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X

An und für sich war es ja nicht merkwürdig, daß ein Mensch zu dieser Zeit des Abends aus einem Wohnhaus kam. Sune Arvidson aber war so erstaunt über das Licht im Zimmer des Ermordeten, daß selbst ein so gewöhnlicher Umstand ihn erregte.

Der Mann, der heraustrat, war groß und ebenso wie die beiden Herren mit einem faltigen, fußfreien Regenmantel bekleidet; der Kragen war hochgeschlagen. Auf dem Kopf hatte er einen großen, breitkrempigen Hut. Vor der Tür blieb er einen Augenblick stehen, – offenbar auch überrascht über die zufällige Begegnung. Zögernd, wie zum Gruß, führte er die Hand zum Hut. In derselben Sekunde fiel die Tür hinter ihm mit einem kleinen Knall ins Schloß. Es war unmöglich, sein Gesicht zu erkennen, teils wegen des breiten Hutrandes, teils weil der Abend so dunkel war. Indem der Mann aber die Hand zum Hut führte, bemerkte Sune Arvidson, daß ein Brillantring beim Schein einer entferntstehenden Straßenlaterne blitzte. Einige unverständliche Worte murmelnd, löste der Mann sich von der Gruppe und ging die Straße hinunter.

»Wer war das?« fragte Torben. Er wunderte sich über Professor Arvidsons Interesse.

»Ja, wer war das?« wiederholte der Arzt, indem er einige Schritte hinter dem Mann herging, der sich rasch entfernte. Jetzt sah er deutlich, wie groß und kräftig der Fremde war, seine Schritte hallten auf den Steinen wider. Er ging auf das Auto zu, das etwas weiter fort hielt. Nicht ein einziges Mal blickte er sich um, doch beschleunigte er auch nicht seine Schritte. Er beugte sich über den Chauffeur, gab ihm einen Bescheid und stieg darauf schnell in den Wagen. Der Wagen verschwand um die Ecke in einem Rauch von Benzin.

Torben begann ungeduldig zu werden. »Kannten Sie den Menschen?« fragte er.

»Nein, aber er kam von dort oben,« antwortete Arvidson und zeigte zum Hause hinauf.

Torben duckte sich, als ob ihn in dem dünnen Mantel fror. »Was will das sagen?« meinte er, »es wohnen ja auch noch andere Leute im Hause. Wohnt der Maler zum Beispiel nicht noch da? Es mag einer seiner Freunde gewesen sein, vielleicht selbst ein Künstler. Der große Hut läßt darauf schließen. Kommen Sie endlich mit herauf.«

Arvidson schloß die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Die altmodische, teppichbelegte Treppe mit dem hübschen Geländer wand sich still durch die Stockwerke des Hauses. Ihre Schritte hallten knirschend wider. Der Arzt betrachtete Torben, der etwas scheu und mit einer Miene des Unbehagens seinen Blick mied. Wie sind die Menschen von heutzutage doch gefühllos, dachte Arvidson bei sich. Kommt dieser Mensch unter solchen Umständen in sein Vaterhaus zurück und scheint gar nicht weiter davon berührt zu sein. Oder wollte er seine Gefühle nur nicht verraten und hatte darum diese Miene von Gleichgültigkeit und abweisendem Stolz gewählt? Er eilte die Stufen hinauf. Bei der Tür aber wartete ihrer eine große Ueberraschung.

Die Flurtür stand halb offen, und in der Vorhalle brannte Licht.

Was jetzt kam, ging so schnell, daß ihnen keine Zeit blieb, ein Wort darüber zu wechseln.

Arvidson war der erste, der die Halle betrat. Torben blieb in der Tür stehen, den Hut auf dem Kopf und die Hände in den Taschen. Er blickte sich mit einer ungeduldigen und verärgerten Miene um. Im Zimmer waren noch zwei andere Menschen: die alte Blumenhändlerin Frau Berbom und ihr Sohn Alexander, der Diener. Alexander lag über einen Stuhl gestreckt, in den Händen hielt er eine Portiere, die er im Fall mit sich gerissen hatte; die Stange hing von der Tür herab und drohte herunterzufallen. Alexander lag unbeweglich, auch nachdem die Herren das Zimmer betreten hatten. Sein blasses Gesicht und die weitaufgerissenen Augen leuchteten vor Schreck und Stupidität. Neben ihm stand die Mutter und teilte durch ihr Gebaren der Situation eine gewisse Komik mit: Indem sie sich die Tränen abzuwischen und dem Sohn auf die Beine zu helfen versuchte, machte sie gleichzeitig Anstalten, den heimgekehrten jungen Herrn untertänig zu grüßen. Professor Arvidson packte Alexander am Kragen und stellte ihn mit einem energischen Griff auf den Boden, wo er schwankend stehenblieb.

»Machen Sie Ihren Mund auf!« schrie er ihn an. »Was ist hier geschehen?«

Alexander zeigte auf die offenstehende Flurtür und sagte: »Dort ging er hinaus.«

»Der Mann mit dem Regenmantel und dem großen Hut?« fragte Arvidson.

»Ja.«

»Was wollte er hier?« Arvidson rüttelte Alexander, als ob er ihn aufwecken wollte.

»Ich weiß nicht,« jammerte der erschrockene Diener, »er kam dort aus dem Arbeitszimmer. Ich wollte ihm entgegentreten, er aber schlug mich nieder. Und dann ging er hinaus. Mehr weiß ich wirklich nicht, es ist zu schrecklich!«

Arvidson stand neben der Flurtür auf dem Sprunge, dann aber bedachte er sich. – »Das Auto,« murmelte er, »das Auto – er muß ja schon über alle Berge sein.« Darauf ging er hastig durch die Wohnung bis zum Arbeitszimmer, dessen Doppeltür er mit einem Krach öffnete. Torben folgte ihm, noch immer zögernd und unwillig; auf dem Wege wies er die Begrüßung der alten Dienerin mit Unwillen zurück.

Was hier geschehen war, ließ sich leicht übersetzen. An der einen Wand stand ein alter Dokumentenschrank, eine Prachtarbeit mit eingelegtem Holz aus dem sechzehnten Jahrhundert. Dieser Schrank war geöffnet und der Inhalt durchwühlt worden. Wie Schreibtisch, Geldschrank und andere Gegenstände hier im Zimmer, war er versiegelt gewesen, die Amtssiegel aber waren erbrochen worden und hingen lose am Schloß. Soweit Arvidson bei einem schnellen Ueberblick sehen konnte, waren keine anderen Möbel erbrochen. Alles war in Ordnung und unberührt, wie seit jenem entsetzlichen Vormittag. Arvidson warf einen Blick auf den Stuhl, worin der Tote gesessen hatte, und konnte ein heftiges Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken; auch benahm die alte, eingeschlossene Luft in diesem halbdunklen Sterbezimmer ihm den Atem.

»Ob etwas gestohlen ist?« sagte Torben, indem er einige von den Papieren aus dem Dokumentenschrank nahm. »Was er nur mit diesen alten Papieren wollte?« fügte er hinzu, »alte Privatbriefe, Fideikommisurkunden und Stammtafeln. Hu –« fügte er wie erschauernd hinzu, »diese ewigen Stammtafeln waren das Steckenpferd meines Vaters. Warum der Dieb sich nicht über den Geldschrank hergemacht hat? Der sieht doch viel einladender aus.«

Professor Arvidson wunderte sich immer mehr über die Gleichgültigkeit des Sohnes und antwortete: »Es war vielleicht kein Dieb im gewöhnlichen Sinne. Im übrigen enthalt der Geldschrank auch keine Werte, die sich realisieren lassen.«

»Ob der Halunke sonst etwas mitgenommen hat?«

»Es scheint nicht so.«

»Wie mag er nur hereingekommen sein?«

Arvidson untersuchte die Verandatür. Sie war von innen verschlossen und das Siegel war nicht erbrochen.

»Er ist also durch die Haupttür gekommen,« antwortete er, »und da das Schloß nicht erbrochen ist, muß er einen falschen Schlüssel besitzen. Wir wollen alles stehen und liegen lassen, bis die Polizei kommt. Vielleicht findet sich irgendwo ein Fingerabdruck.«

Torben zog eine Grimasse. »Die Polizei?« wehrte er ab. »Hier ist ja nichts gestohlen worden. Jedenfalls keine Werte.«

»Sie vergessen,« sagte der Professor, »daß es sich hier um ein großes Verbrechen handelt, das aufgeklärt werden muß.«

»Ja, ja, gewiß ...«

Der Diener und seine Mutter hatten sich jetzt so weit erholt, daß sie erzählen konnten, was sie wußten. Viel aber wußten sie nicht. Sie hatten unten von ihrer Wohnung aus hier oben ein Geräusch gehört, Schritte, und waren heraufgeeilt, um zu sehen, was los sei. Bereits in der Halle waren sie dem Mann mit dem großen Hut begegnet, der aus dem Arbeitszimmer kam. Sie hatten ihm den Weg versperren wollen, er aber hatte sich nicht im geringsten darum gekümmert. Da Alexander ihm im Weg stand, hatte er ihn mit einem einzigen Griff in den Nacken hochgehoben und über den Stuhl geschleudert.

Professor Arvidson ging jetzt zum Telephon und rief die Polizei an. Torben hörte, daß er mit einem Mann sprach, den er Rist nannte. Sune Arvidson berichtete einige Einzelheiten von dem Einbruchsversuch, hauptsächlich aber war es ihm angelegen, den Fremden genau zu beschreiben, wie er aus der Haustür gekommen und mit dem Auto davongefahren war. Torben hörte Arvidson sagen: »Es kann nicht schwer sein, dieses Auto zu finden. Es war eine gewöhnliche Droschke. Der Chauffeur trug die bekannte Uniform und hatte einen dunklen Schnurrbart ...« Torben hörte der Unterhaltung mit der Polizei offenbar voller Ungeduld zu; er gähnte laut, er war müde.

Als die beiden Herren zum Hotel Angleterre zurückkehrten, sprachen sie nicht viele Worte miteinander. Arvidson hatte das bestimmte Gefühl, daß Torben etwas sagen wollte, er wußte nur nicht recht, wie. Und als sie die Treppe des Hotels erreicht hatten, rückte er damit heraus.

»Sie bleiben bei Ihrer Bestimmung, daß Sie morgen reisen wollen?« fragte der Professor.

»Ja,« antwortete Torben, »ich bleibe dabei. Doch werde ich mir erlauben, Sie aufzusuchen, sobald ich von Schweden zurückkomme.«

»Finden Sie nicht, daß das Ereignis heute abend so wichtig ist, daß ...«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr Interesse, muß aber sagen, daß die Einmischung der Polizei und alles, was sie mit sich führt, mir sehr peinlich ist. Ja, rein heraus gesagt, Herr Professor, so traurig die Sache auch ist, aber mein Vater ist ja tot, daran ist nichts mehr zu ändern: Jetzt möchte ich vor allen Dingen, daß meine Mutter Ruhe bekommt.«

»Sie haben recht,« antwortete der Professor, »Tote kann man nicht wiedererwecken.«

So schieden sie, und der neue Herr von Marienburg verschwand durch die Drehtür des Hotels.

Arvidson ging nach Hause. Zeitig am nächsten Morgen aber wurde er durch einen Mann von der Polizei geweckt. Es war der junge Rist.

»Ich habe das Auto heute nacht schon gefunden,« sagte er, »Sie hatten ganz recht, es war nicht schwierig. Sagten Sie nicht, daß der Mann, der ins Auto stieg, einen weiten Regenmantel trug und einen breitrandigen Hut?«

»Stimmt.«

»Und daß er allein war?«

»Ja.«

»Das stimmt allerdings nicht,« antwortete Rist, »denn im Auto saß eine Dame.«


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