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VI.

Beiden Herren war es, als ob das Telephon ungewöhnlich lange läutete, oder vielleicht war es nur ihre Ungeduld, die ihnen die Sekunden so unerträglich machte. Eine einsame und wichtige Mitteilung schien sich aus der Dunkelheit durch die große Stadt vorwärtszuarbeiten. Die kleine Nickelkugel bebte weich und melodisch, eifrig wie eine Zunge gegen den Metallrand der Glocke. Der Polizeibeamte legte seine Hand über den Apparat, und der Laut wurde etwas gedämpft, war aber doch noch lange lebendig und unruhig unter seiner Hand zu hören. Endlich hörte er auf.

»Hallo!«

Professor Arvidson konnte eine Stimme im Telephon schnurren hören, eine eifrige und aufgeregte Stimme, wie es ihm schien. Der Polizeibeamte antwortete hin und wieder mit kurzen Worten: »Jawohl ... gut ... wir warten ... sehr richtig ... ich komme gleich ...« Die Unterhaltung mochte zehn Minuten gedauert haben; dann wurde sie unterbrochen.

Fast atemlos vor Spannung fragte der Professor: »Etwas Neues?«

»Ja,« antwortete der Polizeibeamte.

»War es das Signal, das Sie erwarteten?«

Der Chef nickte und lächelte aufgeräumt.

»Ja,« sagte er, »wenn nicht alles täuscht, haben wir den Mann mit dem Revolver gefunden.«

»Dadurch ist jedenfalls der Einbruch im Leihamt aufgeklärt?«

»Das ist nicht gesagt; solche gestohlenen Dinge werden auf viele verschiedene Weise verschleppt.«

»Wo hat man den Mann gefaßt?«

»Bei einer Dame, die einen Maniküresalon in der Vorstadt hat.«

»Das klingt sehr vornehm,« murmelte der Arzt.

»Ist es aber nicht. Dergleichen Verschönerungsanstalten in der Vorstadt pflegen ein ganz anderes Gewerbe zu verdecken. Ich kenne diese Dame. Sie hat einen Beinamen in der Polizeisprache, sie wird ›Havanna-Katrine‹ genannt. Jetzt haben wir einen ihrer Beschützer gefaßt, Knud Aage Hansen, einen jungen Menschen, auf den ich schon seit einiger Zeit ein Auge gehabt habe, der mir bisher aber zu schlau war. Ein ganz gefährlicher Bursche.«

Der Beamte sah auf seine Uhr. »Wenn Sie noch etwas warten, Herr Professor, können Sie den Burschen hier sehen. Ich will mir einige nähere Aufschlüsse geben lassen. Einer meiner tüchtigsten Leute hat ihn gefaßt, ein junger Mann, der Rist heißt und der es als Detektiv sicher weit bringen würde, wenn er zu Zeiten nicht so träge und besonders so bummelig wäre. Wenn er sich aber mal ins Zeug legt, ist er ganz meisterhaft. Besonders wenn er in den zweifelhaften Nachtlokalen der Stadt auf Entdeckungsreisen geht. Vielleicht liegt sein Erfolg zum Teil daran, daß man ihn in jenen Kreisen noch so wenig kennt. Er sieht auch gar nicht wie ein Polizeibeamter aus. Rist ist in diesen Tagen der Spur des Revolvers gefolgt, Knud Aage Hansen ist so dumm gewesen, ihn bei einer Gelegenheit zu zeigen. Es war ja auch eine hübsche Waffe.«

Jetzt trat ein zivilgekleideter Polizeibeamter herein und machte dem Chef flüsternd eine Mitteilung. »Ja,« sagte der Chef, »führen Sie ihn herein.«

Von zwei Beamten geführt, wurde ein junger Mann hereingebracht. Er verbeugte sich gewandt vor dem Detektivchef und vor dem Professor. Der Arzt stellte im geheimen schnell fest, daß weder das Aeußere noch das Benehmen des Burschen verriet, welch verabscheuungswürdiger Menschenschicht er angehörte. Unter anderen Umständen würde er nicht daran gezweifelt haben, daß der junge Mensch den guten bürgerlichen Kreisen angehörte. Er mochte zwei-, dreiundzwanzig Jahre alt sein, hatte ein offenes, helles Gesicht und ein recht gewinnendes Lächeln. Vor allem aber war er tadellos gekleidet, ohne übertriebene Eleganz, diskret, korrekt. Er kam herein, sicher und gewandt, den Strohhut und die Handschuhe in der Hand.

Der Chef der Detektei empfing ihn sehr gemütlich. Er bot ihm Platz an einem kleinen polierten Tisch mitten im Zimmer, der geradezu zu einer vertraulichen Zwiesprache einlud. Der Polizeibeamte nahm ihm gegenüber Platz. Auf der blanken Platte des Tisches lag ein Papierblock und ein Bleistift.

Und dann begann dieses merkwürdige Verhör. Der zivilgekleidete Beamte blieb im Zimmer. Ab und zu kamen ein zweiter und ein dritter herein, beugten sich über den Chef und gaben ihm eine Notiz; er warf kaum einen Blick darauf und zerknüllte darauf das Papier, wie etwas, was er zufällig zwischen die Finger bekommen hatte. Hin und wieder flüsterte auch einer dem Chef etwas ins Ohr. Alle Anwesenden aber lauschten gespannt auf die Fragen und Antworten, die an dem kleinen Tisch gewechselt wurden. Es war wie eine Partie Schach, der alle Zuschauer mit Interesse folgen.

Professor Sune Arvidson hatte solchem außergerichtlichen und ganz formlosen Verhör noch niemals beigewohnt. Was ihn vor allem in Erstaunen setzte, war der freundliche Ton, in dem der Detektivchef die verdächtige Person anredete. Das Ganze war wie eine gemütliche Unterhaltung während einer ermüdenden Eisenbahnfahrt: der ältere hat einen jüngeren Landsmann getroffen, und um einige Stunden totzuschlagen, gibt er sich den Anschein, als ob er sich für die Verhältnisse des anderen wohlwollend interessiere.

Außerdem setzte es Professor Arvidson in Erstaunen, daß weder von Mildes Tod noch von dem Einbruch im Leihamt die Rede war. Das Gespräch drehte sich um ganz andere Dinge, bewegte sich gleichsam in großen Bogen. Der sonst so ernsthafte Polizeibeamte hatte einen halb scherzenden, halb ironischen Ton angeschlagen, der aber durchaus nicht unfreundlich war. Hin und wieder kam sogar etwas wie Herzlichkeit zum Durchbruch, die Fragen bekamen eine ganz vertrauliche Form und dann redete der Polizeibeamte den Verdächtigen mit seinem Vornamen an: »Na, aber hören Sie mal, Knud Aage,« sagte er dann wohl, oder: »nun erzählen Sie mir, Knud Aage ...«

Erstaunlich, dachte der Professor bei sich, für welchen Haufen von nebensächlichen Dingen der Chef sich interessiert. In welchen Restaurants dieser Bursche am meisten verkehrt, wieviel und was er trinkt, ob er viel und hoch spielt. Die Unterhaltung gab Einblick in manche Verhältnisse, die dem Professor ganz unbekannt waren, eine eigene Welt in Kopenhagen, das nächtliche Kopenhagen, seltsame Feste, Tanzdielen und Kneipen, eigenartige Menschen, ein eigenartiges, schattenhaftes Dasein mit seltsamen lustigen und unheimlichen Einfällen. Der Polizeibeamte schien das alles ebensogut zu kennen wie der andere, und wenn sie sich scherzend dieser oder jener Orgie erinnerten, wobei Damen mit den unglaublichsten und leichtsinnigsten Namen eine große Rolle spielten, ließ der Chef eine gewisse Vertraulichkeit durchblicken, als ob er sagen wollte: Ja, ja, wir beide verstehen uns!

Aber – Professor Arvidson war ein scharfer Beobachter und nach und nach wurde ihm das System des Detektivs klar: der Verhaftete sollte keinen Augenblick merken, was man eigentlich von ihm wissen wollte. Jetzt hatte der junge Mann fast eine Stunde scharf aufgepaßt und begann zu ermüden. Sein blondes, lockiges Stirnhaar wurde feucht, sein Lächeln war nicht mehr so treuherzig, seine Züge wurden starrer. Zögernd stützte er sich mit seinem Ellbogen auf die Tischplatte.

Und jetzt begann Professor Arvidson den handgreiflichen Zusammenhang zu ahnen: Aus dem unzusammenhängenden und offenbar so gleichgültigen Geschwätz bildete sich ein loses Netz, er meinte es deutlich auf dem Hintergrunde des Gespräches zu erkennen, und dieses Netz wurde dichter und dichter.

Jetzt schien der Detektivchef aufhören zu wollen, es war, als ob die Unterhaltung ausebbte.

»Wir haben ja neulich schon das Vergnügen gehabt, Knud Aage,« sagte er, »damals handelte es sich um eine Spielaffäre, Hasard, nicht wahr? Sie mußten eine Buße bezahlen, erinnere ich mich recht.«

»Mit etwas muß man sich die Zeit ja vertreiben,« antwortete der junge Mann.

»Die Gesellschaft, in der Sie sich befanden, aber war nicht schön, – das kleine Hotel ›Neapel‹ ist eine schlimme Bude.«

Da lächelte Knud Aage. »Ich fürchte mich nicht.«

»Sie pflegen wohl bewaffnet zu sein?«

»Nein, wozu denn?«

»Tragen Sie eine Waffe bei sich?«

»Niemals.«

Da lehnte der Detektivchef sich plötzlich über den Tisch. »Haben Sie nicht während der letzten acht Tage einen Revolver bei sich getragen?«

»Nein.«

»Sicher nicht?«

»Nein.«

Der Detektivchef sah ihn an: »Dieses Ableugnen bricht Ihnen den Hals,« sagte er.

Kurz darauf fügte er hinzu: »Mensch, Sie zittern ja. Der Tisch zittert unter Ihrem Arm.«


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