Georg Ebers
Der Kaiser
Georg Ebers

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Fünfzehntes Kapitel

Als der Leibsklave des Kaisers sich aufgemacht hatte, um der von dem Molosser seines Herrn bedrohten Selene Hilfe zu leisten, war ihm schon etwas begegnet, das er nicht vergessen konnte, hatte er einen Eindruck empfangen, den er nicht zu verwischen vermochte, hatten ihm Worte und Klänge die Seele berührt, die unaufhörlich in ihr nachtönten und ihm Herz und Sinn so mächtig bedrückten, daß er befangen und halb im Traume dem Herrn die Handreichungen leistete, die er sonst Morgen für Morgen frisch und mit aller Aufmerksamkeit zu verrichten gewohnt war.

Sommer und Winter pflegte Mastor vor Sonnenaufgang das Schlafgemach seines Herrn zu verlassen, um alles vorzubereiten, was Hadrian bedurfte, wenn er sich vom Lager erhob.

Da gab es die Goldbeschläge an der schmalen Beinschiene und die Lederriemen, die zu den Soldatenstiefeln seines Herrn gehörten, zu putzen, seine Kleider zu lüften und neu mit dem kaum merklichen, zarten Wohlgeruch, den er liebte, zu besprengen; die meiste Zeit aber nahmen die Vorbereitungen für das Bad Hadrians in Anspruch.

Auf der Lochias gab es noch nicht, wie zu Rom in den Kaiserpalästen, wohleingerichtete Bäder, und doch wußte der Diener, daß sein Herr auch hier eine Fülle von Wasser brauchen würde.

Man hatte ihm gesagt, er möge sich, sobald er etwas für seinen Gebieter bedürfen sollte, an den Baumeister Pontius wenden. Er fand diesen auch, ohne ihn zu suchen, vor dem für Hadrian bestimmten Wohngemache, dem er, während der Kaiser schlief, mit seinen Gehilfen ein behagliches und dem Auge zusagendes Ansehen zu geben bestrebt war. Der Architekt verwies den Sklaven auf die Arbeiter, die im ersten Vorhof des Palastes mit der Legung des Pflasters beschäftigt waren. Diese Leute sollten ihm so viel Wasser hertragen, wie er nur immer gebrauchte.

Den Leibdiener des Kaisers enthob seine Stellung von dergleichen niedrigen Diensten; aber auf der Jagd, auf Reisen und wo es nottat, pflegte er sie ungefragt und gern zu verrichten.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als er in den Hof trat.

Viele Sklaven lagen dort noch auf ihren Matten und schliefen, andere hatten sich um ein Feuer gelagert und warteten auf ihre Suppe, die ein Knabe und ein alter Mann mit hölzernen Stäben umrührten.

Weder die einen noch die anderen wollte Mastor stören, er ging vielmehr auf eine Gruppe von Arbeitern zu, die sich erst nur miteinander zu unterhalten schienen, jetzt aber aufmerksam auf die Rede eines alten Mannes lauschten, der ihnen wohl eine Geschichte erzählte.

Das Herz des armen Burschen war sehr schwer und sein Sinn nicht auf Märchen und Kurzweil gerichtet.

Das Leben war ihm ganz vergällt. Die Dienstleistungen, die von ihm verlangt wurden, schienen ihm sonst eine alles andere überragende Wichtigkeit zu besitzen; heute aber stand es anders.

Er hatte die dunkle Empfindung, als habe ihn das Schicksal selbst von all seinen Pflichten entbunden, als habe das Unglück das Band zerschnitten, das ihn an seinen Dienst und den Kaiser fesselte, und ihn zu einem einsamen und auf sich selbst gestellten Manne gemacht.

Es kam ihm auch in den Sinn, ob er nicht die Goldstücke, die ihm Hadrian und reiche Leute, die früher als andere aus dem Wartezimmer vor die Person des Kaisers geführt zu werden wünschten, zugeworfen oder in die Hand gesteckt hatten, zusammennehmen, die Flucht ergreifen und, was er besaß, in den Schenken der großen Stadt beim Wein und mit lustigen Dirnen verjubeln sollte. Was dann geschah, konnte ihm gleich sein.

Wenn man ihn wieder einfing, wurde er vielleicht zu Tode gepeitscht; aber er hatte Fußtritte und Schläge genug bekommen, bevor er in den Dienst des Kaisers gelangte, ja als er nach Rom geschleppt wurde, war er sogar einmal mit Hunden gehetzt worden. Kam er ums Leben, was tat es? Einmal war ja doch alles vorbei, und die Zukunft schien ihm nichts zu bieten als Übermüdung im Dienst eines ruhelosen Herrn, Kummer und Hohn.

Er war ein grundguter Mensch, der niemand ein Leid zufügen mochte und dem es sogar schwer fiel, andere in ihrem Vergnügen oder in ihrer Unterhaltung zu stören.

Heute war er am wenigsten dazu geneigt; denn wem das Herz weh tut, der empfindet fein, wie es seinesgleichen zu Mute ist.

Als er sich der Arbeitergruppe, aus der er sich die Wasserträger wählen wollte, genähert hatte, beschloß er, den Erzähler, an dessen Lippen die Blicke der ihn umgebenden Leute hingen, ausreden zu lassen.

Der Schein des Feuers unter dem Suppenkessel fiel auf das Antlitz des Redenden.

Es war ein alter Arbeiter, jedoch ein freier Mann, das bewiesen seine langen Haare. Wegen des vollen weißen Bartes fühlte sich Mastor geneigt, ihn für einen Juden oder Phönizier zu halten. Nichts Ungewöhnliches war an dem mit einem ärmlichen Kittel bekleideten Greise als seine eigentümlich glänzenden, unbewegt gen Himmel gerichteten Augen und die schräge Neigung des Hauptes, dessen linke Seite sich an die erhobenen Hände schmiegte.

»Und nun,« sagte der Erzähler, indem er die Arme sinken ließ, »laßt uns wieder an die Arbeit gehen, Brüder! ›Im Schweiße eures Angesichtes sollt ihr euer Brot essen‹, so steht es geschrieben. Uns Alten fällt es manchmal schwer, die Steine zu heben und den steifen Rücken so lange zu krümmen; aber wir sind ja einer schöneren Zeit näher als ihr. Das Leben wird uns allen nicht leicht; doch der Herr hat ja gerade uns, die wir schwere Mühe und Last tragen, vor allen anderen zu Gaste geladen, und die Sklaven unter uns gewiß nicht am letzten.«

»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken,« unterbrach ein jüngerer Mann den Alten, indem er die Worte Christi wiederholte.

»Ja, so spricht der Heiland,« fuhr der Alte zustimmend fort, »und dabei hat er gewiß an uns gedacht. Ich sagte schon: wir haben's nicht leicht, aber um wie viel schwerer war doch die Last, die Er freiwillig auf sich nahm, um uns vom Leid zu erlösen. – Arbeiten muß jeder, muß auch der Kaiser, Er aber, der in seines Vaters Herrlichkeit leben konnte, ließ sich verspotten und verhöhnen und ins Gesicht speien, ließ sich Dornen in die arme Stirn drücken, trug sein schweres Kreuz, dessen Gewicht ihn erdrückte, und litt den qualvollsten Tod, und das alles um unsertwillen, ohne zu murren. Aber er litt nicht vergebens; denn der Herr nahm das Opfer seines Sohnes an und tat ihm den Willen und sagte: ›Alle, die an ihn glauben, sollen nicht verloren sein, sondern das ewige Leben haben.‹ – So mag denn ein neuer schwerer Tag beginnen, so mögen ihm denn tausend schwerere folgen, so mag denn der Tod das Leben beschließen: wir glauben an unseren Erlöser, wir haben Gottes Versprechen, uns aus Leid und Jammer in seinen Himmel zu laden und uns für eine kurze Zeit des Elends in dieser Welt nie endende Jahrtausende der Freude zu schenken. – Geht nun an die Arbeit. Für dich, mein Knakias, arbeitet wohl der rüstige Krates, bis deine Finger geheilt sind. Wenn das Brot verteilt wird, so denke doch jeder an die Kinder des guten, seligen Philammon. Dir, mein armer Gibbus, wird das Schaffen heute sauer werden. Der Herr dieses Mannes, meine lieben Brüder, hat gestern seine beiden Töchter an einen Händler aus Smyrna verkauft. Wenn nicht hier in Ägypten oder in einem anderen Lande, mein Gibbus, so findet ihr euch doch bei unserem himmlischen Vater wieder, darauf vertraue. Das Erdenleben ist unser Weg, das Ziel ist der Himmel, und der Führer, der uns lehrt, es nie zu verfehlen, ist unser Erlöser. Mühe und Arbeit, Kummer und Leid sind leicht für jeden zu tragen, der da weiß, daß, wenn der Feierabend naht, ihm der König der Könige seine Wohnung öffnen wird, um ihn als lieben Gast in sein Haus zu rufen, das alle, die uns teuer waren, beherbergt.«

»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken,« sprach wiederum mit lauter Stimme ein Mann aus dem rings um den Alten lagernden Kreise.

Der Greis stand auf, winkte einem Knaben, der Brot zu gleichen Teilen unter die Arbeiter verteilte, und griff nach einem Henkelkruge, um einen größeren hölzernen Becher mit Wein zu füllen.

Mastor war kein Wort von dieser Rede entgangen, und das mehrmals wiederholte: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken,« klang in ihm wider wie das Gastgebot eines freundlichen, zu schönen Tagen der Freiheit und Freude ladenden Wirtes.

In der Nacht seines Kummers zeigte sich ein ferner leuchtender Schimmer, der einen neuen Morgen zu verheißen schien, und ehrerbietig nahte er sich dem Alten, um ihn zunächst zu fragen, ob er der Aufseher der um ihn versammelten Arbeiter sei.

»Der bin ich,« entgegnete der Greis und wies ihm, sobald er gehört hatte, was Mastor im Auftrage des leitenden Baumeisters begehrte, einige jüngere Sklaven zu, die schnell das nötige Wasser herbeischafften.

Pontius begegnete dem Diener des Kaisers und seinen Krugträgern und sagte so laut, daß Mastor ihn verstand, zu dem ihn begleitenden Bildhauer Pollux:

»Der Sklave des Baumeisters läßt heute seinen Herrn von Christen bedienen. Das sind ordentliche, nüchterne Arbeiter, die still ihre Pflicht tun.«

Während Mastor seinem Herrn Tücher reichte, ihn trocknete und ankleidete, war er weit weniger als sonst bei der Sache gewesen, denn die Worte, die er aus dem Munde des alten Aufsehers vernommen hatte, kamen ihm nicht aus dem Sinn.

Er hatte sie nicht alle verstanden, aber wohl begriffen, daß es einen freundlichen Gott gäbe, der in eigener Person die schwersten Qualen erlitten, der den Armen, den Elenden und Sklaven besonders hold und sie zu erquicken, zu trösten und mit allen, die ihnen einst teuer gewesen, zusammenzuführen bereit sei.

Das »Kommet her zu mir« klang ihm wieder und immer wieder so heimlich und warm ans Herz, daß er dabei erst an seine Mutter denken mußte, die ihm manchmal, als er noch ein Kind war, gerufen hatte, um ihn, wenn er auf sie zugeeilt war, in den weit geöffneten Armen aufzufangen und ans Herz zu ziehen. Ebenso hatte er es mit seinem kleinen verstorbenen Sohne mehr als einmal gemacht, und die Empfindung, daß es jemand geben könnte, der ihn, den verlassenen, einsamen Mann, liebreich zu sich heranrufen könnte, um ihn von seinem Leid zu erlösen, um ihn mit seiner Mutter, seinem Vater und den in der fernen verlorenen Heimat zurückgebliebenen Lieben wieder zu vereinigen, nahm seinem Kummer die Hälfte der Bitterkeit.

Er war gewohnt, auf alles zu hören, was in des Kaisers Nähe gesprochen wurde, und hatte von Jahr zu Jahr mehr davon zu verstehen gelernt.

Oft war über die Christen geredet worden, und zwar gewöhnlich als von irregeleiteten und gefährlichen Toren.

Es hieß auch von mehreren seiner Mitsklaven, sie wären christliche Narren; manchmal aber hatten besonnene Männer und zuzeiten sogar Hadrian selbst für die Christianer Partei genommen.

Jetzt hatte Mastor zum erstenmal aus ihrem eigenen Munde gehört, was sie glaubten und hofften, und während er seinen Dienst verrichtet, hatte er es kaum erwarten können, den alten Pflasterleger wiederum aufzusuchen, ihn zu befragen und die Hoffnungen, die seine Worte in ihm erweckt hatten, von ihm bestätigt zu hören.

Sobald Hadrian mit Antinous das Wohngemach betreten hatte, war Mastor auf den Hof zu den Christen zurückgeeilt. Dort hatte er mit dem Aufseher ein Gespräch über seinen Glauben anzuknüpfen versucht; aber der Alte ihm nur erwidert, alles habe seine Zeit. Jetzt dürfe die Arbeit nicht unterbrochen werden. Nach Untergang der Sonne möge er wiederkommen. Dann würde er ihm von Demjenigen reden, der verheißen habe, die Leidtragenden zu erquicken. Von da an hatte Mastor nicht mehr an Flucht gedacht.

Als er wieder vor seinen Gebieter trat, lag ein so sonniger Glanz in seinen blauen Augen, daß Hadrian die scheltenden Worte, die er für ihn bereit hielt, unausgesprochen ließ und, indem er auf ihn hinwies, Antinous lachend zurief:

»Ich glaube, der Schelm hat sich schon getröstet und ein neues Weibchen gefunden. Laß auch uns, so gut es gehen will, dem Horaz folgen und den heutigen Tag genießen. Die Zukunft gehen zu lassen, wie sie mag, kann sich der Dichter erlauben, ich nicht; denn leider bin ich ja Kaiser.«

»Rom weiß den Göttern Dank, daß du es bist,« entgegnete Antinous.

»Was der Junge manchmal für gute Worte findet,« lachte Hadrian und strich dem Liebling über die braunen Locken. »Jetzt arbeite ich bis Mittag mit Phlegon und Titianus, den ich erwarte, und dann wird es vielleicht etwas zu lachen geben. Frage den langen Bildhauer hinter den Schranken, zu welcher Stunde Balbilla ihm zu seiner Büste zu sitzen gedenkt. Man muß die Arbeiten des Baumeisters und der alexandrinischen Künstler auch bei Tage betrachten; das haben sie mit ihrem Eifer verdient.«

Hadrian begab sich in das Gemach, woselbst sein Geheimschreiber die aus Rom und der Provinz eingelaufenen Briefe und Schriften, die der Kaiser zu lesen und zu unterschreiben hatte, für ihn bereit hielt.

Antinous blieb allein in dem Wohngemach zurück und schaute eine Stunde lang den Schiffen zu, die in dem Hafen vor Anker gingen oder die Reede verließen, und freute sich an den schnellen Booten, die, wie Wespen die reifen Früchte, die großen Fahrzeuge umschwärmten. Dann hörte er auf den Gesang der Matrosen und das des Flötisten, der den Takt des Ruderschlages auf dem Dreiruderer leitete, der eben den kaiserlichen Privathafen dicht unter ihm verließ. Auch die reine Bläue des Himmels und die Wärme des schönen Morgens erfreute ihn, und er fragte sich, ob der leichte, den Hafen umwehende Teergeruch angenehm sei oder nicht.

Als die Sonne höher stieg, blendete ihn ihr grelles Licht. Gähnend zog er sich von dem Fenster zurück, streckte sich auf einem Polster aus und schaute gedankenlos und ohne sich um die Gegenstände zu kümmern, die die verblichenen Gemälde an der Decke des Zimmers darstellten, zu ihnen hinauf.

Der Müßiggang war längst die Tätigkeit seines Lebens geworden; aber so sehr er sich auch an ihn gewöhnt hatte, empfand er doch noch manchmal seinen grauen Schatten, die Langeweile, als eine widerwärtige, störende Beeinträchtigung der Lebenslust.

Gewöhnlich dachte er in solchen einsamen Stunden müßiger Träumerei an die Seinen in Bithynien, von denen er vor dem Kaiser nicht reden durfte, oder auch an Jagdzüge, die er mit Hadrian unternommen hatte, an erlegtes Wildbret, an Fische, die er, ein guter Angler, erbeutet hatte, oder dergleichen.

Was die Zukunft bringen würde, kümmerte ihn nicht; denn Schaffenslust, Ehrgeiz und alles, was einer leidenschaftlichen Regung gleichsah, war bis dahin seiner Seele fremd geblieben.

Die Bewunderung, die seine Schönheit überall erregte, freute ihn nicht, und manchmal war es ihm zumute, als lohne es sich nicht, ein Glied zu rühren oder Atem zu holen.

Fast alles, was er sah, war ihm völlig gleichgültig, nur nicht ein gutes Wort aus dem Munde des Kaisers der ihm über alles Menschenmaß groß zu sein schien, den er fürchtete wie ein Schicksal und mit dem er sich doch verbunden fühlte wie die Blume mit dem Baum, die sterben muß, wenn man den Stamm vernichtet, an dem sie wie ein freundlicher Zierat flattert.

Als er sich heute auf dem Diwan ausstreckte, nahmen seine Träumereien eine neue Richtung.

Er mußte des blassen Mädchens gedenken, das er vor den Zähnen des Molossers gerettet, der weißen, kalten Hand, die sich einen Augenblick um seinen Hals geschlungen, und der kühlen Worte, mit denen sie ihn dann zurückgewiesen hatte.

Antinous begann sich mächtig nach Selene zu sehnen, derselbe Antinous, dem in allen Städten, die er mit dem Kaiser besuchte, und besonders zu Rom, die gefeierten Schönen Blumensträuße und zärtliche Briefe zutragen ließen, und der doch, seitdem er die Heimat verlassen, noch nie für ein weibliches Wesen auch nur halb so große Teilnahme empfunden hatte wie für das Jagdpferd, das ihm der Kaiser geschenkt, oder für den großen Molosser.

Wie atmender Marmor kam dieses Mädchen ihm vor. Vielleicht mußte derjenige sterben, den sie an die kühle Brust schloß, aber solcher Tod mußte wonnevoll sein, und es schien ihm tausendmal seliger, mit erstarrtem Blut als durch überschnelle Schläge des Herzens zugrunde zu gehen.

»Selene,« murmelten seine Lippen mehrmals mit leisem Beben; eine seinem stillen Wesen fremde, sich durch all seine Glieder fortpflanzende Unruhe bemächtigte sich seiner, und er, der sonst stundenlang, ohne sich zu regen, auf einem Polster ausgestreckt liegen und träumen konnte, sprang jetzt vom Lager in die Höhe und durchmaß tief atmend mit langen Schritten das Gemach.

Leidenschaftliche Sehnsucht nach Selene trieb ihn auf und nieder, und der Wunsch, sie wiederzusehen, härtete sich zum Vorsatz und trieb ihn an, emsig auf Mittel und Wege zu sinnen, sie vor der Rückkehr des Kaisers wiederzusehen.

Ohne weiteres in die Wohnung des empörten Vaters zu dringen, schien ihm unmöglich, und doch war er gewiß, sie dort zu finden; denn ihr verletzter Fuß hielt sie sicher im Hause zurück.

Sollte er den Verwalter wieder um Brot und Salz angehen?

Aber in Hadrians Namen durfte er nach dem Auftritte, der vor kurzem hier stattgefunden hatte, Keraunus um nichts ersuchen.

Sollte er hingehen und ihr einen neuen Krug an Stelle des zerbrochenen bringen? Das würde den hochmütigen Mann von neuem empören.

Sollte – sollte – sollte er nicht. Nein, dies alles war völlig unmöglich! Aber das, das, ja das war das Rechte!

In seinem Salbenkasten standen einige Essenzen, die ihm der Kaiser gegeben. Von diesen wollte er ihr eine anbieten, um sie, mit Wasser verdünnt, auf den kranken Fuß zu legen. Diese Tat des Mitleids konnte auch sein Gebieter, der selbst seine Kenntnisse in der Heilkunst gern an Kranken erprobte, nicht mißbilligen.

Sogleich rief er Mastor und befahl ihm, den Molosser, der ihm bei seinen Wanderungen durch das Zimmer gefolgt war, zu hüten; dann ging er in sein Schlafgemach, nahm dort ein Fläschchen von äußerst kostbarem Stoff, das ihm Hadrian an seinem letzten Geburtstage geschenkt und das früher Plotina, die Gattin Trajans, besessen hatte, und begab sich in die Wohnung des Verwalters. Bei den Stufen, auf denen er Selene gefunden hatte, begegnete er dem schwarzen Sklaven mit einigen Kindern.

Der Alte war aus Furcht vor der Dogge des Römers hier sitzen geblieben.

Antinous trat zu dem Sklaven heran und bat ihn, ihn zur Wohnung seines Herrn zu führen.

Der Neger ging ihm sogleich voran, öffnete die Tür des Vorgemachs und sagte, indem er mit dem Finger nach dem Wohnzimmer wies:

»Dort! Aber Keraunus ist ausgegangen.«

Ohne sich weiter um Antinous zu kümmern, ging der Sklave zu den Kindern zurück. Jetzt blieb der Bithynier unschlüssig mit seinem Fläschchen stehen; denn außer der Stimme Selenes hörte er auch die Stimme eines anderen Mädchens und die tiefere eines Mannes.

Er zauderte noch, als ihn die laute Frage Arsinoes: »Wer kommt da?« zu weiterem Vorschreiten nötigte.

In dem Wohngemache stand Selene in einem langen, hellen Gewande und mit dem Schleier über dem Haupte, wie zum Ausgehen gerüstet; ihre jüngere Schwester aber schwebte so, daß nur ihre Fußspitzen den Erdboden berührten, an dem Rand eines Tisches, auf dem viele altertümliche Dinge lagen.

Vor ihr stand ein phönizischer Herr in mittleren Jahren, der einen schön geschnitzten Becher in der Hand hielt. Er schien mit der Jungfrau um ihn zu handeln.

Keraunus hatte sich heute wiederum zu einem Kunsthändler begeben, ihn aber nicht zu Hause getroffen und in seinem Magazin die Aufforderung zurückgelassen, Hiram möge ihn in seiner Wohnung auf der Lochias besuchen; denn er könnte ihm dort wertvolle Seltenheiten zeigen.

Der Phönizier war vor der Heimkehr des Verwalters, der in einer Sitzung des Rates festgehalten wurde, bei Keraunus eingetreten, und Arsinoe zeigte ihm jetzt die Schätze ihres Vaters, deren Vorzüge sie mit großer Beredsamkeit hervorhob.

Leider tat Hiram nicht viel höhere Angebote als der gestern abend von dem Verwalter so übel heimgesandte Gabinius.

Selene war von vornherein des Mißerfolges gewiß gewesen und wünschte dem Handel bald ein Ende zu machen; denn die Stunde nahte, in der sie sich mit Arsinoe in die Papyrusfabrik begeben mußte. Der Weigerung der Schwester, sie zu begleiten, und die Bitte der Sklavin, wenigstens heute ihren Fuß zu schonen, hatte sie ein trotziges: »Ich gehe!« entgegengesetzt.

Das Erscheinen des Jünglings versetzte die Mädchen in einige Unruhe.

Selene erkannte ihn sogleich, Arsinoe fand ihn schön, aber linkisch; der Kunsthändler aber sah ihn voll Verwunderung an und bot ihm zuerst seinen Gruß.

Antinous erwiderte ihn, verneigte sich höflich vor den Schwestern und sagte dann, indem er sich an Selene wandte:

»Wir hörten, du wärest am Kopfe verwundet und dein Fuß sei beschädigt, und weil wir doch an deinem Unfall schuld sind, möchten wir dir dies Fläschchen anbieten, das ein gutes Mittel gegen solche Schäden enthält.«

»Ich danke dir,« entgegnete die Jungfrau; »aber ich fühle mich wieder so gut, daß ich gleich auszugehen versuche.«

»Das solltest du nicht tun,« bat Antinous dringend.

»Ich muß,« versetzte Selene entschieden.

»So behalte wenigstens das Fläschchen, um später Umschläge zu machen. Zehn Tropfen gießt du in einen Becher mit Wasser.«

»Ich kann es versuchen, wenn ich zurück bin.«

»Tu es, und du wirst sehen, wie heilsam es ist. Du bist uns doch nicht mehr böse?«

»Nein.«

»Das freut mich!« rief er und schaute Selene mit den großen Träumeraugen voll stiller Leidenschaft an.

Ihr mißfiel dieser Blick, und kühler als vorher fragte sie den Bithynier:

»An wen geb' ich dies Fläschchen zurück, wenn ich seinen Inhalt benützte?«

»Behalte es, bitte,« bat Antinous. »Es ist schön und gewinnt doppelten Wert für mich, wenn du es besitzest.«

»Hübsch ist es; aber ich mag keine Geschenke.«

»So zerschlag' es, wenn du es gebrauchtest. Du hast uns den schlimmen Streich der Dogge doch nicht verziehen, und es tut uns so herzlich leid, daß unser Hund . . .«

»Ich zürne dir nicht. – Arsinoe, gieße doch die Arznei in ein Schälchen.«

Die jüngere Tochter des Verwalters tat sogleich, wie ihr geheißen, und als sie dabei bemerkte, wie hübsch das Fläschchen war und in wie vielen Farben es spielte, sagte sie unbefangen:

»Wenn meine Schwester es nicht will, so schenke es mir. Wie kann man nur um ein Nichts solch Aufhebens machen, Selene!«

»So nimm es,« versetzte Antinous und schaute ängstlich zu Boden; denn jetzt kam ihm auf einmal in den Sinn, wie hoch der Kaiser dies kleine Gefäß geschätzt hatte, und daß er ihn vielleicht später einmal danach fragen könnte.

Selene zuckte die Achseln und rief, indem sie den Schleier über die Stirn zog, der Schwester mit einem unzufriedenen Blicke zu:

»Es ist hohe Zeit.«

»Ich mag heute nicht,« entgegnete Arsinoe trotzig, »und es ist Unsinn, daß du mit deinem geschwollenen Fuß eine Viertelstunde lang gehen willst.«

»Es wäre besser, wenn du dich schontest,« sagte der Kunsthändler höflich, und Antinous fügte besorgt hinzu:

»Wenn sich dein Leiden verschlimmert, so verschärfst du den Vorwurf, den wir uns machen.«

»Ich muß gehen,« entgegnete Selene entschieden, »und du kommst mit mir, Schwester.« Diese Worte sprach sie nicht aus Eigensinn, nein, herbe Notwendigkeit drängte sie ihr auf die Lippen.

Sie durfte heute in der Papyrusfabrik nicht fehlen; denn der Wochenlohn für Arsinoe und ihre eigene Arbeit sollte ausgezahlt werden. Außerdem blieben morgen und vier andere Tage die Werkstätten und Kassen geschlossen; denn der Kaiser hatte dem reichen Besitzer der Fabrik zugesagt, sie zu besuchen, und zu Ehren Hadrians sollte viel Schadhaftes in den alten Räumen hergestellt und mancherlei Zierat an dem schmucklosen Hause angebracht werden.

Heute von der Werkstätte fern bleiben, hieß nicht nur den Lohn einer Woche, sondern den von zwölf Tagen einbüßen; denn es war den Arbeitern eröffnet worden, daß ihnen als Zeichen der Freude über den kaiserlichen Besuch der volle Sold für die freie Zeit ausgezahlt werden sollte; Selene aber brauchte Geld für die Erhaltung der Ihren und mußte darum auf ihrem Willen bestehen.

Als sie sah, daß Arsinoe keine Miene machte, ihr zu folgen, fragte sie sie noch einmal mit strengem Ernst:

»Wirst du kommen? Ja oder nein!«

»Nein!« rief Arsinoe trotzig und setzte sich fester auf den Tischrand.

»So soll ich allein gehen?«

»Hierbleiben sollst du!«

Selene trat noch einmal näher auf die Schwester zu und schaute sie fragend und vorwurfsvoll an.

Aber Arsinoe bestand auf ihrem Willen.

Wie ein schmollendes Kind verzog sie den Mund, schlug mit den Handflächen, auf die sie sich gestützt hatte, dreimal auf den Tisch und rief ihr ebenso oft »nein« zu. Da winkte Selene der alten Sklavin, befahl ihr, in dem Wohnzimmer zu bleiben, bis der Vater zurückkehren würde, grüßte den Kunsthändler freundlich, Antinous nur mit einer gleichgültigen Neigung des Kopfes, und verließ das Zimmer.

Der Jüngling folgte ihr und traf mit ihr bei den Kindern zusammen. Sie zog ihnen die Kleidchen zurecht und gebot ihnen, wegen des bösen Hundes dem Gange fern zu bleiben. Antinous strich dem kleinen blinden Helios über den hübschen Lockenkopf und fragte Selene, als sie sich anschickte, die Treppe hinanzusteigen:

»Darf ich dir helfen?«

»Ja,« lautete die Antwort; denn schon auf der ersten Stufe empfand sie einen stechenden Schmerz im Fuße und hielt dem jungen Mann den Ellbogen hin, damit er ihn stütze.

Ihre Entgegnung wäre anders ausgefallen, wenn sie auch nur das geringste für den Liebling des Kaisers empfunden hätte; aber sie hatte das Bild eines anderen Mannes im Herzen und sah nicht einmal, daß Antinous schön war.

So schnell hatte das Herz des Bithyniers noch nie geschlagen, wie während der kurzen Augenblicke, in denen es ihm jetzt gestattet war, Selenes Arm zu berühren.

Er fühlte sich wie berauscht, aber er nahm dennoch wahr, daß sie Schmerzen litt, während sie die wenigen Stufen der kleinen Treppe hinanstieg.

»Bleibe doch heute zu Hause und schone dich,« bat er noch einmal mit unsicherer Stimme.

»Ihr langweilt mich,« antwortete sie verdrossen. »Ich muß gehen und hab' es nicht weit.«

»Darf ich dich begleiten?«

Da lachte sie auf und entgegnete mit leisem Hohn in der Stimme:

»Gewiß nicht! Führe mich nur durch den Gang, damit der Hund mich nicht wieder anfällt; dann gehe, wohin du willst, nur nicht mit mir.«

Er gehorchte, und als er ihr da, wo der Gang an einen größeren Saal stieß, »Lebewohl« sagte, dankte sie ihm mit einigen freundlichen Worten.

Es gab zwei Wege, um aus des Vaters Wohnung ins Freie zu gelangen. Der eine führte durch den Rundellplatz mit den Köpfen der ptolemäischen Frauen über viele Terrassen treppauf, treppab in den ersten Hof, der andere in ebener Fläche durch die Zimmer und Säle des Palastes.

Sie mußte den letzteren wählen, weil es ihr unmöglich gewesen wäre, mit dem schmerzenden Fuße ohne Hilfe viele Stufen zu erklimmen und von ihnen niederzusteigen; doch sie entschied sich ungern für diesen Weg; denn sie wußte, wie viele Männer gerade hier mit Erneuerungsarbeiten beschäftigt waren.

Um sicher zu gehen, nahm sie sich vor, ihren Gespielen zu bitten, sie durch die Scharen der Werkleute und rohen Sklaven bis zum Hause seiner Eltern zu führen.

Auch dieser Entschluß war ihr nicht leicht; denn seit dem Nachmittage, an dem Pollux die Büste der Mutter ihrer Schwester Arsinoe eher als ihr gezeigt hatte, grollte sie dem Bildhauer, dem sich noch jüngst die ermattete, liebesarme Seele weit, weit geöffnet hatte. Und ihr Groll hatte sich nicht vermindert, sondern war mit der Zeit gewachsen.

Ja, zu jeder Stunde des Tages und bei allem, was sie tat, mußte sie sich wiederholen, daß sie Grund habe, ihm gram zu sein.

Sie hatte ihm ein zweites Mal zum Modell gedient, mehrmals mit ihm geredet und bei ihrem letzten Abschied versprochen, ihm heute abend noch einmal zu gestatten, den Faltenwurf ihres Mantels zum Vorbild zu nehmen.

Wie sehnlich hatte sie das neue Beisammensein mit Pollux erwartet, wie besonders liebenswert war er ihr bei jeder neuen Begegnung erschienen, wie lebhaft wußte auch er seiner Freude Ausdruck zu geben, so oft er sie sah.

Von vielerlei, auch von Liebe hatten sie miteinander geredet, und wie eifrig war er geworden, als er ihr die Versicherung erteilte, um glücklich zu sein, fehle ihr nichts als ein guter Mann, der sie, wie sie es verdiene, auf den Händen tragen würde. Dabei hatte er auf seine großen Finger geschaut, sie aber war rot geworden und hatte gedacht, daß sie, wenn er nur wollte, gern den Versuch wagen würde, das Leben an seiner Seite froh zu genießen.

Es wollte ihr scheinen, als gehörten sie beide zusammen, als wäre sie für ihn und er für sie geboren.

Warum hatte er nun gestern das Bild ihrer Mutter Arsinoe eher gezeigt als ihr?

Jetzt wollte sie ihn fragen, ob er es für sie oder für ihre Schwester auf dem Rundplatze aufgestellt habe, und ihm ihre Unzufriedenheit zu fühlen geben. Sie mußt ihm auch mitteilen, daß sie heute abend nicht wieder Modell stehen könnte. Schon um des Fußes willen war dies unmöglich.

Mit steigendem Schmerz überschritt sie die Schwelle der Musenhalle und näherte sich den Schranken, die den Gespielen verbargen.

Er war nicht allein; denn es wurde in dem Verschlage gesprochen, und kein Mann, sondern eine Frau leistete ihm Gesellschaft; sie hörte schon von weitem ihr heiteres Lachen.

Als sie dann neben den Schranken stand, um Pollux zu rufen, erhob das Weib, das er jetzt gewiß als Modell benutzte, die Stimme noch lauter als vorher und rief lustig:

»Aber das ist stark. An die Stelle meiner Zofe soll ich dich setzen! Was sich doch solch ein Künstler herausnimmt.«

»Sage ja,« bat er mit derselben gemütvoll heiteren Stimme, die ihr mehr als einmal das Herz umstrickt hatte. »Du bist wunderschön, Balbilla; wenn du mich aber gewähren ließest, so könntest du noch viel schöner sein, als du bist.«

Wieder erscholl ein munteres Gelächter hinter den Schranken.

Sein heller Ton mußte der armen Selene wohl sehr wehe getan haben; denn sie hob die Schultern hoch in die Höhe und verzog das schöne Gesicht, als ob sie einen großen Schmerz erdulde, während sie an den Schranken des mit seiner Schönen tändelnden Gespielen vorbei und dann über den Hof auf die Straße hinkte.

Was marterte die Arme so schwer? Die Not ihres Hauses, ihr körperliches Leid, das sich mit jedem neuen Schritte vermehrte, oder ihr erstarrendes, wundes, um seine jung erblühte, schönste und letzte Hoffnung betrogenes Herz?


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