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XXV.

Der Professor und sein Freund warteten noch eine Stunde, bevor sie aufbrachen. Inzwischen war der Mond aufgegangen und der Wald lag in Licht gebadet. Unter den Bäumen zu gehen, war, als ob man in einem Märchengarten wandelte oder auf dem Grunde eines seltsam leuchtenden Meeres. Es war ganz windstill, der weiße Wald stand ganz unbeweglich, und diese geisterhafte Stille und die regungslosen Pflanzen und Bäume in der mysteriösen Beleuchtung verstärkten noch den Eindruck von Unwirklichkeit und Traum. Die beiden Männer fühlten sich von der eigenartigen Schönheit des Abends ergriffen, während sie längs des Waldpfades schritten. Sie sprachen nur wenig, damit nicht das Geräusch ihrer Stimmen die Stimmung störe.

Die Freunde hatten einen Richtweg durch den Wald eingeschlagen; nachdem sie ungefähr zwanzig Minuten gegangen waren, kreuzte der Weg die Landstraße – und führte dann gleich auf der anderen Seite wieder in den Wald hinein. Von der Landstraße aus konnte man den Turm von Marienburg über den Baumwipfeln sehen. Und just an der Wegkreuzung lag ein Wirtshaus, ein altes, strohgedecktes Haus mit kleinen Fenstern, so ein weltentlegenes, trauliches Wirtshaus, wie man es bisweilen noch in Dänemark finden kann. Das Dörumer Wirtshaus hatte hier sicher seit Jahrhunderten gelegen. Alles war alt und echt daran; das Wirtshaus lag auf dem Gebiet des Marienburger Majorates, und mit der Pacht war die Klausel verbunden, daß nichts an dem Wirtshaus verändert werden durfte. Der Wirt hatte dies so buchstäblich genommen, daß man im Dörumer Krug noch auf Zinntellern aß und in der niedrigen, verräucherten Wirtsstube sitzen und das Feuer festlich in der Küche flammen sehen konnte, wo die Spieße gewendet wurden. Ueber der Wirtsstube lagen drei oder vier Fremdenzimmer, wo müde Reisende Nachtquartier in großen Himmelbetten bekommen konnten.

Vor dem Wirtshaus machten die beiden Freunde halt, schlugen mit dem Türhammer kräftig gegen die Tür und warteten. Die Fensterläden waren bereits geschlossen, durch die Spalten aber sickerte warmes, rotes Licht aus der Wirtsstube. Beim Licht des romantischen Mondscheines meinte man sich in ein fernes Jahrhundert versetzt. Es fehlte nur Hufschlag in der Nacht, um die Vorstellung von mittelalterlichen Zeiten vollständig zu machen, wenn Reisende im Dörumer Krug einkehrten, um sich nach dem anstrengenden Ritt des Tages bei einem Glase guten Rheinweines oder Lübecker Mumme zu stärken.

Jetzt wurde die Tür geöffnet, und in der Türöffnung zeigte sich der Wirt, seine Gäste kritisch musternd. Der Krugwirt, Vater Abraham, wie er genannt zu werden wünschte, war selbst wie ein Museumsgegenstand. Er besaß die imponierenden Dimensionen, ohne die man sich einen Wirt früherer Zeiten schwer vorstellen kann; über seinem Bauch wölbte sich ein Schoßleder, das die Flecke eines ganzen Menschenlebens aufwies, und an einem dicken Lederriemen um den Leib hing ein rasselndes Schlüsselbund. Es war Vater Abrahams großer Kummer, daß seine Sehkraft in den letzten Jahren so schlecht geworden war, nicht weil ihm am Sehen viel lag, in seinem Wirtshaus konnte er alles im Dunkeln finden, sondern weil er eine blaue Brille tragen mußte, und er fand, daß eine blaue Brille schlecht zu dem Jahrhundert paßte, dem er angehörte. Seine Augen schmerzten bei Licht, und darum hatte er Watte rings um die Brillengläser befestigt. Dies alles machte ihn zu einer höchst seltsamen Erscheinung. Professor Arvidson stutzte bei seinem Anblick. In der Wirtsstube waren zur Zeit keine Gäste, mehrere geleerte Seidel aber, die noch nicht vom Tische geräumt waren, verrieten, daß das Wirtshaus kürzlich Besuch gehabt hatte und daß die Gäste fortgegangen waren.

Kaum hatte Vater Abraham den Förster erkannt, als er am Stammtisch Platz machte und drei Seidel Bier holte. Etwas anderes als Bier vom Faß kannte man dort überhaupt nicht. Daß der Wirt ein Glas mittrank, wenn alte Bekannte kamen, war natürlich selbstverständlich. Dann saß man an dem blankgescheuerten, fast kreideweißen Tisch im behaglichen Gespräch, und alle Ereignisse der Gegend wurden besprochen und kritisiert. Pferde- und Viehhandel, Landwirtschaft im allgemeinen, Wind und Wetter und Heiratsgeschichten. Für andere Dinge hatte man nicht viel Interesse, die Ereignisse draußen in der Welt gelangten nur wie vage Gerüchte in das Dörumer Wirtshaus.

»Der Verwalter war hier,« begann Vater Abraham, nachdem das erste halbe Seidel geleert worden war. Es galt für sehr unpassend, begann man das Gespräch, bevor diese notwendige Zeremonie erledigt war. »Der Verwalter« war Verwalter Christensen auf Marienburg. Darauf berichtete Vater Abraham, mit wem der Verwalter zusammengesessen hatte, mit dem Schlachter aus dem Dorf und dem Kaufmann aus Tommerup.

»Hat der Verwalter viel getrunken?« fragte der Förster.

»Nein, ganz mäßig,« antwortete der Wirt.

»Dann hat er wohl den Mund gehalten?«

»So ziemlich. Es war ja ein Fremder dabei.« (Wenn man aus Tommerup war, das nur einige Kilometer entfernt lag, gehörte man nicht mehr zu den Einheimischen.) »So etwas geht ja Fremde nichts an.«

Obgleich es nicht direkt erwähnt wurde, verstand Arvidson doch gleich, wovon der Förster und der Wirt sprachen. Ein Thema, das der geheimnisvollen Welt angehörte und darum mit äußerster Vorsicht behandelt werden mußte.

»Der Verwalter aber war auch heute mittag hier,« fuhr Vater Abraham fort, »und da hab' ich es erfahren.«

Das Gesicht des Wirtes hatte einen Ausdruck von tragischem Ernst.

»'s ist immer so eine eigene Sache mit alten Schlössern,« fuhr er fort. »Denn die Art, wie der Baron ums Leben kam, war doch auch nicht ganz geheuer, Förster, das müssen Sie doch einräumen.«

»Ich bin nicht abergläubisch,« sagte der Förster scharf.

»Nein, nein,« räumte der Wirt sanftmütig ein, »Sie sind ja auch ein studierter Mann, und die Wissenschaft will ja von dergleichen Dingen nichts wissen. Wir ungelehrten Leute aber glauben nicht so recht an die Wissenschaft, von der wir doch nichts verstehen. Wir glauben mehr an das, was wir selbst hören und sehen, und was unsere Vorfahren vor uns gehört und gesehen und an ihre Nachkommen weitererzählt haben. Von Kind an habe ich gehört, daß es auf Schloß Marienburg nicht ganz geheuer sein solle. Lange Zeit ist alles still gewesen, jetzt aber ist es wiedergekommen. Oder glauben Sie vielleicht, daß Menschen aus Fleisch und Blut durch verschlossene Türen gehen können?«

»Unter gewissen Umständen können sie es vielleicht, und jetzt wollen mein Freund und ich mal untersuchen, wie sie es gemacht haben. Doch fürchte ich, daß wir wenig erreichen werden, denn dergleichen Spuk verhält sich meistens still, wenn man aufpaßt.«

Plötzlich fing der Förster von etwas anderem an, indem er wie zufällig fragte: »Wie ich höre, haben Sie einen Gast bekommen?«

»Ja, gestern. Auch ein Gelehrter, ein Botaniker.«

»Wann traf er gestern abend ein?« fragte Professor Arvidson.

»Gegen zehn. Er kam zu Fuß von der Bahn. Ein ordentliches Ende.«

Sune Arvidson rechnete nach und mußte feststellen, daß es unmöglich Hengler sein könne. Denn gestern abend gegen zehn Uhr war er wahrscheinlich noch in Kopenhagen gewesen.

»Kannte er denn den Weg? War er vielleicht schon früher hier?«

»Ich habe ihn hier noch nie gesehen,« antwortete Vater Abraham barsch – »und bei mir bekommt er auch kein Logis wieder. Aber man kann Leuten doch nicht so ohne weiteres die Tür weisen.«

»Macht er keinen guten Eindruck auf Sie?« Vater Abraham schüttelte erbittert den Kopf.

»Ein unangenehmer Patron,« antwortete Vater Abraham; »wissen Sie, was er zu mir sagte, als ich ihm gestern abend eine kleine Unterhaltung vorschlug, so 'ne gemütliche Plauderei, wie wir sie hier im Wirtshaus gewohnt sind: ›Verschonen Sie mich mit Ihrem Geschwätz,‹ sagte er. Ein ungehobelter Kerl. Jetzt ist er fortgegangen, um eine Mondscheinpromenade zu machen, und wenn er bis zwölf Uhr nicht zurückkommt, dann mag er sehen, wo er Unterkunft bekommt, denn zu der Zeit liegen Vater Abraham und ich im Bett.«


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