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IV.

In der halbgeöffneten Tür stand der Diener Alexander und wartete. Hinter dem Fenster des Blumenladens, zwischen Rosen und Tulpen, zeigte sich das Gesicht seiner Mutter, verstört und neugierig. Kaum hatte sie die Ankommenden gesehen, als sie sich hinter die Blumen zurückzog; sie kannte ja Professor Arvidson.

Alexander rang seine Hände und bot das Bild äußersten Jammers: die rotgeränderten Augen in einem ganz vergrämten und bleichen Gesicht, die Hände, die aus den zu kurzen Aermeln hervorguckten, suchten vergeblich nach einem Haltepunkt, und seine Knie in den schwarzen Hosen bebten. Das furchtbare Ereignis schien ihn ganz gebrochen zu haben.

Professor Arvidson schob ihn ungeduldig vor sich die Treppe hinauf.

»Beeilen Sie sich,« sagte er, »was stehen Sie da und wimmern wie ein kleines Kind!«

»Ach, es ist so furchtbar, so furchtbar,« jammerte Alexander, »Herr Baron, mein armer Herr – –«

Arvidson stellte mit Befriedigung fest, daß die Sache noch nicht bekannt war, die Treppe war ganz menschenleer, breit und teppichbelegt, nach altem Holz duftend lag sie da, das Licht fiel durch die matten Fenster gedämpft herein.

Professor Arvidson kannte die Wohnung von früheren Besuchen her. Er eilte den anderen voran durch die Halle und die Stuben zu Herrn von Mildes Arbeitszimmer. Die Tür zwischen Eß- und Arbeitszimmer stand halb offen. Der eine Schal der Portiere war herabgerissen und hing von der Stange herunter.

Professor Arvidson zeigte darauf und fragte schnell: »Wann ist das geschehen?«

Seine Stimme hatte einen befehlenden Ton, der sofortige Antwort heischte.

»Heute,« antwortete Alexander zitternd. »Ich habe auf die Portiere getreten. Als ich den Herrn tot und blutüberströmt in seinem Stuhl sitzen sah, wußte ich gar nicht, was ich tat, ich stürzte nur hinaus.«

»Blutüberströmt,« murmelte der große Finanzmann unwillkürlich. Seine Stimme hatte einen heiseren, asthmatischen Klang, und dieses eine Wort wirkte seltsam fremdartig und kraß in diesem stillen, altmodischen Raum.

Jetzt öffnete der Professor die Tür ganz mit einem hastigen Griff und trat in das Arbeitszimmer. Guggenheim und der Diener blieben auf der Schwelle stehen. Alexander zerknüllte nervös ein Taschentuch zwischen den Fingern und verzog das Gesicht wieder zum Weinen. Der Bankier stand vornübergebeugt, den Hut in der Hand, sein dunkelgrauer Sommermantel hing in Falten um ihn herum.

Auf dem Schreibtisch brannte die Arbeitslampe, dicke, grüne Vorhänge waren vor die Fenster gezogen, durch die Ritzen aber schien das weiße Tageslicht. Die Mischung des künstlichen und des natürlichen Lichtes verursachte ein phantastisches und unheimliches Farbenspiel, in dem das Gesicht des Toten und seine Glatze grünlich zu leuchten schienen. Arvidson löschte die Lampe auf dem Schreibtisch und zog die Vorhänge zur Seite. Jetzt strömte das Tageslicht ungehindert herein und beleuchtete das unheimliche Bild: im Stuhl vor dem Schreibtisch saß Baron Milde, leicht vornübergebeugt, in einer Stellung, als ob er schlummere, das eine Bein war über das andere gelegt, die Arme hingen längs der gepolsterten Seiten des Sessels schlaff herab. Ueber seinem rechten Ohr war eine Schußwunde, aus der ein Blutstreifen über Backe und Kinn sickerte.

*

Professor Arvidsons Blick musterte hastig das Zimmer, er glitt von dem Toten im Stuhl über die Papiere auf dem Schreibtisch, die Familienbilder an der Wand, die goldenen Inschriften der Bücher in der Bibliothek, weiter zu dem großen ovalen Tisch in der Mitte des Zimmers und zu dem dunklen, gestreiften Teppich aus persischem Stoff. Es war, als ob er die Ereignisse, die sich hier abgespielt hatten, durch eine intensive Vorstellung gegenwärtig machen wollte. Fast eine ganze Minute dauerte diese seine schweigende Konzentration.

Plötzlich unterbrach er die Stille mit einer herrischen Frage:

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?« fragte er Alexander.

»Nein,« antwortete Alexander kläglich. Er war überzeugt, daß alles, was er unter dem Eindruck dieses furchtbaren Geschehens tat, von vornherein falsch sein würde.

»Soll ich telephonieren?« fügte er hinzu.

Er war drauf und dran, als Guggenheim ihn mit einer Handbewegung zurückhielt. Er trat zu Professor Arvidson und sagte leise, aber eindringlich:

»Wissen Sie denn, ob diese Sache die Polizei angeht? Wollen wir nicht erst wie Freunde des Verstorbenen auftreten?«

Arvidson zeigte auf den Schreibtisch, wo ein Revolver von nicht ganz neuem Modell lag. Alexander verstand, was er meinte, und beeilte sich erschrocken zu erklären:

»Dort habe ich ihn hingelegt. Ich fand ihn auf dem Fußboden. So, so hatte er gelegen.« Er zeigte auf den Teppich, unter der rechten Hand des Toten.

»Sie hätten ihn lieber liegen lassen sollen,« bemerkte der Professor. »Zweimal also sind Sie hier im Zimmer gewesen? Das erstemal liefen Sie gleich heraus und rissen die Portiere herunter, und das zweitemal haben Sie die Waffe vom Boden aufgenommen und auf den Schreibtisch gelegt. Wenn Sie dabei vor Schreck geschwitzt haben, werden wir Ihre wertvollen Fingerabdrücke auf dem Kolben sehen.«

Alexander blieb auf der Schwelle stehen, schuldbewußt und stumm. Der Arzt untersuchte den Toten und schüttelte den Kopf.

»Vor vielen Stunden,« murmelte er, »es muß schon gestern abend geschehen sein.«

Mittlerweile hatte der Bankdirektor einen flüchtigen Ueberblick über den Schreibtisch des Toten genommen; er blätterte in einem Kontobuch, das dort lag, und nahm Einsicht in einige Papiere.

»Wenn man die Absicht hat, Selbstmord zu begehen,« sagte er mit seiner heiseren Stimme, »pflegt man doch irgendeine schriftliche Erklärung zu hinterlassen. Jedenfalls hätte ein Mann von so ausgeprägtem Ordnungssinn wie Milde es getan. Aber hier findet sich nichts. Wissen Sie, was das letzte ist, was er geschrieben hat? Hier steht: Gottfried von Milde, Baron, geboren 17. Januar 1698, gestorben 23. Dezember 1750, verehelicht mit usw. – Er hat an seinem Stammbaum gearbeitet, und vielleicht nur eine Minute, nachdem er dieses Zeug schrieb, hat er den tödlichen Schuß abgefeuert.«

»Ich glaube nicht an Selbstmord,« sagte der Professor ernst. »Sehen Sie sich um, bedenken Sie die sorglosen Verhältnisse, in denen Milde lebte.«

»Wie aber konnte er unter solchen Umständen von einem Mörder überrascht werden?« fragte der Bankier. »Hier hat kein Kampf stattgefunden. Er hat ganz ruhig in seinem Stuhl gesessen und soll mitangesehen haben, wie der Mörder durch die Tür getreten ist?«

»Durch die Tür?« Arvidson verweilte bei den Worten. Das Arbeitszimmer war das letzte Zimmer in der Wohnung, es hatte keinen anderen Eingang als die Tür zum Eßzimmer und dann die Verandatür, die zum Garten führte. Es war eine Doppeltür aus Glas und Eisen, mit kleinen Fenstern. Vor der Tür war ein kleiner balkonartiger Absatz mit einer Treppe, die in den Garten hinunterführte. Keiner von den anderen Mietern außer Milde hatte Zutritt zu diesem Garten.

Arvidson richtete einige Fragen an Alexander.

»Wann haben Sie Ihren Herrn gestern verlassen?«

»Nachdem ich ihm um zehn Uhr ein Glas Likör serviert hatte.«

»Und Sie haben ihm nichts Ungewöhnliches angemerkt?«

»Nein. Herr Baron sagte freundlich gute Nacht wie immer. Er wollte noch schreiben. Er pflegte gewöhnlich bis nach zwölf Uhr zu arbeiten.«

»Und Sie schlafen nachts in der Wohnung Ihrer Mutter?«

»Ja.«

»Dort hat er den Revolverschuß sicher nicht hören können,« murmelte Guggenheim.

Arvidson schüttelte den Kopf. »Kaum. Außerdem schläft er wahrscheinlich wie ein Stein.«

Guggenheim zeigte auf die Decke. »Und dort oben?«

»Wohne ich,« antwortete der Arzt. »Meine Familie aber ist zur Zeit auf dem Lande; ich bin allein in der Wohnung. Um halb zwei Uhr kam ich nach Hause, und zu der Zeit war wahrscheinlich schon alles entschieden. Der Garten – der Garten,« murmelte er nachdenklich.

Er trat ans Fenster und blickte hinaus. Es war wirklich ein idyllischer Fleck mitten in der Steinwüste der Stadt. Die Bäume waren so hoch und dicht, daß sie die Aussicht auf die grauen Mauern der Nachbarhäuser fast verbargen. Ein grüner Grasteppich mit Sonnenflecken bedeckte den ganzen Boden. Die Baumkronen wiegten sich im Winde, und in ihr sanftes melodiöses Sausen mischte sich der ferne Lärm der Stadt, Wagengerumpel, Menschenstimmen, Kirchenglocken, Signale vom Hafen.

Plötzlich drehte Arvidson sich um.

»Alexander, Sie können gehen,« sagte er, »ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche.«

Alexander verschwand.

Da sagte der Arzt, indem er sich an Guggenheim wandte:

»Wir sind der Wahrheit auf der Spur. Herr von Milde hat gestern abend den Mörder erwartet. Und der Mörder ist durch den Garten gekommen.«


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