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XXVI.

Jetzt hatten die Freunde den Zweck ihres Besuches im Wirtshaus erreicht. Als Arvidson von der Ankunft des Fremden hörte, dachte er einen Augenblick, daß es Hengler sei. Aber zu der angegebenen Zeit war es ausgeschlossen. Die beiden Freunde wechselten noch einige gleichgültige Worte mit Vater Abraham und gingen dann ihres Weges. Es war inzwischen spät geworden; die Nacht war noch immer wunderbar hell und still. Von der Landstraße bogen die beiden Wanderer wieder in den kleinen Waldpfad ein. Es war jetzt nicht mehr weit vom Herrenhof. Der Pfad wurde immer schmaler, so daß sie das Laub zur Seite biegen mußten, um vorwärts zu kommen. Die nächtliche Stille wurde nur durch das Rascheln der Zweige und ihre gedämpften Schritte auf dem Waldboden unterbrochen. Als der Förster und Arvidson ein Stück gegangen waren, blieb der Professor stehen, um seine Zigarre anzuzünden. Auch der Förster blieb stehen. Plötzlich blickte der Förster durch das Walddickicht und lauschte. Weit konnte man nicht sehen, denn der Weg wurde von den Zweigen verdeckt. Nach allen Seiten dieser wunderbare Wald mit einer Unendlichkeit von Laub, das selbstleuchtend zu sein schien. Arvidson warf das brennende Streichholz auf den Waldboden.

»Haben Sie etwas gehört?« fragte er den Förster.

Der Förster beugte sich nieder, um unter den Zweigen besser zu sehen.

»Es war wohl ein Irrtum,« sagte er, »obgleich mir wirklich war, als ob ich ein Geräusch dort im Gebüsch hörte. Vielleicht war es ein Tier.«

Darauf gingen sie weiter. Die beiden Freunde dämpften unwillkürlich die Stimmen, als ob sie fürchteten, Lärm zu machen.

»Ich muß an das Sonderbare dieser Situation denken,« sagte der Förster. »Vor einem Monat begann das seltsame Abenteuer, als du Baron Mildes Zimmer betratest und ihn ermordet im Stuhl fandest. Das war in einem Hause mitten in Kopenhagen. Seitdem bist du willenlos von der Sache mitgerissen worden und befindest dich plötzlich mitten in diesem abenteuerlichen, mondbeschienenen Wald.«

»Das ist wahr,« sagte der Professor, »wir wissen nicht, wohin unsere Wanderung uns führt, und dennoch ist es mir, als ob ich die ganze Zeit einer Spur gefolgt wäre. Die Spur selbst aber ist mir verborgen geblieben. Es ist, als ob ich einem mystischen Ruf folgte. Gott weiß, wohin er mich zuletzt führen wird, wo ich die Nachforschungen beenden und die Lösung des Rätsels finden werde. Vielleicht in einer Stadt, einem Wald oder in einem fremden Lande. Vielleicht Auge in Auge mit einem Menschen, den ich nie gesehen und nie zu treffen erwartet habe.«

Plötzlich packte der Förster seinen Arm und hielt ihn zurück.

»Es geht doch jemand vor uns,« flüsterte er, »steh still.«

Sie blieben stehen. Und jetzt konnte auch der Professor etwas im Walde hören, ein fast unmerkliches Sausen, als ob ein Boot langsam durch hohes Schilf gleitet.

Der Förster deutete auf die nächsten Bäume, an deren Zweigen man eine ganz schwache Bewegung spüren konnte.

»Etwas ist hier vor ganz kurzer Zeit durchgegangen,« flüsterte er, »das Laub ist noch in Bewegung.«

Sie lauschten mit äußerster Anspannung. Das Geräusch aber verlor sich bald, und wieder trat völlige Stille ein ...

Nach einer Weile sagte der Förster: »Tatsächlich gehen wir hier ganz im Blinden, lieber Freund. Wer weiß, ob nicht schon in diesem Augenblick eine Gefahr auf uns lauert. Dieses Abenteuer begann ja mit einem Mord, vielleicht rechnen wir nicht genug mit dem Ernst, bevor es zu spät ist.«

»Warum sagst du mir das jetzt?« fragte der Professor.

»Ich möchte eine Frage an dich richten: Bist du bewaffnet?«

»Ja,« antwortete Arvidson, »und ich bemerkte, daß auch du eine Waffe zu dir stecktest, als wir vom Hause fortgingen.«

Die beiden Freunde beschleunigten jetzt ihre Schritte, um so schnell wie möglich aus dem Wald herauszukommen. Vielleicht dachten beide dasselbe: Wo befindet sich der Mensch jetzt, der vor kurzem hier gegangen ist? Hat er den Wald schon verlassen – oder hält er sich in dem Dickicht versteckt und beobachtet uns, während wir auf der Lichtung des Weges gehen?

Plötzlich gelangten sie aus dem Walde und hatten vor sich einen Garten, der sanft zu einer Anhöhe anstieg, die wie eine ungeheure Woge in der Landschaft lag. Es war der Garten von Marienburg: einzelne Baumgruppen hier und dort, Wege, die sich um blumenleuchtende Rasen schlängelten, ein Marmorbassin, dessen Springbrunnen unsagbar wehmütig durch die Nacht plätscherte. Der Uebergang von dem dunklen Wald zu dem offenen, freien Land wirkte so neu und plötzlich, daß alles große und wundersame Dimensionen annahm. Es war, als ob eine ungeheure Weite sich vor ihnen öffnete. Auf der Anhöhe lag das Schloß phantastisch vergrößert im Mondschein, ohne Licht in den Fenstern, aber wie ein bläulicher Eispalast leuchtend. Und über dem Ganzen der hohe, schwindelnde Himmel. Nirgends war eine Bewegung zu spüren. Der Mensch, dessen Wanderung sie drinnen im Walde gehört hatten, mußte sich noch dort drinnen befinden. Sune Arvidson blieb stehen und betrachtete schweigend die Landschaft, von der eigenartigen Schönheit derselben hingerissen. Der Förster zeigte auf die Hofgebäude, deren stark vorspringende Dächer breite, schwarze Schatten warfen.

»Dort oben steht ein Mensch,« sagte er, »kannst du sehen – neben der Steintreppe.«

Jetzt sah auch Arvidson, daß sich dort oben eine graue Gestalt bewegte, die offenbar zu ihnen herübersah.

»Die Gestalt winkt,« sagte der Förster, »aber ich kann nicht erkennen, wer es ist.«

Der Förster ging voran, Arvidson folgte ihm auf den Fersen. Sie gingen nicht den geraden Weg über die offenen Anlagen, sondern hielten sich möglichst im Schatten der Bäume. Der Förster sah aufmerksam geradeaus, hin und wieder beschattete er die Augen mit der Hand.

»Es ist der Verwalter,« sagte er.

Bald darauf hatten sie den Verwalter erreicht, einen Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Er hatte hier offenbar Posto gefaßt, um Ausschau zu halten.

»Haben Sie etwas bemerkt?« fragte der Förster.

»Nicht das geringste,« antwortete der Verwalter, »alles ist ruhig.«

»Im Walde vor uns ging ein Mensch. Haben Sie jemanden herauskommen sehen?«

»Nein.«

»Kein Lichtschein in den Fenstern heute nacht?«

»Nein.«

»Wie lange haben Sie hier schon gestanden?«

»Eine Stunde. Seit ich aus dem Wirtshaus kam.«

»Wissen Sie, daß Vater Abraham seit gestern abend einen Gast hat?«

»Ja, ich weiß.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, außer Vater Abraham hat niemand ihn gesehen.«

Die drei Männer zogen sich jetzt weiter in den Schatten zurück, so daß sie vollständig gedeckt standen.

Gerade vor sich hatten sie den Flügel des Schlosses, in dem die drei geheimnisvollen Zimmer lagen.

Der Förster zeigte zum Hause hinauf und sagte erklärend zu Arvidson: »So bewegte das Licht sich gestern abend: Erst wurde es in dem ersten Zimmer gesehen, dann in dem zweiten, darauf flammte es in dem dritten auf. Ein Mensch bewegte sich also von Zimmer zu Zimmer und trug ein Licht. Nicht wahr, Verwalter, Sie sahen es doch selbst.«

»Ich sah, wie sich ein Licht von Fenster zu Fenster bewegte, mehr sah ich nicht,« antwortete der Verwalter vorsichtig.

Die drei Männer standen lange und starrten zu dem mondbeschienenen Gebäude hinüber. Wie öde und verlassen der große Hof aussah. Vor den Fenstern waren keine Läden, das Mondlicht brach sich in den Scheiben.

Sie sahen es alle drei auf einmal, und es ging eine plötzliche Bewegung durch sie.

In dem mittleren Fenster wurde langsam eine menschliche Gestalt sichtbar, die aus der Tiefe des Zimmers kam und sich dem Fenster näherte.


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