes Bund davon gehabt. Von der stillen, fast immer menschenleeren Seitenstraße hat er sich durch die kleine Tür in der Mauer in den Garten geschlichen. Seine Spuren hat man ja gefunden, nicht wahr?«

»Ja.«

»Darauf ist er die Verandatreppe hinaufgestiegen, hat die Verandatür aufgeschlossen und ist in Mildes Arbeitszimmer gekommen, das er leer zu finden meinte. Statt dessen wird er von der Anwesenheit des Barons überrascht, und um Alarm zu verhindern, schießt er Milde nieder und flieht.«

»Ja, so könnte es zugegangen sein,« sagte der Polizeibeamte, »und doch stimmt die Sache nicht.«

»Nein, nein,« rief Arvidson, »das ist es ja eben, der Zusammenhang fehlt. Der Dieb hat vom Garten aus das Licht in Mildes Arbeitszimmer sehen müssen, vielleicht auch den Schatten des Barons, was ihn aber offenbar nicht abgeschreckt hat.«

»Und das ist noch nicht das Merkwürdigste.«

»Nein, das Sonderbare ist, daß Milde offenbar durch diesen nächtlichen Besuch gar nicht überrascht worden ist. Hat er ihn vielleicht sogar erwartet? In diesem Falle ist es kein gewöhnlicher Einbrecher gewesen. Warum aber schlich sich dieser Mensch dann auf solch verbrecherische Weise in die Wohnung? Nichts anderes fehlt, als die englischen Pfunde, die Milde sich am selben Tage in Guggenheims Bank geholt hatte. Kann man davon ausgehen, daß der Verbrecher von dieser Angelegenheit gewußt hat? Was meinen Sie, Herr Detektivchef?«

»Es ist nicht unmöglich.«

»Wie aber kann ein gewöhnlicher Dieb von solchem Umstand Kenntnis gehabt haben? Sollte es eine geheime Geldtransaktion gewesen sein?«

»Was sagt Guggenheim von diesen Hunderttausend?«

»Er weiß nur, daß Milde sie an jenem Tage offenbar nötig hatte.«

»Wozu wollte er solch große Summe gebrauchen?«

»Ja, wozu, wozu? Das ahnt niemand. Keiner außer Milde hat es gewußt.«

»Wahrscheinlich doch noch ein andrer.«

Arvidson warf einen fragenden Blick auf den Polizeibeamten.

»Ich meine, jener Mann, der sich an dem Abend durch den Garten schlich.«

Die beiden Herren sahen einander einen Augenblick wie erschrocken an.

»Kannten Sie Milde?« fragte Arvidson.

»Flüchtig. Ein vollendeter Kavalier. Und gleichzeitig ein ganz alltäglicher Mensch, dessen Leben ohne Sensationen war.«

Professor Arvidson nickte zustimmend. Nach einer Weile sagte er: »Vielleicht müssen wir den Täter in anderen Kreisen suchen als in gewöhnlichen Verbrecherkreisen. Obgleich dies wiederum nicht mit Ihrer Theorie über den Revolver übereinstimmt.«

»Er ist ja mit dem Revolver, der auf dem Teppich lag, erschossen worden, nicht wahr?« fragte der Detektivchef.

»Allerdings,« antwortete Arvidson, »nach dem offiziellen Aerztegutachten kann darüber kein Zweifel herrschen.«

»Somit verkörpert der Revolver die einzige Spur, die wir haben. Das einzige, was uns auf den Weg zum Verbrecher führen kann. Und wie Sie wissen, ist es uns gelungen, festzustellen, woher der Revolver stammt.«

»Von dem Einbruch, der vor vierzehn Tagen im Leihamt stattgefunden hat.«

»Jawohl. Und die Diebe hatten Einbrechergerätschaften verwendet, wie man sie nur bei hochentwickelten, internationalen Verbrechern findet. Es ist ein ganz ungewöhnlich günstiger Zufall, daß der Besitzer der Waffe den Revolver an der kleinen eingelegten Silberplatte wiedererkennen konnte. Glückt es uns, diese Diebesbande zu fassen, dann sind wir Mildes Mörder nicht mehr fern.«

Arvidson erhob sich, um zu gehen. Er machte einen recht ratlosen und entmutigten Eindruck.

»Ich sehe trotzdem keinen Zusammenhang,« sagte er, »wenn Baron Milde den Mann erwartet hat, dann konnte es unmöglich ein gewöhnlicher Einbrecher sein! Und hat er ihn nicht erwartet, warum sitzt er dann da, nichtsahnend wie ein Kind, und läßt sich erschießen? – Leben Sie wohl, lieber Herr Detektivchef, ich fürchte, daß die Grübeleien über diesen Mord mir auch heute nacht keine Ruhe gönnen werden.«

Im selben Augenblick läutete eines der Telephone.

»Warten Sie noch einen Augenblick,« sagte der Chef der Detektei.


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