Georg Ebers
Der Kaiser
Georg Ebers

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Neununddreißigstes Kapitel

Es gibt schöne warme Tage im Februar; wer aber glaubt, daß sie den Frühling bringen, der täuscht sich.

Die herbe, harte Sabina hatte auf Stunden weiche, weibliche Regungen über sich Herr werden lassen, sobald sie aber die Sehnsucht ihres nach mütterlichem Glück lechzenden Gemütes erfüllt sah, zog sich ihr Herz wieder zusammen und das Feuer, das ihr die Brust erwärmt hatte, erlosch.

Jeder, der ihr nahte, und auch ihr Gemahl, fühlte sich durch ihr Wesen wiederum erkältet und abgestoßen.

Verus war erkrankt.

Die ersten Anzeichen eines Leberleidens, das ihm die Ärzte in Aussicht gestellt hatten, wenn er, der Europäer, sein ausschweifendes römisches Leben in Alexandria fortsetze, begannen ihm viele böse Stunden zu bereiten.

Mit Ungeduld trug er die ersten körperlichen Schmerzen, die das Schicksal ihm auferlegte.

Selbst der großen Kunde, die Sabina ihm überbrachte und die seine kühnsten Hoffnungen verwirklichte, wohnte die Kraft nicht inne, ihn mit der neuen Empfindung des Krankseins zu versöhnen.

Er erfuhr auch, daß die Besorgnisse Hadrians vor dem überhellen Glanz seiner Sterne ihn beinahe um die Adoption gebracht hätten, und weil er sicher glaubte, daß er sich beim Löschen des von Antinous angelegten Feuers sein Leiden zugezogen habe, bereute er bitter seinen hinterlistigen Eingriff in die Berechnungen des Kaisers.

Der Mensch läßt gern jede Last, und besonders die einer verübten Schuld von anderen mittragen, und so verwünschte der leidende Prätor den Antinous und die Wissenschaft des Simeon Ben Jochai, weil ja die Freveltat, durch die ihm die Lust des Lebens getrübt ward, ohne sie ungeschehen geblieben wäre.

Hadrian hatte die Alexandriner ersucht, die für ihn vorbereiteten Schauspiele und Aufzüge zu verschieben; denn seine Beobachtungen für den Lauf der Schicksale des folgenden Jahres waren noch nicht beendet. Allabendlich begab er sich nun auf die hohe Warte des Serapeums und schaute von dort aus nach den Sternen. Am zehnten Januar schloß er die Arbeit ab. Am elften begannen die Festlichkeiten. Sie nahmen viele Tage in Anspruch. Die Roxane wurde auf Wunsch des Prätors von der schönen Tochter des Juden Apollodor dargestellt.

Alles, was die Alexandriner dem Kaiser boten, war großartig und glänzend.

So viel Schiffe wie hier waren in keiner anderen Naumachie bei einer zum Schein gelieferten Seeschlacht zertrümmert worden, eine größere Zahl von wilden Tieren hatte man selbst im römischen Zirkus bei keiner Gelegenheit zusammen gesehen. Und wie blutig fielen die Gladiatorengefechte aus, bei denen schwarze und weiße Kämpfer eine bunte, Herz und Sinn erregende Abwechslung boten.

Bei den Aufzügen gab es infolge der verschiedenen Elemente, die diese Vereinigungsstätte der ägyptischen, griechischen und orientalischen Kultur zu stellen vermochte, so mannigfaltige Augenweide, daß sie trotz ihrer übertriebenen Länge weniger ermüdend wirkten, als die Römer gefürchtet hatten.

Die Aufführungen der Tragödien und Komödien waren so reich mit überraschenden Effekten: Feuersbrünsten, Wassersfluten und dergleichen ausgestattet und gaben den alexandrinischen Schauspielern Gelegenheit, ihre Kunst so glänzend zu bewähren, daß Hadrian und seine Begleiter gestehen mußten, selbst in Rom und Athen keinen Darstellungen von gleicher Vollendung beigewohnt zu haben.

Ein Stück des Juden Ezechiel, der unter den Ptolemäern in griechischer Sprache Dramen geschrieben hatte, die Stoffe aus der Geschichte seines Volkes behandelten, nahm die besondere Aufmerksamkeit des Kaisers in Anspruch.

Der Präfekt Titianus wurde während dieser Festzeit schwer von alten Atembeschwerden gequält und hatte dabei alle Hände voll zu tun; gleichwohl half er dem Baumeister Pontius redlich bei der Aufsuchung des Bildhauers Pollux.

Beide Männer taten ihr Bestes; wenn es ihnen aber auch bald gelang, Frau Doris und Euphorion zu finden, blieb dagegen jede Spur ihres verschwundenen Sohnes verloren.

Papias, der frühere Meister des jungen Mannes, befand sich nicht mehr in der Stadt, sondern war von Hadrian nach Italien gesandt worden, um dort in seiner Villa zu Tibur Zentauren und andere Figuren auszuführen. Seine zurückgebliebene Gattin versicherte, nichts von Pollux zu wissen, als daß er ihrem Manne in roher Weise den Dienst gekündigt habe.

Die Arbeitsgenossen des Unglücklichen konnten gar keine Auskunft über ihn geben; denn niemand von ihnen hatte der Verhaftung beigewohnt. Papias war vorsichtig genug gewesen, den Mann, den er fürchtete, ohne Zeugen in Sicherheit bringen zu lassen.

Weder der Präfekt noch der Baumeister suchten den braven Burschen im Gefängnisse, und hätten sie es getan, würden sie ihn kaum gefunden haben; denn Pollux wurde nicht in Alexandria selbst in Haft gehalten. Die Gefängnisse der Stadt waren nach dem Feste überfüllt gewesen, und so hatte man ihn in das benachbarte Kanopus geführt und dort eingekerkert und abgeurteilt.

Pollux hatte ohne Rückhalt zugestanden, den silbernen Köcher genommen zu haben und sich dann den Anschuldigungen seines Meisters gegenüber höchst ungebärdig betragen. So machte er von vornherein einen ungünstigen Eindruck auf den Richter, während dieser Papias als einen reich begüterten und allgemein hochgeschätzten Mann achtete.

Man hatte dem Angeklagten kaum das Wort gegönnt und ihm auf seines Meisters schwere Beschuldigungen und sein eigenes Geständnis hin schnell das Urteil gesprochen.

Den Märchen zuzuhören, die dieser freche Gesell, der jede Rücksicht vergaß, die er seinem Lehrherrn und Wohltäter schuldete, den Richtern auftischen wollte, wäre ein Zeitverderb gewesen. Zwei Jahre des Nachdenkens, meinte der Hüter des Gesetzes, würde diesen gefährlichen Burschen lehren, fremdes Eigentum zu achten und sich vor Ausschreitungen gegen diejenigen zu hüten, denen er Dankbarkeit und Verehrung schuldete.

Pollux verwünschte im Gefängnis zu Kanopus sein Schicksal und hoffte vergeblich auf den Beistand der Freunde. Diese wurden endlich des vergeblichen Suchens müde und fragten nur noch gelegentlich nach ihm. Er benahm sich in der Haft anfänglich so widerspenstig, daß man ihn unter strengen Verschluß nahm, aus dem man ihn auch dann nicht entließ, als er, statt zu toben, still geworden war und in dumpfem Brüten die Tage verträumte. Sein Wächter kannte die Menschen und glaubte sicher vorhersagen zu dürfen, daß dieser junge Dieb, wenn seine zwei Jahre vorüber wären, als ein unschädlicher Geisteskranker den Kerker verlassen würde.

Titianus, Pontius, Balbilla und selbst Antinous hatten es versucht, mit dem Kaiser über ihn zu reden, doch waren sie sämtlich scharf zurückgewiesen und belehrt worden, daß Hadrian keine Kränkung seines Künstlerstolzes vergesse.

Aber der Herrscher bewies auch, daß er für Gutes, das er erfahren, ein treues Gedächtnis besaß; denn, als ihm einmal ein Gericht aufgetragen wurde, das Kohl und kleine Würste enthielt, lächelte er vor sich hin, griff nach seinem mit Goldstücken gefüllten Beutel und befahl einem Kämmerer, ihn der von der Lochias verwiesenen Torwächtersfrau Doris in seinem Namen zu überbringen.

Das alte Ehepaar wohnte jetzt in einem eigenen Häuschen in der Nähe des Quartiers seiner verwitweten Tochter Diotima.

Hunger und äußeres Elend blieben ihm fern, doch war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen.

Die Augen der armen Doris waren entzündet; denn die Tränen hatten sich an sie gewöhnt, ließen sie selten trocknen und flossen über, sobald nur ein Wort, ein Gegenstand, ein Gedanke sie an Pollux, ihren Liebling, ihren Stolz, ihre Hoffnung erinnerte. Und wie wenige halbe Stunden besaß der Tag, in denen sie nicht an ihn dachte!

Bald nach dem Tode des Verwalters hatte sie Selene aufgesucht; Frau Hanna konnte und wollte sie aber nicht zu der Kranken führen; denn sie wußte von Maria, daß sie die Mutter des treulosen Geliebten ihres Pfleglings sei.

Bei einem zweiten Besuche zeigte sich Selene so scheu, so ängstlich und sonderbar gegen Doris, daß die alte Frau glauben mußte, ihr Besuch sei ihr lästig.

Bei Arsinoe, deren Wohnung sie durch die Diakonissin kannte, war sie noch übler angekommen.

Sie hatte sich als Mutter des Bildhauers Pollux anmelden lassen und war mit dem Bescheid, daß Arsinoe für sie nicht zu sprechen sei und sich ihren Besuch ein für allemal verbitte, zurückgewiesen worden.

Nachdem der Baumeister Pontius sie aufgesucht und ermutigt hatte, noch einmal zu versuchen, Arsinoe, die treu an ihrem Sohne hänge, im Hause seiner Schwester zu sehen und zu sprechen, war sie Paulina selbst begegnet und so scharf von ihr zurückgewiesen worden, daß sie beleidigt und bis zu Tränen gekränkt zu ihrem Manne heimkam. Sie hatte auch Euphorion nicht widersprochen, als er ihr verbot, jemals wieder das Christenhaus zu betreten.

Das Geschenk des Kaisers war der Armen sehr willkommen und nützlich gewesen; denn Euphorion hatte durch die Erregungen und den Kummer in den letzten Monden den Schmelz der Stimme und das Gedächtnis völlig eingebüßt, war aus dem Theaterchor entlassen worden und fand nur noch bei der Mysterienfeier von kleinen Sekten oder bei der Einübung von Hymenäen und Klageliedern um einige Drachmen Entgelt einen Platz unter den Sängern.

Dabei hatten die Alten ihre Tochter, der Pollux nicht mehr beistehen konnte, zu unterstützen, und die Vögel, die Grazien und die Katze wollten auch fressen.

Daß es möglich wäre, sie abzuschaffen, war weder Doris noch Euphorion auch nur von fern in den Sinn gekommen.

Bei Tage konnte die Alte nicht mehr lachen; – bei Nacht aber hatte sie manche gute Stunde; denn dann zeigte die Hoffnung ihr schöne Zukunftsbilder und erzählte ihr allerlei mögliche und unmögliche Geschichten, die ihr das Herz mit neuem Mute beseelten.

Wie oft sah sie dann Pollux aus der fernen Stadt, in die er vielleicht geflohen war, aus Rom oder gar aus Athen als großen Mann, mit Lorbeer geschmückt und reich an Schätzen zurückkehren!

Der Kaiser, der doch noch freundlich an sie dachte, konnte nicht ewig zürnen. Vielleicht schickte er einmal seine Boten aus, um Pollux zu suchen, und um durch große Aufträge wieder gutzumachen, was er ihm angetan hatte.

Daß ihr Liebling am Leben sei, das wußte sie, darin täuschte sie sich gewiß nicht, so oft auch Euphorion ihr zu beweisen versuchte, daß er gestorben sein müsse. Der Sänger wußte viele Geschichten von unglücklichen Menschen zu erzählen, die ermordet worden und niemals wieder zum Vorschein gekommen waren; aber sie ließ sich nicht überzeugen, fuhr fort zu hoffen und lebte sich ganz in den Vorsatz ein, ihren jüngeren Sohn Teuker, sobald seine Lehrzeit abgeschlossen war, also in einigen Monaten, auf Reisen zu schicken, um den verschollenen Bruder im ganzen römischen Reiche zu suchen.

Antinous, dessen verbrannte Hände unter der Pflege des Kaisers schnell geheilt waren, und der außer für Pollux nie für einen anderen Jüngling Freundschaft empfunden hatte, beklagte das Verschwinden des Künstlers und nahm sich vor, Frau Doris aufzusuchen. Aber er trennte sich jetzt schwerer denn je von dem Gebieter, und war ihm so eifrig zur Hand, daß Hadrian ihm manchmal freundlich vorwarf, er mache seinen Sklaven den Dienst zu leicht.

Wenn er wirklich einmal über eine Stunde verfügen konnte, ließ er es trotzdem bei dem Vorsatz, nach den Eltern des Freundes zu sehen; denn zwischen Wollen und Vollbringen lag bei ihm ein weites Feld, das niemals überschritten wurde, wenn ihn keine heftigen Antriebe drängten.

Dergleichen waren es, die ihn, wenn der Kaiser im Museum disputierte, oder sich durch die Führer der verschiedenen Religionsgenossenschaften über den Inhalt der Lehren, denen sie folgten, unterrichten ließ, zu dem Landhause führten, in dem Selene auch noch, nachdem der Februar begonnen, verweilte. Es war ihm mehrmals gelungen, sich in den Garten Paulinas zu stehlen; doch die Hoffnung, von Selene bemerkt zu werden und mit ihr zu sprechen, wollte sich anfänglich nicht verwirklichen lassen.

So oft er sich dem Hause Hannas näherte, vertrat ihm die verwachsene Maria den Weg, erzählte ihm, wie ihre Freundin sich befinde, und bat oder befahl ihm dann, sich zu entfernen.

Sie war immer in der Nähe der Kranken; denn ihre Mutter wurde jetzt von ihrer Schwester gepflegt, und Frau Hanna hatte für sie die Erlaubnis erwirkt, die Papyrusblätter zu Hause kleben zu dürfen.

Die Witwe selbst durfte in der Fabrik nicht fehlen; denn ihr Amt als Aufseherin machte ihre Anwesenheit in der Werkstätte notwendig.

So kam es, daß Antinous niemals von Hanna und immer nur von Maria empfangen und von ihr abgewiesen wurde.

Zwischen dem schönen Jüngling und dem mißgestalteten Mädchen hatte sich eine gewisse Beziehung gebildet.

Wenn Antinous kam und sie ihm ihr: »Schon wieder?« zurief, faßte er ihre Hand und bat sie innig, doch nur ein einziges Mal seinen Wunsch zu erfüllen. Sie blieb indes standhaft, doch wies sie ihn nie streng, sondern immer nur lächelnd und mit freundlichen Mahnungen zurück.

Wenn er ausgesucht schöne Blumen aus seinem Pallium hervorzog und sie anflehte, sie Selene im Namen ihres Freundes von der Lochias zu geben, so nahm sie das Geschenk an und versprach, es in ihr Zimmer zu stellen; aber es könnte, versicherte sie, weder ihm noch ihr nützen, wenn sie wüßte, von wem es komme.

Nach solchen Abweisungen verstand er es wohl, mit herzgewinnenden Worten zu schmeicheln; doch ihr zu trotzen und sein Ziel mit Gewalt zu erreichen, hatte er niemals gewagt.

Wenn die Blumen im Zimmer standen, sah Maria weit öfter nach ihnen als Selene.

Blieb Antinous einmal lange aus, so sehnte die Verwachsene sich nach seinem Anblick und ging in der Stunde, in der er zu erscheinen pflegte, unruhig zwischen dem Tore des Gartens und dem Häuschen der Freundin auf und nieder.

So wie ihn dachte sie sich die Engel, und die Engel, an die sie dachte, sahen bald nicht anders als er aus.

In jedes ihrer Gebete schloß sie den armen, schönen Heiden mit ein. Milde Zärtlichkeit, in die sich manchmal ein leises Weh mischte, das sie auf ihren Schmerz über seine verlorene Seele bezog, war von ihren Gedanken an ihn untrennbar.

Hanna wurde durch sie von jedem neuen Besuche des jungen Mannes unterrichtet, und so oft Maria von Antinous redete, zeigte sich die Diakonissin besorgt und hieß sie ihm drohen, daß sie den Torwächter rufen würde.

Die Witwe wußte, wer der unermüdliche Bewunderer ihres Pfleglings war; denn einmal hatte sie ihn mit Mastor reden hören und ihn, der jede freie Stunde benützte, um dem Gottesdienste der Christen beizuwohnen, gefragt, wer er sei.

Ganz Alexandria, ja das ganze Reich kannte den Namen des schönsten Jünglings seiner Zeit, des gefeierten Günstlings des Kaisers.

Auch Hanna hatte von ihm gehört und erfahren, daß ihn die Dichter besangen und heidnische Frauen begierig waren, einen Blick aus seinen Augen zu erhaschen. Sie wußte, wie sittenlos das Treiben unter den Großen in Rom war, und Antinous erschien ihr wie ein glänzender Falke, der eine Taube umkreist, um im günstigen Augenblick auf sie herabzustoßen und sie mit Schnabel und Fängen zugrunde zu richten.

Hanna wußte auch, daß Selene Antinous kannte, und daß er es gewesen war, der sie einmal von einer wütenden Dogge befreit und dann aus dem Wasser gezogen hatte; aber die Genesende ahnte nicht, wer ihr Retter war. Das ging aus vielen ihrer Reden hervor.

Am Ende des Februar hatte Antinous sich drei Tage hintereinander gezeigt; nun ließ Hanna dem Pförtner durch den Bischof Eumenes streng befehlen, auf den jungen Mann acht zu haben und ihm den Eintritt in das Landhaus, wenn es sein müßte auch mit Gewalt, zu verwehren.

Aber die Liebe findet den Weg auch durch verschlossene Türen, und es gelang Antinous dennoch, sich in den Garten Paulinas zu schleichen.

Bei einem dieser Besuche konnte er Selene belauschen, wie sie, auf einen Stab gestützt, von einem schönen blondlockigen Knaben und Frau Hanna begleitet, auf und nieder hinkte.

Antinous hatte alles Krüppelhafte als einen Fehlgriff der harmonisch bildenden Natur nicht freundlich zu bemitleiden, sondern mit Widerwillen von ihm hinweg zu schauen gelernt.

Hier empfand er ganz anders.

Die verwachsene Maria war ihm anfänglich abschreckend erschienen; jetzt freute er sich, wenn er sie sah, obgleich sie stets seine Wünsche kreuzte, und die lahme Selene, der die Gassenbuben »klipp, klapp!« nachgerufen hatten, erschien ihm anbetungswürdiger denn je.

Wie schön war ihr Antlitz und ihre Gestalt, wie eigentümlich ihr Schritt! Sie hinkte nicht, nein, sie wiegte sich durch den Garten. So, dachte er später, ließen sich die Nereiden von leicht bewegten Wogen forttragen.

Die Liebe begnügt sich mit allem, und das wird ihr nicht schwer; denn sie weiß, was sie auch immer umfaßt, in eine höhere Ordnung des Seins zu erheben. In ihrem Lichte wird die Schwäche zur Tugend, der Mangel zum Vorzug.

Die Besuche des Bithyniers waren nicht die einzige Sorge Frau Hannas. Die anderen trug sie freilich nicht bang, sondern mit Freuden.

Ihr Hausstand hatte sich um zwei Menschen vermehrt, und ihr Einkommen war klein.

Um die Pfleglinge nicht darben zu lassen, mußte sie, während sie die Mädchen in der Fabrik beaufsichtigte, auch die eigenen Hände rühren, und am Abend nicht nur für Maria, sondern auch für sich selbst Papyrusblätter mit nach Hause nehmen, um sie in langer Nachtarbeit zusammenzukleben.

Sobald der Zustand Selenes sich gebessert hatte, half sie ihr gern und fleißig – aber wochenlang hatte die Genesende von jeder Beschäftigung fern gehalten werden müssen. Maria schaute Hanna oft mit stiller Besorgnis an; denn sie sah jetzt sehr bleich aus.

Nachdem sie einmal ohnmächtig zusammengesunken war, hatte die Verwachsene sich ein Herz gefaßt und ihr vorgestellt, daß sie mit dem Pfunde, das der Herr ihr gegeben, wohl wuchern, es aber nicht wie eine Verschwenderin fortschenken dürfe. Sie gönne sich gar keine Ruhe, arbeite Tag und Nacht, besuche nach wie vor in den Erholungsstunden die Häuser der Armen und Kranken, und werde, wenn sie sich nicht mehr Ruhe gönne, bald statt pflegen zu können, der Pflege bedürfen.

»Gönne dir doch,« sagte Maria, »wenigstens in der Nacht den unentbehrlichen Schlaf.«

»Wir müssen leben,« entgegnete Hanna, »und wie darf ich borgen, da ich doch nicht wiederzugeben vermag.«

»Bitte Paulina,« riet das Mädchen, »dir den Mietzins zu erlassen – sie tut es gern.«

»Nein,« entgegnete Hanna entschieden. »Was dies Häuschen abwirft, kommt meinen Armen zugute, und du weißt doch, wie nötig sie es haben. Was wir geben, das leihen wir unserem Herrn, und er besteuert keinen über sein Vermögen.«

Selene war genesen; doch hatte der Arzt erklärt, daß keines Menschen Kunst sie jemals von ihrer Lahmheit zu befreien vermöge. Sie war die Tochter Hannas, der blinde Helios die Sonne des Hauses der Diakonissin geworden.

Arsinoe durfte ihre Schwester selten und nur in Begleitung der Pflegemutter besuchen. Es kam auch zwischen ihr und Selene nie zu einem ungehemmt offenen Gespräch. Die ältere Tochter des Verwalters war jetzt zufrieden und heiter, die jüngere nicht nur traurig über das Verschwinden des Geliebten, sondern auch, weil sie sich in ihrem neuen Heim unglücklich fühlte, leicht aufbrausend und schnell geneigt, Tränen zu vergießen.

Den kleinen Waisen des Keraunus erging es gut. Sie wurden manchmal zu Selene geführt, und erzählten ihr mit Liebe von ihren neuen Eltern. Durch die Mithilfe der Genesenen verminderte sich die Arbeitslast ihrer Freundinnen, und als der März begann, wurde eine Anforderung an die Witwe gestellt, die ihrem einfachen Leben eine neue Wendung geben mußte, wenn sie ihr folgte.

Im oberen Ägypten hatten sich christliche Verbrüderungen gebildet, und eine der größten an die alexandrinische Muttergemeinde die Bitte gerichtet, ihr einen Presbyter, einen Diakonen und eine Diakonissin zu senden, die befähigt wären, die Gläubigen und Getauften im hermopolitischen Gaue, die bereits nach Tausenden zählten, zu leiten und zu belehren. Das Gemeindeleben, die Armen- und Krankenpflege in jener Landschaft bedurfte der Organisation durch kundige Hände, und Hanna wurde gefragt, ob sie sich entschließen könnte, die Hauptstadt zu verlassen und ihre segensreiche Tätigkeit zu Besa in erweiterten Grenzen fortzusetzen. Es sollte sie dort ein freundliches Haus, ein Palmengarten und Gaben der Gemeinde erwarten, die nicht bloß ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Pfleglinge sicherstellen würden.

Hanna fühlte sich mit starken Banden an Alexandria gefesselt. Vor allem hielten sie ihre Armen und Kranken, unter denen ihr viele ans Herz gewachsen waren, zurück. Wie manches verirrte Mädchen hatte sie auch schon in der Fabrik gerettet.

Darum erbat sie sich kurze Bedenkzeit, und sie wurde ihr bewilligt. Am fünfzehnten März mußte die Entscheidung erfolgt sein. Schon der fünfte Tag dieses Monats brachte sie mit sich; denn während Hanna sich in der Papyrusfabrik befand, gelang es Antinous, wieder in den Garten Paulinas zu dringen und sich kurz vor Sonnenuntergang bis zu dem Hause der Witwe zu schleichen.

Maria bemerkte ihn auch diesmal zur rechten Zeit und wies ihn wie immer freundlich zurück; der Bithynier war aber heute erregter als sonst, ergriff ihre Hand mit warmer Dringlichkeit und umfaßte sie, während er sie bat, Gnade zu üben. Tief erschreckt versuchte sie sich von ihm zu befreien; er aber ließ sie nicht los, sondern rief schmeichelnd: »Ich muß sie heute sehen und sprechen, nur dies eine Mal, gute, liebe Maria.«

Bevor sie es verhindern konnte, hatte er ihr einen Kuß auf die Stirn gedrückt und war dann in das Haus zu Selene geflohen.

Die Verwachsene wußte nicht, wie ihr geschehen war. Verwirrt, wie gelähmt von wechselnden Gefühlen stand sie da und schaute beschämt zu Boden.

Sie empfand, daß ihr etwas Unerhörtes begegnet sei, aber dies Unerhörte erschien ihr wie ein blendendes Licht. Für sie, die arme Maria, war es aufgegangen, und hochklopfenden Herzens gab sie sich dem ihr ganz neuen Gefühle des Stolzes hin, das Scham und Entrüstung auf kurze Zeit zum Schweigen brachte.

Einiger Minuten bedurfte sie, um sich zu sammeln und sich ihrer Pflicht bewußt zu werden, und diese Minuten blieben von Antinous nicht unbenutzt.

Mit weiten Schritten eilte er in das Zimmer, in dem er Selene in jener unvergeßlichen Nacht auf das Lager niedergelassen hatte, und rief ihr schon auf der Schwelle ihren Namen entgegen.

Da erschrak sie und schob das Buch beiseite, aus dem sie dem blinden Bruder vorgelesen hatte.

Zum zweitenmal rief er sie bittend an.

Nun erst erkannte ihn Selene und fragte ruhig:

»Suchst du mich oder Frau Hanna?«

»Dich, dich!« rief er feurig. »O Selene! Ich habe dich aus dem Wasser gezogen, und seit jener Nacht kann ich dich nicht vergessen und muß vergehen aus heißer Liebe zu dir. Sind deine Gedanken nie und nie den meinen begegnet? Bist du immer noch so kalt, so stumm, so regungslos wie damals, als du halb dem Tode und halb dem Leben gehörtest? Wie der Schatten eines Toten die Stätte, an der alles zurückblieb, woran er auf Erden hing, umkreise ich schon seit langen Monaten dies Haus, und niemals gelang es mir, dir, du einzige, zu sagen, was ich empfinde.«

Bei diesem Bekenntnis warf der Jüngling sich vor ihr nieder und versuchte es, ihr die Knie zu umfassen; sie aber sagte vorwurfsvoll: »Was soll das alles? Steh auf und mäßige dich.«

»O laß mich, laß mich,« bat er innig. »Sei nicht so kalt und so hart! Erbarme dich meiner und stoße mich nicht von dir.«

»Steh auf,« wiederholte das Mädchen. »Ich will dir nicht zürnen; denn ich schulde dir Dank.«

Da erhob er sich wieder und sagte leise:

»Nicht Dank, nur Liebe, ein wenig Liebe begehr' ich.«

»Ich bemühe mich, alle Menschen zu lieben,« entgegnete die Jungfrau, »und so lieb' ich auch dich; – du hast mir ja viel Gutes erwiesen.«

»Selene, Selene!« schrie er jubelnd auf, warf sich wiederum vor ihr nieder und griff stürmisch nach ihrer Rechten; kaum aber hielt er ihre Hand in der seinen, als Maria, glühend vor Erregung, in das Zimmer gestürzt kam. Mit heiserer Stimme, aus der Unwille und Zorn klangen, befahl sie ihm, gleich das Haus zu verlassen, und rief, als er es von neuem versuchte, sie mit Bitten zu bestürmen:

»Wenn du nicht gehorchst, so rufe ich die Männer zu Hilfe, die dort die Blumen betrachten. Ich frage dich, willst du gehorchen, ja oder nein?«

»Warum bist du so böse, Maria?« fragte der blinde Helios. »Dieser Mann ist gut, und sagte Selene ja nur, daß er sie lieb hat.«

Nun wies Antinous mit einer flehenden Gebärde auf den Knaben; schon aber stand Maria am Fenster und legte die Hand an den Mund, um zu rufen.

»Laß, laß!« rief der Jüngling der Verwachsenen zu, »ich gehe schon.«

Dabei schritt er still und langsam der Tür entgegen; schaute aber Selene noch mit leidenschaftlicher Wärme an. Endlich verließ er das Zimmer, stöhnend vor Scham und Enttäuschung, und doch wieder so froh und stolz, als wäre ihm eine große und schwere Tat gelungen.

Im Garten begegnete ihm Frau Hanna und ging sogleich mit beschleunigten Schritten auf ihr Haus zu. Dort fand sie Maria laut schluchzend und in Tränen zerfließend. Bald war die Witwe von allem unterrichtet, was sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatte.

Eine Stunde später eröffnete sie dem Bischof, daß sie den Ruf der Gemeinde von Besa annehme und bereit sei, nach Oberägypten abzureisen.

»Mit deinen Pfleglingen?« fragte Eumenes.

»Ja. Selenes Herzenswunsch wäre freilich, von dir getauft zu werden; weil aber ein Jahr der Belehrung erforderlich ist . . .«

»Ich verrichte morgen die heilige Handlung.«

»Morgen, mein Vater?«

»Ja, Schwester, und ich tu es getrost. Sie hat den alten Menschen in der Meerflut gelassen, und bevor wir ihre Lehrer wurden, ist sie durch die Schule des Lebens gegangen. Schon als Heidin nahm sie ihr Kreuz willig auf sich und erwies sich so treu, als sei sie eine Vertraute des Herrn. Was ihr fehlte: Glaube, Liebe und Hoffnung, das fand sie in deinem Hause. Im Namen des Heilands danke ich dir für diese Seele, meine Schwester.«

»Nicht mir, nicht mir,« bat die Witwe. »Ihr Herz war erstarrt, und nicht durch mich, sondern durch den warmen Glauben des blinden Knaben dort taute es auf.«

»Ihm und dir verdankt sie das Heil,« entgegnete der Bischof. »Und so sollen beide zusammen die Taufe empfangen. Geben wir dem lieblichen Kinde den Namen des schönsten unter den Jüngern, und nennen wir ihn »Johannes.« Selene soll in Zukunft, wenn es ihr selbst gefällt, »Martha« heißen.«


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