Georg Ebers
Der Kaiser
Georg Ebers

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Fünfundvierzigstes Kapitel

In Alexandria war die Kunde von der Ernennung des »falschen Eros« zum Nachfolger des Kaisers mit Jubel aufgenommen worden, und wiederum benutzten die Bürger diese günstige Gelegenheit, um ein Fest auf das andere folgen zu lassen.

Titianus trug Sorge, daß die üblichen Gnadenakte zur Ausführung kamen, und so öffnete sich auch das Gefängnis von Kanopus, und der Bildhauer Pollux wurde freigelassen.

Der unglückliche Künstler war in der Gefangenschaft wohl bleich geworden, doch weder abgemagert, noch körperlich entkräftet; dagegen schien die Frische seines Gemüts, sein froher Lebensmut und freudiger Schaffensdrang völlig gebrochen.

Auf seinen Zügen malte sich, während er in dem zerrissenen und beschmutzten Chiton von Kanopus nach Alexandria wanderte, weder lebhafte Dankbarkeit für das unerwartete Geschenk der Freiheit, noch Freude über die Aussicht, die Seinen und Arsinoe bald wieder zu finden.

In der Stadt ging er, teilnahmlos vor sich hinbrütend, von einer Straße in die andere, aber er kannte seine Heimat genau, und seine Füße fanden den Weg zu dem Hause der Schwester.

Wie freute sich Diotima, wie jubelten ihre Kinder, wie ungeduldig zeigte sich jedes, ihn zu den Alten zu führen! Wie hoch sprangen vor dem neuen Häuschen Euphorions die Grazien zu dem Heimkehrenden hinan!

Und Doris, der armen Doris vergingen vor freudigem Schreck die Sinne, und ihr Gatte mußte sie in den langen Armen auffangen, als ihr verschwundener und doch nie verloren gegebener Liebling plötzlich vor ihr stand und gelassen sagte: »Da bin ich.« Und wie zärtlich herzte und küßte die Alte sodann den guten bösen, endlich zurückgekehrten Flüchtling!

Auch der Sänger gab seiner Freude in Versen und Prosa lebendigen Ausdruck und holte sein schönstes Theatergewand aus der Truhe, um den zerrissenen Chiton seines Sohnes damit zu vertauschen.

Ein kräftiger Strom von Verwünschungen und Flüchen floß ihm von den Lippen, als Pollux nun seine Geschichte erzählte.

Man machte es dem Bildhauer schwer, sie zu Ende zu bringen; denn der Vater unterbrach ihn bei jedem Worte, und die Mutter zwang ihn während des Redens unaufhörlich zu essen und zu trinken, auch noch, als er nicht mehr konnte.

Nachdem er längst versichert hatte, daß er satt sei, schob sie zwei neue Töpfe ans Feuer; denn er mußte ja im Gefängnis ausgehungert sein, und wenn er jetzt auch schnell gesättigt war, stellte der rechte Hunger sich vielleicht nachher um so kräftiger ein.

Euphorion führte Pollux am Abend selbst ins Bad und wich ihm auch nach ihrer gemeinsamen Heimkehr nicht von der Seite.

Das Bewußtsein, ihn in seiner Nähe zu wissen, tat ihm gut wie eine angenehme körperliche Empfindung.

Der Sänger war sonst nicht neugierig; heute aber hörte er nicht auf zu fragen, bis die Mutter ihren Sohn zu dem frisch gerüsteten Bett führte.

Nachdem der Künstler sich niedergelegt hatte, trat die Alte noch einmal in seine Kammer, küßte ihm die Stirn und sagte:

»Heute dachtest du noch zu viel an den gräßlichen Kerker; morgen aber, mein Junge, nicht wahr, morgen bist du wieder der Alte?«

»Laß nur, Mutter, es wird schon besser,« versetzte er dankbar. »Solches Bett ist ein Schlaftrunk; das Holz im Gefängnis war anders.«

»Nach deiner Arsinoe frugst du noch gar nicht,« bemerkte Doris.

»Was soll ich mit ihr? Jetzt laß mich schlafen.«

Am folgenden Morgen zeigte sich Pollux ebenso wie am vergangenen Abend, und mehrere Tage lang blieb sein Zustand unverändert der gleiche. Er hing den Kopf, sprach nur, wenn man ihn fragte, und so oft Doris oder Euphorion auch versuchten, ihm von der Zukunft zu reden, fragte er: »Bin ich euch lästig?« oder bat: »Ihr sollt mich nicht quälen.«

Dabei war er freundlich, nahm die Kinder der Schwester auf den Arm, spielte mit den Grazien, pfiff den Vögeln etwas vor, ging auf und nieder und stand bei der Mahlzeit tapfer seinen Mann. Dann und wann fragte er auch wieder nach Arsinoe. Einmal ließ er sich auch zu ihrer Wohnung führen, indes pochte er nicht an die Tür Paulinas, und schien sich vor dem stattlichen Hause zu fürchten.

Nachdem er eine Woche untätig und so schlaff und arbeitsscheu dahingedämmert war, daß sich das Herz seiner Mutter, wenn sie ihn anschaute, mit tiefer Besorgnis erfüllte, kam sein Bruder Teuker auf einen glücklichen Gedanken.

Der junge Steinschneider war sonst kein häufiger Gast im Hause der Eltern; doch seit der Heimkehr des armen Pollux besuchte er sie beinahe täglich.

Seine Lehrzeit war vorüber, und er schien auf dem Wege, ein großer Meister in seiner Kunst zu werden. Dennoch schätzte er die Begabung des Bruders viel höher als die eigene und hatte auf Mittel gesonnen, den entschlummerten Schaffenstrieb des Unglücklichen neu zu erwecken.

»An diesem Tische,« erklärte Teuker der Mutter, »pflegt Pollux zu sitzen. Heut abend bring' ich einen Klumpen Ton und ein gutes Stück Wachs. Das alles stellst du auf die Tafel und legst seine Werkzeuge daneben. Wenn er sie sieht, bekommt er vielleicht wieder Lust zur Arbeit. Entschließt er sich, auch nur ein Püppchen für die Kinder zu formen, so kommt er schon wieder in Zug, und nach dem Kleinen geht er zu Größerem über.«

Teuker brachte die versprochenen Dinge, Doris stellte sie auf den Tisch, legte die Werkzeuge daneben und wartete am folgenden Morgen hochklopfenden Herzens auf das Verhalten des Sohnes.

Wie immer seit seiner Heimkehr stand er auch heute spät auf und blieb lange vor der Suppenschüssel sitzen, die die Mutter zum Frühmahl aufgetragen hatte. Dann schlenderte er an einen Tisch, blieb vor ihm stehen, nahm ein Stückchen Ton in die Hand, zerwirbelte es zwischen den Fingern zu Kugeln und Walzen, führte eine davon den Augen näher, um sie genau zu betrachten, warf sie dann auf die Erde und sagte, indem er beide Hände auf die Tafel stützte und sich weit zu der Mutter vorbeugte:

»Ihr wollt, daß ich wieder arbeite; aber es geht nicht; ich bringe doch nichts zustande.«

Der alten Frau traten Tränen in die Augen, doch erwiderte sie ihm nichts.

Am Abend bat Pollux sie, die Werkzeuge fortzulegen.

Nachdem er zur Ruhe gegangen war, tat sie es, und während sie in der dunklen Kammer, in der sie das Gerät mit allerlei unnützen Dingen aufbewahrt hatte, umherleuchtete, fiel ihr Blick auf das begonnene Wachsmodell, die letzte Arbeit ihres unglücklichen Sohnes.

Da kam ihr ein neuer Gedanke.

Sie rief Euphorion, ließ ihn den Ton in den Hof werfen und das Modell neben das Wachs auf den Tisch stellen.

Sie selbst legte genau dieselben Instrumente, die er an dem verhängnisvollen Tage ihrer Vertreibung von der Lochias gebraucht hatte, neben das schön angelegte Bildwerk, und bat ihren Gatten, mit ihr in aller Frühe das Haus zu verlassen und bis Mittag auszubleiben.

»Gib acht,« sagte sie, »wenn er seinem letzten Werke gegenübersteht und keiner ihn stört oder ihm zuschaut, findet er die Enden der zerschnittenen Fäden wieder, und vielleicht gelingt es ihm, sie aufzunehmen und die Arbeit fortzuspinnen, in der man ihn unterbrach.«

Das Mutterherz hatte das Rechte getroffen.

Als Pollux die Suppe gegessen hatte, trat er genau wie gestern an den Tisch; doch der Anblick seiner letzten Arbeit wirkte ganz anders auf ihn als der des Tons und des Wachses.

Die Augen erhellten sich ihm. Mit prüfenden Blicken ging er um den Tisch herum und betrachtete sein Werk so aufmerksam, so gespannt, als sähe er etwas besonders Schönes zum ersten Male. Erinnerungen wurden in ihm lebendig. Laut lachte er auf, schlug in die Hände und murmelte vor sich hin: »Prachtvoll! Aus dem Dinge da kann etwas werden.«

Das matte Wesen wich von ihm, ein zuversichtliches Lächeln trat ihm auf die Lippen, und diesmal griff er fest in das Wachs.

Aber er begann nicht sogleich mit der Arbeit; er prüfte nur, ob er noch Kraft in den Fingern habe und ob der bildsame Stoff geneigt sei, sich seinem Willen zu fügen.

Das Wachs ließ sich nicht weniger gehorsam von ihm biegen und dehnen als in früheren Tagen.

Dann war auch vielleicht die Angst, die ihm das Leben verdarb, die Furcht, daß er im Kerker aufgehört, ein Künstler zu sein, und daß er das alte tüchtige Können eingebüßt habe, nichts als ein törichter Wahn!

Versuchen mußte er wenigstens, ob es mit dem Schaffen noch ging.

Niemand war da, der ihn beobachten konnte, und so mochte denn das Wagnis beginnen.

Heller Angstschweiß perlte ihm auf der Stirn, als er endlich seine Willenskraft fest zusammennahm, die Locken zurückwarf und mit beiden Händen ein großes Stück Wachs ergriff.

Da stand die Antinousstatue mit ihrem halb vollendeten Kopfe.

Ob es ihm wohl noch gelingen konnte, dies schöne Haupt aus freier Hand nachzubilden?

Sein Atem wehte schneller, die Finger zitterten ihm, als er mit der Arbeit begann.

Bald gewannen die Hände die alte Ruhe zurück, der Blick seiner Augen wurde wieder scharf und stetig, und das Werk schritt vorwärts.

Das schöne Antlitz des Bithyniers stand ihm mit greifbarer Deutlichkeit vor Augen, und als vier Stunden später seine Mutter in das Fenster schaute, um zu sehen, was Pollux treibe und ob ihr Anschlag gelungen – da schrie sie laut auf vor freudiger Überraschung; denn ähnlich in jedem Zuge stand das Haupt des Günstlings neben dem begonnenen Modell.

Bevor sie noch die Schwelle überschritten hatte, stürzte der Sohn ihr entgegen, hob sie zu sich empor, küßte ihr die Stirn und den Mund und rief strahlend vor Glück:

»Mutter, ich kann doch noch schaffen; Mutter, Mutter, ich bin nicht verloren!«

Am Nachmittag kam der Bruder des Bildhauers und sah, was Pollux gemacht.

Nun erst konnte Teuker sich recht des Wiedergefundenen freuen.

Während die beiden Künstler zusammensaßen und der Steinschneider dem Bildhauer, der über das schlechte Licht im Hause der Eltern klagte, vorschlug, seine Statue in der hellen Werkstätte seines Meisters zu vollenden, stieg Euphorion still in den hintersten Grund seines Vorratsschuppens und brachte eine Amphora mit edlem Wein von Chios ans Licht, die ihm von einem reichen Kaufherrn geschenkt worden war, für dessen Hochzeit er einem Jünglingschor den Hymenäus einstudiert hatte. Zwanzig Jahre lang verwahrte er schon diesen Krug für ein besonders glückliches Ereignis. Er und seine beste Laute waren die einzigen Gegenstände, die Euphorion mit eigener Hand von der Lochias zu seiner Tochter und dann in sein neues Häuschen getragen hatte.

Würdevoll und stolz stellte der Sänger die alte Amphora vor seine Söhne; Doris aber bedeckte sie schnell mit den Händen und sagte:

»Ich gönne euch wahrhaftig die gute Gabe und tränke auch gern einen Becher mit euch; aber ein kluger Feldherr feiert kein Siegesfest vor der gewonnenen Schlacht. Sobald die Statue des schönen Burschen fertig ist, bekränze ich selbst den ehrwürdigen Krug mit Efeu und bitte dich, ihn uns zu gönnen, mein Alter; doch – es ist gut so – nicht eher!«

»Die Mutter hat recht,« rief Pollux. »Die Amphora ist nun einmal für mich bestimmt, und wenn ihr es erlaubt, so reißt der Vater ihr erst das schwere Pechhaar vom Kopfe, wenn mir meine Arsinoe wieder gehört.«

»Recht so, mein Junge!« fiel ihm Doris ins Wort. »Dann aber bekränz' ich nicht nur den Krug, sondern uns alle mit lauter duftenden Rosen.«

Am nächsten Tage ging Pollux mit dem begonnenen Modell in die Werkstätte des Meisters seines Bruders.

Der würdige Künstler räumte dem Bildhauer den besten Platz ein, denn er schätzte ihn hoch und meinte das Anrecht, das dem armen jungen Manne durch den nichtswürdigen Papias zugefügt worden war, soweit es an ihm lag, gutmachen zu sollen.

Vom Aufgang der Sonne bis der Abend sich neigte war Pollux nun bei der Arbeit.

Mit wahrer Leidenschaft gab er sich der neu erwachenden Schaffensfreude hin. Statt des Wachses bediente er sich des Tons und bildete eine hohe Figur, die Antinous als jungen Bacchus darstellte, wie er den Seeräubern erschienen. Ein langer, faltiger Mantel floß ihm leicht von der linken Schulter bis zu den Knöcheln nieder und ließ die runde, schön gewölbte Brust und den rechten Arm völlig frei. Weinlaub und Trauben schmückten ihm das reiche Lockenhaar, und ein Pinienapfel krönte ihm, einer Flamme vergleichbar, den Scheitel. Der linke Arm war in anmutiger Biegung erhoben. In den leicht gekrümmten Fingern spielte der hohe Thyrsusstab, der sich auf den Boden stützte und das herrliche Haupt des neuen Gottes überragte. Halb von dem Mantel verborgen stand neben dieser unvergleichlichen Jünglingsgestalt ein prächtiger Weinkrug.

Eine Woche lang hatte Pollux, solange es Tag war, sich seiner Aufgabe mit allem Fleiß und Eifer hingegeben. Bevor die Nacht anbrach, pflegte er die Arbeit abzuschließen und vor dem Haus Paulinas auf und nieder zu gehen; einstweilen unterließ er es jedoch, an die Tür zu klopfen und nach der Geliebten zu fragen. Er wußte von der Mutter, wie ängstlich seine Braut vor ihm und den Seinen behütet wurde; die Strenge der Christin hätte den Künstler indessen wahrlich nicht gehindert, den Versuch zu wagen, sich seines teuersten Besitzes zu bemächtigen. Was ihn abhielt, sich jetzt Arsinoe auch nur zu nähern, war das Gelübde, das er sich selbst gegeben, sie nicht eher aus ihrer neuen, sicheren Heimat zu locken, als bis er die feste Überzeugung gewonnen, immer noch ein Künstler zu sein, der hoffen konnte. Großes zu schaffen, und es wagen durfte, das Geschick eines geliebten Wesens an sein Dasein zu ketten.

Als er am Morgen des achten Arbeitstages ein wenig ausruhte, trat der Meister seines Bruders vor das fortschreitende Werk und rief, nachdem er es lange betrachtet:

»Herrlich, herrlich; unsere Zeit schuf, mein' ich, nichts Gleiches!«

Eine Stunde später stand Pollux vor dem Stadthause Paulinas und ließ den Klopfer kräftig auf die Tür fallen.

Der Hausmeister öffnete ihm und fragte nach seinem Begehr. Er verlangte Frau Paulina zu sprechen; doch sie war nicht zu Hause.

Dann fragte der Bildhauer nach Arsinoe, der Tochter des Keraunus, die bei der Witwe Aufnahme gefunden.

Der alte Diener schüttelte das Haupt und sagte:

»Die Herrin läßt sie verfolgen. Seit gestern abend ist sie verschwunden. Ein undankbares Geschöpf! Schon mehrmals hatte sie zu entwischen versucht.«

Der Künstler lachte, schlug dem Hausmeister auf die Schulter und rief:

»Ich finde sie schon!«

Dabei sprang er auf die Straße und eilte zu den Eltern zurück.

Arsinoe hatte viel Gutes im Hause Paulinas erfahren, aber auch manche schlimme Stunde in ihm verlebt.

Monatelang war sie des Glaubens gewesen, ihr Geliebter sei umgekommen.

Pontius hatte ihr mitgeteilt, Pollux sei verschwunden, und ihre Wohltäterin pflegte von ihm nur wie von einem Verstorbenen zu reden.

Das arme Kind hatte ihm manche Träne nachgeweint. Als die Sehnsucht, mit jemand, der ihn liebgehabt, über ihn zu reden, sie endlich übermannt hatte, bat sie Paulina, ihr zu gestatten, seine Mutter besuchen oder doch Frau Doris zu sich bescheiden zu dürfen.

Aber die Witwe befahl ihr, jeden Gedanken an den Götzenbildner und seinen Anhang aufzugeben, und sprach mit Verachtung von der Torhütersfrau.

Gerade in dieser Zeit verließ auch Selene die Stadt, und nun wuchs die Sehnsucht, die alten Freunde wiederzusehen, in dem vereinsamten Mädchen bis zur Leidenschaft an.

Eines Tages folgte sie dem Drange ihres Herzens und schlich sich auf die Straße, um Doris aufzusuchen. Aber der Pförtner, dem Paulina den Auftrag gegeben, ihr den Ausgang aus dem Tor niemals ohne ihre besondere Erlaubnis zu gestatten, bemerkte sie und führte sie nicht nur dies eine Mal, sondern auch bei mehreren späteren Fluchtversuchen zu der Pflegemutter zurück.

Es war nicht allein die Sehnsucht nach einem Gespräch über Pollux, die Arsinoe den Aufenthalt in ihrem neuen Heim unerträglich machte, sondern noch mancher andere Grund.

Sie fühlte sich wie eine Gefangene, und sie war es in der Tat; denn nach jedem Fluchtversuche erlitt die Freiheit ihrer Bewegungen größere Beschränkung.

Zwar hatte sie bald verlernt, sich geduldig in alles, was von ihr verlangt wurde, zu fügen, und sie war sogar ihrer Pflegemutter oft mit heftigen Worten, Tränen und Verwünschungen entgegengetreten; aber diese unerfreulichen Auftritte, die stets mit der Versicherung Paulinas, daß sie ihr vergebe, ein Ende nahmen, hatten stets lange Pausen in den Spazierfahrten und mancherlei kleine Kränkungen zur Folge gehabt.

Arsinoe begann ihre Wohltäterin und alles, was von ihr ausging, zu hassen. Auch die Unterrichts- und Gebetszeiten, denen sie sich nicht entziehen konnte, wurden für sie zu wahren Marterstunden. Bald verwechselte sie die Lehre, für die sie gewonnen werden sollte, mit derjenigen, die sie ihr aufdrängen wollte, und verschloß ihr trotzig das Herz.

Der Bischof Eumenes, der im Frühling zum Patriarchen der alexandrinischen Christen erwählt worden war, besuchte sie im Sommer, während Paulina das Landhaus bewohnte, häufiger als sonst. Ihre Pflegemutter glaubte zwar, daß sie seiner Hilfe entbehren und ihre Aufgabe allein zu Ende führen könne und müsse; der würdige Greis hatte indes dem armen, schlecht geleiteten Kinde seine Teilnahme zugewandt und suchte es zu beruhigen und ihm das Ziel, zu dem Paulina es führen wollte, in seiner ganzen Schönheit zu zeigen.

Nach solchen Gesprächen wurde Arsinoe weich und fühlte sich geneigt zu glauben und Gott und Christus zu lieben; – sobald die Pflegemutter sie aber wieder in das Lehrzimmer rief und ihr dieselben Dinge in ihrer Weise vortrug, schnürte sich das Herz der Jungfrau zusammen, und wenn sie beten sollte, erhob sie zwar die Hände, doch betete sie schon aus Trotz nur zu den hellenischen Göttern. Manchmal wurde Paulina von heidnischen Frauen in reichem Putze besucht, und ihr Anblick erinnerte Arsinoe immer an frühere Tage. Wie arm war sie damals gewesen; und doch hatte sie immer ein blaues oder rotes Band besessen, um das Haar damit zu durchflechten und den Peplos zu umsäumen.

Jetzt durfte sie nur noch weiße Gewänder tragen, und auch der ärmlichste bunte Schmuck, um die Locken oder das Kleid zu verzieren, wurde ihr streng entzogen. Solch eitler Tand, pflegte Paulina zu sagen, sei gut für die Heiden, der Herr sähe nicht auf den Leib, sondern in die Herzen.

Ach – das arme Herz des unglücklichen Kindes konnte dem Vater im Himmel wahrlich keinen erfreulichen Anblick gewähren; denn es tobten darin Haß und Überdruß, Kummer, Ungeduld und Lästerung von früh bis zum Abend.

Dies junge Gemüt war gewiß für Liebe und Frohsinn geschaffen, und dennoch hatten beide es trauernd verlassen.

Aber Arsinoe hörte nicht auf, sich nach beiden zu sehnen.

Als der November begann und ihr beim Umzug in das Stadthaus ein neuer Fluchtversuch mißglückt war, versuchte Paulina sie damit zu strafen, daß sie vierzehn Tage lang kein Wort mit ihr sprach und auch den Sklavinnen verbot, mit ihr zu reden.

In diesen Wochen war das gesprächige Griechenkind der Verzweiflung nahe, ja es kam ihm ernstlich der Gedanke, auf das Dach zu fliehen und sich in den Hof zu stürzen. Aber Arsinoe hing zu fest am Leben, um diesen gräßlichen Vorsatz zur Ausführung zu bringen. Am ersten Dezember sprach Paulina wieder mit ihr, verzieh ihr wie immer in einer langen, gütigen Rede ihren Undank und nannte ihr die Zahl der Stunden, die sie im Gebet für ihre Besserung und Erleuchtung zugebracht habe.

Paulina sagte die Wahrheit, indessen doch nur die halbe; denn sie hatte niemals die rechte Liebe für Arsinoe empfunden und sah sie längst mit Abneigung kommen und gehen; doch sie brauchte ihre Bekehrung, damit durch sie der heißeste Wunsch ihres Herzens Erfüllung fände.

Um der Seligkeit ihrer verstorbenen Tochter, nicht um der widerspenstigen Hausgenossin willen flehte sie um ihre Erleuchtung, ließ sie nicht nach in der Bemühung, das verstockte Herz ihres Pfleglings dem Glauben zu öffnen.

Am Nachmittag, der dem Morgen vorausging, an dem Pollux endlich an die Pforte der Christin klopfte, schien die Sonne besonders hell, und Paulina hatte dem Pfleglinge mit ihr auszufahren gestattet.

Bei einer christlichen Familie, die am Ufer des mareotischen Sees wohnte, hatte sie sich längere Zeit aufgehalten, und so war es gekommen, daß ihre Heimkehr sich bis zum Abend verspätet.

Arsinoe hatte längst gelernt, während sie scheinbar zu Boden blickte, aus der Kutsche zu schauen und alles zu sehen, was sich an ihnen vorbei bewegte. Als der Wagen nun in ihre Straße eingebogen war, hatte sie von fern einen großen Mann bemerkt, der ihrem vielbeweinten Pollux gleichsah.

Tief atmend hatte sie die Augen auf ihn geheftet und sich Zwang antun müssen, um nicht laut aufzuschreien; denn er und kein anderer war es, der dort langsam die Straße hinabging. Sie konnte sich nicht irren – hatten doch die Fackeln zweier Sklaven, die einer Sänfte vorangingen, ihn hell beleuchtet.

Er war nicht verloren, er lebte, er suchte sie!

Am liebsten hätte sie laut aufgejubelt vor Wonne, doch sie hatte sich nicht geregt, bis der Wagen Paulinas vor ihrem Hause stillgestanden war.

Wie immer hatte der Pförtner sich beeilt, um der Herrin beim Aussteigen aus der hochgebauten Rheda zu helfen. Jetzt wandte Paulina Arsinoe den Rücken, und im gleichen Augenblick war sie aus der entgegengesetzten Seite der bedeckten Kutsche gesprungen und die Straße hinuntergeeilt, in der sie den Geliebten gesehen.

Bevor ihre Pflegemutter ihr Verschwinden bemerken konnte, befand sich die Fliehende mitten unter den Tausenden, die zur Zeit des Feierabends aus den Werkstätten und Fabriken nach Hause strömten.

Die Sklaven Paulinas, die sogleich ausgesandt wurden, um den Flüchtling zu fangen, mußten diesmal unverrichteter Sache heimkehren; aber auch Arsinoe wollte es nicht gelingen, den Wiedergekehrten, den sie aus den Augen verloren, zu finden.

Eine Stunde lang schaute sie vergeblich nach ihm aus. Dann sah sie ein, daß ihr Suchen erfolglos sein würde, und fragte sich, wie sie an das Haus seiner Eltern gelangen könnte. Lieber als zu ihrer Wohltäterin zurückzukehren hätte sie sich zu den Obdachlosen gestellt, die unter den Vorhallen der Tempel auf hartem Marmor die Nacht verbrachten.

Zuerst hatte sie sich glücklich im Besitz der neu erworbenen Freiheit gefühlt; als ihr aber kein Vorübergehender zu sagen vermochte, wo der Sänger Euphorion wohnte, und junge Männer ihr folgten und ihr freche Worte zuriefen, trieb sie die Angst eine Straße hinunter, die in das Bruchium führte.

Die Verfolger hatten sie noch nicht verlassen, als eine von Liktoren und vielen Fackelträgern begleitete Sänfte an ihr vorüberzog.

Frau Julia, die gütige Gattin des Statthalters, saß in ihr. Arsinoe erkannte sie sofort, folgte ihr und gelangte zugleich mit ihr an die Pforte der Präfektur.

Während die Matrone ausstieg, bemerkte sie das Mädchen, das sich bescheiden, doch mit bittend erhobenen Händen zur Seite ihres Weges hingestellt hatte.

Julia begrüßte das anmutige Geschöpf, für das sie schon einmal mütterlich gesorgt, mit herzlicher Teilnahme, winkte Arsinoe zu sich heran, hörte ihr lächelnd zu, als sie um Unterkunft für die Nacht bat, und führte sie froh gestimmt zu dem Gatten.

Titianus war leidend, aber er freute sich, die schöne Tochter des unglücklichen Palastverwalters wiederzusehen, hörte die Geschichte ihrer Flucht mit manchen Zeichen der Mißbilligung, aber doch gütig an und äußerte das lebhafteste Vergnügen, als er erfuhr, daß der Bildhauer Pollux noch unter den Lebenden weilte.

Das hohe, reich verzierte Bett in einem Fremdenzimmer der Präfektur hatte manchen vornehmeren Gast, aber keinen beherbergt, der sich an schöneren Träumen erfreut hätte als der arme, elternlose junge Flüchtling, der gestern noch unter Tränen entschlummerte.


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