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XIV.

Die Mitteilung machte einen starken Eindruck auf Arvidson, weniger die Tatsache selbst, als eine gewisse Hast und Fiebrigkeit in Rists Worten – als ob Gefahr im Anzuge sei. Außerdem war der Professor durch die Stimmung drinnen in einer nervösen Gemütsverfassung. Lorenzo Hengler war so merkwürdig aufdringlich und hatte mit einer Taktlosigkeit von dem Mord gesprochen, die seinem Wesen sonst fremd war. Der Mörder ist noch in der Stadt, hatte er gesagt, und in dem Augenblick hatte er etwas Wissendes gehabt. In einer plötzlichen visionären Vorstellung hatte der Arzt den Mörder fast körperlich gefühlt. Und jetzt kam Rists Mitteilung wie ein Schlag: Man hat ihn heute nacht gesehen ... Es war Arvidson, als ob der geheimnisvolle Mörder sich durch das Dschungel der Großstadt durcharbeitete und näher und näher kam, bis er ihm plötzlich leibhaftig gegenüberstehen würde.

»Wo?« fragte er, »wo hat man ihn gesehen?«

»Er ist heute nacht um vier Uhr in Westend in eine geheime Spielhölle gekommen, die ›Colorado‹ genannt wird. Kennen Sie sie nicht?« (Ueber das Gesicht des Professors zog eine abweisende und ungeduldige Grimasse.) »Dort verkehren sehr nette Leute, Ausländer, flotte Spieler. Es ist ein sehr exklusiver Klub, niemand bekommt Eintritt ohne die Parole, die sehr häufig geändert wird. Also gegen vier Uhr erschien er, nahm am Spieltisch Platz und schröpfte alle im Laufe einer halben Stunde. Dann verschwand er wieder. Der Klubdirektor hat mir von ihm erzählt; er will offenbar nicht, daß er sein feines kleines Geschäft wieder beehrt. Er hatte einen schwarzen Anzug aus englischem Stoff an. Man hat bemerkt, daß er einen wertvollen Brillantring am Finger trug, und daß in seinem schwarzen Schlips mit eingewebten, weißen Streifen eine schöne Perlennadel saß.«

»Und der Klubwirt kannte ihn! Warum in aller Welt hat er dann nicht der Polizei telephoniert?«

»Dieser Klub«, antwortete Rist mit unerschütterlicher Ruhe, »ist so vornehm, daß er nicht einmal ein Telephon besitzt. Das hängt mit dem Umstand zusammen, daß er häufig sein Lokal wechselt. Doch darf ich annehmen, daß der Klubdirektor, als er sah, welche Wendung die Sache nahm, dennoch im Begriff war, irgendwo zu telephonieren, wenn unser Freund, der Mörder, ihn nicht durchschaut hätte. Denn plötzlich machte er der verblüfften Gesellschaft eine Verbeugung und ging. Es ist anzunehmen, daß er wegen einer Summe Geldes in Verlegenheit war und sie sich im Vorbeigehen im Klub ›Colorado‹ geholt hat. Leicht und spielend und mit einer Verbeugung gegen das gerupfte Publikum. Das sieht ihm ähnlich.«

»Und jetzt?« fragte der Professor, »haben Sie eine weitere Spur von ihm heute abend?«

»Nicht die geringste.«

Arvidson sah ihn verständnislos an.

»Warum aber erzählen Sie mir das jetzt?« fragte er. »Soll ich Sie mit Torben Milde bekanntmachen?«

»Nein, danke,« antwortete Rist entschieden. Fügte dann aber wie zu sich selbst hinzu: »Ich wollte mir die Gesellschaft nur gern mal ansehen, im vollen Lampenlicht. Ich habe sie schon eine Weile aus der Entfernung betrachtet. Dieser Lorenzo Hengler ist ein prächtiger Mensch, nicht wahr? Herzensgut, ein edler Charakter.«

»Jawohl,« antwortete der Professor zögernd und verwirrt. Plötzlich wandte Rist sich zur Seite und duckte sich, als ob er sein Gesicht verbergen wollte. »Sahen Sie Torben Milde?« flüsterte er.

Im Wandspiegel sah Arvidson, daß Torben vorbeiging. Der Professor wollte sich zu ihm umdrehen, wurde aber in seiner Bewegung gehemmt, als er den Ausdruck unverhohlenen Staunens in Torbens Gesicht sah. Im selben Augenblick glitt die Gestalt aus der grünen Tiefe des Spiegels. Eine Tür klappte. Torben war wieder ins Restaurant gegangen.

Rist sah auf.

»Hier im Hause sind viele Spiegel,« sagte er, »neben Ihrem Tisch ist auch einer, Herr Professor. Sie sitzen mit dem Rücken dagegen.«

»Ich habe ihn nicht bemerkt.«

»Lorenzo Hengler aber sitzt mit dem Gesicht zum Spiegel und kann auf diese Weise alles übersehen, was im Saal vorgeht. Kommt er Ihnen heute abend nicht etwas zerstreut vor?«

Professor Arvidson fand keine Zeit mehr, diese Frage zu beantworten, denn plötzlich streckte Rist ihm die Hand zum Lebewohl hin.

»Sie müssen jetzt gehen,« sagte er, »man wartet auf Sie.«

Rist verließ ihn und schlenderte auf das anstoßende Café zu. Der Professor blickte ihm nach. Rist hatte heute abend so etwas seltsam Wehmütiges an sich gehabt, etwas merkwürdig Zaghaftes, was gar nicht mit seinem sonstigen arroganten und etwas leichtfertigen Ton übereinstimmte. Vielleicht hat er viel getrunken, dachte er bei sich. Er konnte aus diesem Menschen nie recht klug werden.

Arvidson kehrte wieder zu seiner Gesellschaft zurück. An der etwas lahmen Unterhaltung zwischen Hengler und Torben merkte er, daß das Beisammensein sich seinem Ende näherte. Es war schon ziemlich spät geworden, und die Gesellschaften an den anderen Tischen brachen bereits auf. Torben schien müde zu sein. Wie um die Unterhaltung noch eine Weile im Gang zu halten, sagte er: »Was war es für ein Herr, mit dem Sie draußen sprachen? Er kam mir so bekannt vor.«

Bei sich dachte der Professor: Ich lasse mich nicht narren, lieber Freund, sah ich doch im Spiegel, daß Sie ihn sehr gut kannten. Laut sagte er: »Ein zufälliger Bekannter.«

»Vielleicht ein Patient?«

»Nein,« antwortete Arvidson kurz.

Plötzlich fragte Torben: »Wie heißt er?«

»Rist.«

»Rist. So – so,« sagte Torben gedehnt.

»Enevold Rist.«

»Enevold, wirklich. So nennt er sich jetzt.«

»Jetzt?« fragte Arvidson erstaunt. »Hat er früher anders geheißen?«

»Nein, nein,« beeilte Torben sich zu bemerken. »Ich dachte an etwas ganz anderes, entschuldigen Sie. Ich kannte seinen Namen gar nicht, es war nur eine flüchtige Aehnlichkeit mit einem anderen Menschen. Was ist dieser Mann?«

»Nichts.«

»Er hat also Geld?«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Angenehm für ihn. Meine Herren, ich bin müde. Morgen früh reise ich bestimmt.«

Sie brachen auf.

Vorher aber war etwas anderes geschehen. Rist war nicht ins Café gegangen, sondern war noch einmal zurückgekehrt und hatte die Herren im Hintergrunde des Restaurants beobachtet. Darauf war er auf die Straße hinausgeschlendert und hatte sich in den Schatten der Häuser gestellt. Kurz darauf sah er, wie die Herren vor dem Hotel Phönix Abschied nahmen. Der Professor ging in die Richtung seiner Wohnung auf dem St. Annaplatz, die anderen gingen langsam zum Königsneumarkt. Vor dem Hotel Angleterre trennten sie sich. Hengler nahm ein Auto. Rist wußte, daß er im Hotel »König Frederik« wohnte.

Rist ging, ohne sich zu übereilen, durch die Stadt. Der Abend war etwas kühl, es hatte den ganzen Tag stark geweht, jetzt aber war es still, und die Stadt ruhte aus in dieser kühlen und befreienden Luft, die laubgesättigt und grün wie Rheinwein über den Giebeln hing. Es war eine herrliche Stunde, die belebte Hauptstraße war erfüllt von jenem fröhlichen Treiben, das die Sommernächte in einer Großstadt so reizvoll macht. Rist genoß die Stunde. Als die Rathausuhr zwölf schlug, bestieg er ein Auto.

Der Chauffeur schien ihn zu kennen. Er brauchte ihm keinen Bescheid zu geben. Es war ein offener Wagen. Rist ruhte mit halbgeschlossenen Augen in den Polstern, zurückgelehnt, klein und elegant. Kurz darauf bog das Auto zum Küstenweg ein, und der Chauffeur fuhr schneller. Kurz vor dem Badeort Klampenborg hielt der Wagen. Rist stieg aus und schlug die Wagentür hinter sich zu. Er nickte dem Chauffeur zu, der, ohne zu antworten, den Wagen drehte und in die Richtung von Kopenhagen zurückfuhr, das in der Ferne unter seinem luftigen Lichtnebel dalag.

Rist schlug einen laubüberdeckten Seitenpfad ein, der in Windungen zum Strand hinunterführte. Der Laut von Wellenschlag wurde durch den Wald getragen, das Meer hatte sich nach dem Sturm noch nicht zur Ruhe gelegt, das weitgetragene, das unaufhörliche Wogenbrausen, das sich von Horizont zu Horizont zog, beherrschte den Abend. In einer Lichtung am Wege lag ein kleines Haus, eine jener altmodischen Villen, wie man sie noch hin und wieder am Oeresund findet. Hohe Bäume hingen über das Dach. Die Villa war dunkel, kein Licht in den Fenstern. Rist öffnete die Gartenpforte und ging über den Rasen durch hohes Gras. Er öffnete die Tür mit seinem Schlüssel und trat in den Vorraum des Hauses, wo er Licht anzündete und seinen Mantel an einen Haken hing. Durch das nächste Zimmer ging er, ohne Licht anzuzünden. Hier im Dunkeln aber funkelten blanke Polituren und goldene Rahmen in dem schwachen Licht, das durch die Fenster fiel. Er öffnete die Tür zum Nebenzimmer und drehte an dem elektrischen Kontakt. Es war ein Zimmer im englischen Herrenstil, mit dunklen, schweren Klubsesseln. Neben der Tür blieb er stehen.

Ein Mensch hatte sich aus einem der großen Sessel erhoben, ein Mensch, der ihm zulächelte. Er war schwarzgekleidet. Rist bemerkte die Perlennadel in seinem dunklen Schlips mit den eingewebten, feinen, weißen Streifen. Rist wußte sofort, wer es war. Es war der Mörder, Helmer Stamsund.


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