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XIX.

Enevold Rist erwachte morgens um acht Uhr nach einem gesunden, stärkenden Schlaf. Er lag noch eine Weile und lauschte und überdachte die Ereignisse der Nacht. Er hörte die alte Dienerin in der Küche hantieren. Der Tag war hell und warm; der Wind sauste in den Baumwipfeln über dem Hause, und vor den offenen Fenstern bauschten die Gardinen sich wie Segel.

Malene, das alte Dienstmädchen, kam mit dem Frühstück herein und brachte ihm gleichzeitig ein Telegramm. Es war von Sune Arvidson. »Verreise heute um die Mittagszeit, möchte Sie vorher gern noch sprechen,« stand darin. Der Professor äußerte sich nicht darüber, ob er in privater Angelegenheit verreisen wollte, oder ob es sich um die Affäre handelte. Sollte er sie satt bekommen haben, dachte Rist, indem er das Telegramm zusammenfaltete, oder sind seine Nerven diesen ewigen Unruhen nicht gewachsen und sucht er Ruhe?

Noch summte Rist der Kopf von den Ereignissen der Nacht: wie man das ganze Polizeikorps alarmiert und die Gegend durchsucht hatte, jedoch ohne eine Spur des Amerikaners zu finden.

Ein Umstand ging Rist beständig durch den Kopf: Der Mann, der nachts auf das Polizeiamt gekommen war, hatte nicht die leiseste Aehnlichkeit mit dem Amerikaner und der Narbe gehabt. Eher erinnerte er an den mystischen Mann mit dem breitrandigen Hut, der in der vergangenen Nacht aus Baron Mildes Haus am St. Annaplatz gekommen war. Rist rechnete aus, daß nicht mehr als eine halbe Stunde zwischen dem Abschied des Amerikaners aus seinem Hause und seinem Erscheinen aus dem Polizeiamt vergangen sein konnte. Wenn man den Weg berechnete, konnte der Mann nicht mehr als einige Minuten für seine Maskierung übriggehabt haben. Auf alle Fälle mußte er eine Zufluchtsstätte in der Nähe haben. Denn Rist bezweifelte keinen Augenblick, daß der Amerikaner und der nächtliche Besucher ein und dieselbe Person seien.

Während die Nachforschungen noch im Gange waren, wurde der Einbrecher verhört. Er wurde als ein alter Bekannter der Polizei identifiziert. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er nichts weiter mit der unheimlichen Mordgeschichte zu tun, als daß er sie ganz zufällig gestreift hatte.

Indessen wollte Rist der Umstand nicht aus dem Sinn, daß der Amerikaner in dem Augenblick, wo er der Villa einen Besuch abstatten wollte, ausgerechnet auf den Einbrecher stieß.

Wenn Rist sich aber die Ursache zu dem Besuch des Amerikaners erklären wollte, dann saß er vollständig fest. Was hatte er in seiner Villa gesucht? Wenn er nicht in der Eigenschaft als Einbrecher gekommen war, besaß Rist doch ganz und gar nichts, was für diesen Menschen hätte Wert haben können. War es die Absicht des Amerikaners gewesen, ihn zu töten? Warum hatte er sein Vorhaben dann nicht ausgeführt? Dazu hätte er ja reichlich Gelegenheit gehabt. Oder war es wirklich seine Absicht gewesen, Rist davon zu überzeugen, daß man die Sache mit der Verhaftung von Knud Aage Hansen auf sich beruhen lassen und nicht weitergehen sollte? In diesem Fall hatte er sich auf die naivste Weise verrechnet, denn nach der seltsamen Begegnung dieser Nacht war Rist mehr als je aufgelegt, sich weiter in dieses geheimnisvolle Labyrinth zu vertiefen. Aber es war sicher auch nicht seine Absicht gewesen ... Blieb nur noch übrig, den Amerikaner beim Wort zu nehmen, daß er auf solch ungewöhnliche Weise gekommen war, um eine sensationelle Stunde zu erleben, eine Spannung, die nicht vielen vergönnt war, ein Wagestück, ein unheimliches und perverses Spiel mit Leben und Tod. Enevold Rist wünschte von ganzem Herzen, diesem rätselhaften Menschen noch mal zu begegnen, aber das Vorhandensein dieses Menschen erschien ihm gleichzeitig wie eine Warnung und eine Gefahr.

Um elf Uhr traf Rist Sune Arvidson. Nachdem er dem Professor von dem Ereignis der Nacht erzählt hatte, brachte Arvidson ihn auf eine Idee, wie der nächtliche Besuch des Amerikaners erklärt werden könnte. Professor Arvidson machte einen auffallend veränderten Eindruck. Und Rist hatte bereits auf der Treppe zur Wohnung des Arztes eine Begegnung, die ihm im Augenblick ganz zufällig erschien, später aber wieder in seiner Erinnerung auftauchte und dann in einem anderen Licht erschien. Rist stieg diese alte vornehme Treppe nie herauf, ohne an die Mordnacht zu denken. Wie grotesk und verzerrt kam ihm das blutige Ereignis vor im Verhältnis zu dieser stillen Umgebung. Ein Staubstrahl von Sonne sickerte durch die hohen Fenster des Treppenhauses. Auf der Kupferplatte an der Tür leuchtete noch der Name des Ermordeten: Baron von Milde. Als Rist gerade an dieser Tür vorüberging und der schicksalsschweren Ereignisse gedachte, hörte er, wie die Tür der oberen Etage geöffnet und wieder geschlossen wurde, und darauf kamen langsame, beschwerliche Schritte die Treppe herunter. Es war jemand, der aus Professor Arvidsons Wohnung gekommen war. Rist erkannte diesen Mann sofort, als er an ihm vorüberging. Es war Bankdirektor Guggenheim. Die ganze Stadt kannte ja diese vornübergebeugte Gestalt mit dem graubleichen Gesicht und dem asthmatischen Atem. Guggenheim sah Rist an, indem er an ihm vorbeiging, öffnete seine großen, schwarzen Augen weit und starrte ihn an, aber ohne Neugierde. Ohne eigentlich zu wissen, was er tat, zog Rist seine Uhr; es war elf. Es ist mitten in der Geschäftszeit, dachte er bei sich, im Fieber der Stadt warten große Kapitalien darauf, daß sie umplaciert werden, und hier geht dieser Mann, der alle Fäden in seiner Hand hält, der Finanzmatador, in einer öden Seitenstraße und kümmert sich offenbar um nichts. Das muß etwas zu bedeuten haben.

Rist fand Arvidson anders als sonst. Er war jetzt wieder, wie er ihn von seiner Tätigkeit in den Krankenhäusern und Krankenzimmern her kannte, der Arzt im Kampf um Menschenleben. Das nervöse Grübeln, das Ratlose, das ihn während der letzten Wochen so mißkleidet hatte, war jetzt ganz von ihm gewichen und hatte einer energischen Ruhe Platz gemacht. Professor Arvidson war im Begriff, letzte Hand an seine Reisevorbereitungen zu legen; auf dem Fußboden stand ein Handkoffer, darüber war ein Gummimantel und ein Plaid gelegt.

»Wollen Sie weit fort?«

»Ich reise nach Fünen,« sagte der Professor.

»Allein?«

»Ja.«

»Sie wollen nach Marienburg, dem Gut des Ermordeten?«

»Nicht eigentlich, ich will mich nur einige Tage dort in der Nähe aufhalten. Keiner aber darf es wissen.«

»Das versteht sich,« antwortete Rist. Und indem er eine Bewegung zur Tür machte, fügte er hinzu: »Was wollte der hier?«

»Guggenheim?« sagte der Professor, indem er die Stirn runzelte, denn die Frage schien ihm unbequem. »Er hat mich in einer privaten Angelegenheit aufgesucht.«

»Das muß eine sehr wichtige Angelegenheit gewesen sein,« bemerkte Rist, »wenn er Sie mitten in der Geschäftszeit aufsucht. War Guggenheim nicht ein guter Freund von Milde?«

»Ich habe noch nie gehört, daß jemand sich Guggenheims Freund nennen konnte. Aber Milde war ein guter Bekannter von ihm. Er gehörte zu dem Kreis von Verbindungen, die Guggenheim sympathisch sind.«

»Es war ja auch Guggenheim, der an jenem Morgen nach dem Morde mit Ihnen in die Wohnung kam und Milde tot im Stuhle sitzen sah, nicht wahr?«

»Ja, wir hatten zufällig denselben Weg, der Bankier brachte mich in seinem Auto hierher.«

»Und es war ja Guggenheim, der Milde tags zuvor die Hunderttausend in englischem Gold auszahlte.«

»Es war Guggenheims Bank, jawohl,« antwortete der Professor.

Rist stand einen Augenblick und überlegte. Darauf fragte er: »Steht Guggenheims Besuch mit dem Mord in Verbindung?«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß es sich um eine private Angelegenheit handelt. Etwas anderes kann ich Ihnen nicht antworten. Sie müssen nicht vergessen, daß ich Arzt bin.«

»Ich aber kann Ihnen etwas erzählen,« sagte Rist, »ich habe heute nacht mit dem Mörder gesprochen.«

Professor Arvidson betrachtete den Polizeibeamten schweigend, ohne Erstaunen zu verraten.


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