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I.

Baron Rittergutsbesitzer von Milde war am Abend des 28. Juli 1919 mit dem Schnellzug aus Jütland nach Kopenhagen gekommen. Zeitig am Morgen hatte er sein Schloß »Marienburg« auf der Insel Fünen verlassen, zusammen mit seiner Gemahlin, einer Schwedin aus dem freiherrlichen Geschlecht der Löwenadler. Sie waren beide von echt aristokratischer Gesinnung, das heißt, freundlich gegen kleine Leute und von dem Bestreben beseelt, ihren Besitz so unbeschnitten zu bewahren, wie sie ihn ererbt hatten. Außerdem interessierten sie sich für Jagd, Kunst und den nationalen Viehbestand. Sie hatten einen einzigen Sohn, Torben, der schon lange in die Welt hinausgeflogen war und ein tatenloses Leben an irgendeiner Gesandtschaft führte.

An jenem Morgen also waren Baron und Baronin von Milde nach Knarreburg gefahren, um in dem großen Garten des Wirtshauses der Eröffnung einer landwirtschaftlichen Ausstellung beizuwohnen. Das Ehepaar fehlte selten bei solch einer Festlichkeit, teils weil sie sich als Gutsherrschaft der Gegend dazu verpflichtet fühlten, teils weil alles, was zur Landwirtschaft gehörte, sie beide stark interessierte; war die Baronin doch auf den großen schwedischen Gütern derer zu Löwenadler aufgewachsen, und der Baron gehörte zu einem alten dänischen Geschlecht, das seit Jahrhunderten Gutsbesitzer hervorgebracht hatte.

Es war ein warmer, etwas feuchter Julitag; nachts hatte es geregnet, die Fahnen hingen naß und schwer an den Flaggenstangen im Wirtsgarten, wo der Amtsvorsteher und einige wuchtige, breitschultrige Bauern Baronin von Milde vorsichtig und bedächtig zwischen den Pfützen durch die Ausstellung führten. Wie gewöhnlich war sie die Patronesse der Tierschau, und bei der nachfolgenden Feier im Wirtshaus verteilte sie die Preise, nachdem man der Gutsherrschaft ein ländliches, leidenschaftsloses Hoch ausgebracht hatte. Danach konnte nichts sie davon abhalten, den Ball mit dem Amtmann zu eröffnen, mit dem sie den ersten Walzer auf der sandbestreuten Diele zu den Tönen des Knarreburger Blasorchesters tanzte. Ach, diese Blasinstrumente in Dorfwirtshäusern, wie trübselig klingen sie nicht bei Regenwetter! Dieser erste Walzer aber war für Baronin von Milde obligatorisch, sie würde sich sehr gekränkt gefühlt haben, hätte man sie an der Ausübung dieser Pflicht verhindern wollen.

Unmittelbar danach nahm sie Abschied, auf diese freundliche, herzgewinnende Art, die die wirkliche, die geborene Vornehmheit kennzeichnet. Neben ihrem Gemahl nahm sie im Jagdwagen Platz, und zusammen fuhren sie zum Bahnhof von Knarreburg.

Kaum aber war die vornehme Herrschaft fort, als die Töne der Posaunen sich in gellendem Befreiungsgebrüll Luft machten, und bald dröhnten die Dielenbretter des Wirtshauses unter dem frohen Getrampel des Volkes.

Am Bahnhof verabschiedete Frau von Milde sich von ihrem Mann und fuhr allein nach Hause, nachdem sie ihn noch einmal an die Besorgungen erinnert hatte, die er für sie in der Stadt machen sollte. Da waren zuerst die Proben von den Brokatstoffen und dann das Pferdegeschirr aus Neusilber, das man nur bei dem Kgl. Hoflieferanten in der Großen Königstraße bekommen konnte! Darauf ratterte Baron von Milde mit der Kleinbahn in die Richtung Tommerup davon.

*

Die Strecke Knarreburg–Tommerup fuhr der Baron immer dritter Klasse, nicht, um sich »demokratisch« zu geben, sondern weil er sich gern in unauffälliger Weise mit der Landbevölkerung unterhielt. Von Tommerup bis Kopenhagen aber fuhr er erster Klasse, vertauschte seinen steifen, schwarzen Hut mit einer karierten Reisemütze, lehnte sich bequem in die Ecke zurück und zündete sich mit großer Sorgfalt eine Zigarre an, wie man es einer richtigen Zigarre schuldig ist.

Herr von Milde las nicht gern; es strengte ihn an, die umfangreichen modernen Zeitungen zu hantieren; aber er dachte gern, wenn er so saß und den blauen Rauchwolken nachsah, und dann dachte er immer an leichtfaßliche und alltägliche Dinge. Große Sorgen hatte Herr von Milde nicht, übrigens auch keine großen Freuden. So kam er gegen Abend des 28. Juli in Kopenhagen an und fuhr gleich nach seinem Hause auf dem St. Annaplatz. Baron von Milde gehörte zu jenen etwas bequemen, altmodischen Naturen, die große Veränderungen verabscheuen. Darum hatte er auch sein Haus in Kopenhagen behalten, weil er in einem Hotel nicht wohnen mochte. Während des Krieges hatte er manches gute Kaufangebot auf das Haus abgeschlagen; da seine Einnahmen aber nicht so übermäßig groß waren, begnügte er sich mit der Wohnung im ersten Stockwerk. Doch hielt er sehr darauf, daß die Bewohner in dem übrigen Teil des Hauses die altmodische Ruhe nicht durch ein lautes, modernes Wesen störten. Unten im Hause war ein einziger Laden, nämlich Frau Berboms Blumengeschäft. Frau Berboms Sohn Alexander, ein wortkarger und stiller Mensch in den Dreißigern, von dem behauptet wurde, daß er »etwas komisch im Kopf« sei, fungierte als Diener bei Herrn von Milde, und die Mutter, die alte Blumenhändlerin, kochte und sorgte für die Anrichtung.

Im zweiten Stockwerk wohnte der berühmte Nervenarzt und Professor der Psychiatrie an der Universität, Sune Arvidson, Schwede von Nation, aber wegen seiner großen wissenschaftlichen Verdienste an die Kopenhagener Universität berufen. Im dritten Stockwerk hauste die Witwe eines Generals und ehemaligen Ministers mit ihrer einzigen Tochter, die ein körperliches Gebrechen hatte und sich selten zeigte. Die beiden Damen hatten eine alte Dienerin, eine jener grauhaarigen, treuen Seelen, die heutzutage immer seltener und seltener werden. Und schließlich wohnte ganz oben unterm Dach ein Kunstmaler, der die Kühnheit besaß, noch heutigen Tages mit langem Haar und einer Sammetjacke zu gehen. Zwischen Vorderhaus und Hinterhaus war ein kleiner Garten mit alten Lindenbäumen, eine Holztreppe führte von dort zu der Wohnung des Herrn von Milde. Er liebte es, in der Dämmerstunde nach dem Mittagessen dort unten zu sitzen. Der Lärm der Stadt drang nur gedämpft herein, und von den Hausbewohnern störte ihn niemand. Das Haus und der Garten, die stillen Bewohner und das vornehme Viertel gaben dem Ganzen ein Gepräge vornehmer Zurückgezogenheit; es war, als ob dies alles vor fünfzig Jahren stehengeblieben sei und jetzt den Anschluß an die übrige Welt nicht mehr fände.

Es ist notwendig, so ausführlich von all diesem zu berichten, um den richtigen Eindruck zu geben, warum die Ereignisse, die bald über das Haus hereinbrachen, hier so fremdartig und sinnlos wirkten. Nichts in den äußeren Verhältnissen gab Veranlassung zu dem ungeahnten und seltsamen Abenteuer. Man wird sich gleich überzeugen, daß auch nichts in Baron von Mildes Auftreten auf etwas Ungewöhnliches schließen ließ. Wir können ihm folgen, als er am Abend des 28. in Kopenhagen ankam, bis zum Abend des nächsten Tages, als er dem Diener Alexander müde gute Nacht sagte, nachdem dieser ihm ein kleines Glas von dem holländischen Likör serviert hatte, an dem Herr von Milde zu nippen liebte, während er am Schreibtisch saß und an seinem genealogischen Werk über das Geschlecht derer von Milde arbeitete.

Am ersten Abend war er ermüdet von der Reise zeitig zu Bett gegangen, am nächsten Morgen zur gewohnten Zeit aufgestanden, um sieben Uhr, und den Vormittag hatte er dazu benutzt, um die Aufträge seiner Frau zu erledigen und mit einem deutschen Kunsthändler, Dr. Lorenzo Hengler, der eben aus Berlin gekommen war, die Glyptothek zu besuchen. Der Besuch in der Kunstausstellung hatte mehrere Stunden gedauert, die Herren hatten sich besonders lange bei der neuesten Erwerbung, einigen römischen Büsten, aufgehalten, seltenen Kunstwerken, auf die Herr von Milde sich schon lange gefreut hatte.

Von dem deutschen Herrn hatte Herr von Milde sich sodann überreden lassen, ein Restaurant aufzusuchen, was er sonst nie tat, und sie hatten zusammen in einer kleineren Weinstube gefrühstückt. Zufällige Passanten, die Baron von Milde kannten, hatten die Beobachtung gemacht, daß die beiden Herren sich bei einem Glase Rheinwein lebhaft unterhielten.

Indem wir aber den Namen Lorenzo Hengler nennen, sind wir auch bei der Ursache zu Herrn von Mildes Reise nach Kopenhagen angelangt. Natürlich war er nicht nur nach Kopenhagen gefahren, um Brokatstoffe und Pferdegeschirr zu kaufen. Herr von Milde war Kunstliebhaber. Es war nach dem Kriege, als die gute Zeit der Kriegsgewinne zu ebben begann, obgleich viele es noch nicht sehen konnten. Noch war Hochkonjunktur, doch düstere Prophezeiungen und drohende Himmelszeichen begannen sich schon bemerkbar zu machen. Aber noch ahnte niemand, daß das Unwetter, das bereits unterm Horizont lagerte, so entsetzlich werden würde.


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