Alexander Dumas
Lady Hamilton
Alexander Dumas

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41. Kapitel.

Als wir nach Hause kamen, dankte ich Sir William Hamilton für den reizenden Abend, den er mich hatte verleben lassen. Die Kunst schien mir, beim Lichte besehen, immer das Ziel zu bleiben, zu welchem ich bestimmt war, und wenn ich meinem wirklichen Berufe folgen und mich dem Theater widmen gekonnt hätte, so hätte ich sicherlich einen ebenso weitverbreiteten Ruf hinterlassen, wie Mademoiselle Champmeslé oder Mistreß Siddons. Am nächstfolgenden Morgen ließ ich frühzeitig zwei Schneiderinnen kommen. Ich fertigte ihnen die Zeichnungen zu zwei Kostümen, welche ich für den Abend wünschte, zu dem Ophelias und dem Julias. Ich forderte sie auf, so viel Gehilfinnen anzunehmen, als sie wollten, damit bis um acht Uhr abends unfehlbar die beiden Kostüme fertig wären. Die beiden Schneiderinnen gaben mir ihr Wort. Ich rechnete auf dasselbe ebenso fest, wie ich am Tage zuvor auf die Edelmannsparole des Gouverneurs Delaunay gebaut, und stieg um halb zehn Uhr in den Wagen, um mich mit Sir William nach der Bastille zu begeben. Als wir jedoch den Boulevard du Temple erreichten, war die Menschenmenge so dicht, daß es uns unmöglich war, auf diesem Wege weiterzukommen. Wir fuhren deshalb durch die Rue du Temple, gewannen den Quai und fuhren dann an dem Arsenal vorbei. Auf dieser Seite war der Raum frei, denn über die Bastille ging die Emeute nicht hinaus und ergoß sich linkerseits in die Vorstadt Saint-Antoine. Der Gouverneur erwartete uns und die Tafel war mit großem Luxus hergerichtet. Er lud uns ein, ohne Verzug zu frühstücken, weil die Emeute sich bis zu Mittag wahrscheinlich zu ihrem vollen Glanze entfaltet haben würde. Gleich bei dem ersten Gange beschuldigten wir, als wir die Menge der Speisen und die Feinheit der Weine sahen, den Gouverneur, daß er seinem Wort untreu geworden, weil er uns nicht die Kost der Gefangenen vorsetze.

»Mylady,« antwortete Delaunay, »Sie haben mir allerdings Bedingungen gestellt, innerhalb derselben aber mir vollen Spielraum gelassen. Wir haben in der Bastille Gefangene von verschiedenen Gattungen, von Prinzen vom Geblüt an bis zu Pasquillanten. Für die Beköstigung eines Prinzen von Geblüt sind fünfzig Franks täglich festgesetzt, für die eines Marschalls von Frankreich sechsunddreißig, für die der Generale und Brigadiers vierundzwanzig, für die eines Rats fünfzehn, für die eines gewöhnlichen Richters zehn, für die eines Geistlichen sechs und endlich für die eines Pasquillanten oder Flugschriftlers drei. – »Nun und?« fragte ich, denn ich wußte nicht recht, wo er mit dieser langen Aufzählung hinauswollte. – »Nun,« hob er an, »ich traktiere Sie als Prinzen von Geblüt. Sie haben ein Frühstück wie ein gefangener Prinz, weiter nichts.« – »Dann haben wir wohl das Frühstück des Herrn von Beaufort?« fragte ich. – »Nein, da irrst du dich, liebe Freundin,« sagte Sir William, »Herr von Beaufort sitzt nicht in der Bastille, sondern in Vincennes. Herr von Condé aber hat in der Bastille gefangen gesessen.« – »Wie?« rief ich. »Dann hat er hier seine Nelken gezüchtet! Wenn noch eine davon da ist, Herr Gouverneur, so werden Sie mir dieselbe schenken.« – »Da irrst du dich abermals,« sagte Sir William »Der Condé, welcher sich zum Gärtner machte, war Ludwig der Zweite, der große Condé, und dieser war ebenfalls in Vincennes, dafern du nicht zugeben willst, daß in der Bastille geboren werden auch so viel heiße, wie als Gefangener darin sein. Heinrich der Zweite, sein Vater, ein ziemlich trauriger Gesell, saß in der Bastille.«

»Aber das muß ich gestehen!« rief der Gouverneur, »ein englischer Gelehrter weiß von der Geschichte meiner Festung mehr als ich! Wohlan, einen Toast auf den Tower von London. Möge derselbe die Könige von England immer von ihren Feinden befreien, ebenso wie die Bastille den König von Frankreich von den seinigen befreit. Ich kann Ihnen versichern, Mylord, daß der Herzog von Clarence in keinem bessern Wein ertränkt worden ist, als der ist, welchen Sie gegenwärtig trinken.«

Wir hatten eben, um dem Gouverneur Bescheid zu tun, unsere Gläser geleert, als man uns meldete, daß, wenn wir die Emeute in ihrer ganzen Schönheit sehen wollten, wir keinen Augenblick zu verlieren hätten. Der Gouverneur wollte uns noch länger bei Tische zurückhalten und versicherte uns, daß wir noch vollauf Zeit hätten. Die Neugier trug jedoch den Sieg davon und wir bestiegen den Turm, welcher der Vorstadt St. Antoine zunächst gelegen war. Als wir diesen hohen Punkt, von wo uns keine Einzelheit entgehen konnte, erreicht hatten, sahen wir den furchtbaren Auftritt in seiner ganzen Häßlichkeit.

»Pardieu!« sagte der Gouverneur, indem er Sir William sanft an der Schulter berührte, »ich kann Ihnen nicht bloß die Plünderung von Réveillons Magazin, sondern auch Réveillon selbst zeigen.«

»Wieso?«

»Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß er gestern Morgens, weil er wohl wußte, daß es sich um nichts Geringeres handelte, als ihn aufzuhängen, zu mir kam, um mich um ein Asyl zu bitten, was ich ihm natürlich auch bewilligt habe. Sehen Sie dort jenen kleinen Mann mit dem krausen Haar, den geballten Fäusten und dem verzerrten Gesicht, welcher an dem, was vorgeht, so großes Interesse zu haben scheint und sich über die Brustwehr der Schießscharten hinausbeugt, so daß man meinen sollte, er wolle von der Mauer hinabspringen?«

»Das ist Réveillon?«

»Ja, das ist er.« Und damit wir nicht an seinen Worten zweifeln möchten, setzte der Gouverneur hinzu: »He, Herr Réveillon! Was meinen Sie zu dem, was da drüben geschieht?« Réveillon zuckte zusammen.

»Ich glaube, Herr Gouverneur,« antwortete der arme Teufel, »wenn der Hof nicht eine Emeute brauchte, um wegen der Generalstaaten Zeit zu gewinnen, so würde man mit diesem Lumpengesindel sehr bald fertig werden. Ist es nicht eine wahre Schande? Zweitausend Meuterer plündern mein Haus und werden es wahrscheinlich in Brand stecken und Herr von Bezenval schickt, wie viel? Zählen wir sie – zehn, fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig – Herr von Bezenval schickt dreißig Mann, um zweitausend im Zaume zu halten, abgesehen von hunderttausend Zuschauern, welchen die Sache Spaß macht und die folglich die andern aufhetzen.

»Mein bester Herr Réveillon,« sagte der Gouverneur, »nehmen Sie sich in acht! Sie sprechen sich über die Regierung Seiner Majestät etwas ungeniert aus, und da Sie einmal in der Bastille sind, so wäre es leicht möglich, daß man Sie darin ließe.«

»O,« sagte Réveillon, welcher beim Anblick seines zerschlagenen Hausgerätes in immer größere Wut geriet, »ich bin unbesorgt. Für Leute, wie ich bin, ist die Bastille nicht gebaut, sondern für die großen Herren. Sie selbst zum Beispiel, wenn Sie wollten –«

Er zögerte und stockte.

»Nun?« fragte der Gouverneur lachend.

»Nun, Sie brauchten bloß ein Wort zu sagen und Sie könnten mich retten, denn morgen bin ich an den Bettelstab gebracht.«

»Und was für ein Wort müßte ich sagen?«

»Sie brauchten bloß zu sagen: ›Feuer!‹ und eine Ihrer Kanonen brauchte bloß zu gehorchen, dann würde der Platz mit einem Male leer sein.«

»Aber,« sagte Sir William zu dem Gouverneur, »wie mir scheint, hat dieser Unglückliche nicht ganz unrecht.«

»Im Gegenteile,« sagte der Gouverneur, »er hat sogar vollkommen recht. Ich kommandiere aber ein königliches Schloß und kann, ohne ausdrücklichen Befehl vom König, keine Kanone richten und kein Zündkraut losbrennen.«

Die Plünderung ging mittlerweile ihren Gang. Nach der Plünderung kam die Brandlegung. Die Flammen begannen zu den Fenstern herauszuschlagen. Nun rückten einige Kompagnien Garden an und gaben Feuer. Zwei oder drei der Meuterer stürzten, die andern aber trieben die Soldaten mit Steinwürfen zurück. Ich suchte mit den Augen Réveillon. Er war nicht mehr da. Ohne Zweifel hatte der Anblick der Verwüstung seines Hauses ihn so tief bekümmert, daß er ihn nicht länger zu ertragen vermocht, sondern sich in ein Zimmer der Bastille zurückgezogen hatte. Endlich nach Verlauf von zwei oder drei Stunden, während man die Plünderer und Brandstifter nach Belieben schalten und walten gelassen, kamen die Schweizer angerückt. Die Meuterer wollten mit diesen machen, was sie mit den französischen Garden gemacht; die Schweizer aber waren nicht so gutmütig. Sie feuerten in allem Ernste, nicht mehr blind, sondern scharf, töteten etwa zwanzig Menschen und zerstreuten nicht bloß die Plünderer, sondern auch die Neugierigen. Dann drangen sie in das brennende Haus, aus welchem sie Menschen auf die Straße herausgeschleppt brachten, die uns anfangs tot zu sein schienen, die aber nur betrunken waren, und welche man in den Kellern gefunden hatte. Einige jedoch hatten, indem sie Réveillons Wein zu trinken geglaubt, die Farbestoffe der Fabrik getrunken und mußten an dem darin enthaltenen Gift wirklich sterben. Ich sah, daß im ganzen genommen eine Emeute nicht etwas so Lustiges war, wie ich mir dachte. Diese hier, welche mit dem Aufknüpfen eines Strohmannes begonnen, endete mit der Plünderung und Anzündung eines Hauses. Ferner mit dem Tode von fünf oder sechs Soldaten und von etwa zwanzig Menschen, welche, wenn auch elendes Gesindel, doch deswegen immer Menschen waren. Wir dankten dem Gouverneur der Bastille für seine Emeute und sein Frühstück, gestanden ihm aber, daß der Anblick der ersten uns abhielte, das letztere zu beenden. Wir ließen deshalb seine Gefangenenkost der Prinzen von Geblüt, welche, wie ich nicht anders sagen kann, ausgezeichnet war, halb stehen und kehrten mit leichterer Mühe, als wir gekommen waren, in unser Hotel zurück.

Als wir vier Monate später in Neapel die Einnahme der Bastille und Delaunays Tod erfuhren, machten diese beiden Nachrichten auf uns einen um so tiefern Eindruck, weil wir das Schloß und seinen Gouverneur kannten. Wenn man aber die Höhe der Türme, die Stärke der Mauern und die Festigkeit der Tore gesehen hat, so fragt man sich, wie ein schlecht bewaffnetes, schlecht geführtes Volk ohne Kanonen, ohne Kriegsmaschinen eine solche Festung wie die Bastille erstürmen kann? Diese Frage wird seit fünfundzwanzig Jahren gestellt, aber die Antwort darauf ist noch nicht erfolgt. Sobald ich einmal wieder zu Hause war, beschäftigte ich mich nur noch mit den Zurüstungen zu unserer Abendgesellschaft. Ich ging mit ganz eigentümlicher Koketterie zu Werke, um mir den Beifall einer solchen Versammlung intelligenter Männer zu erwerben. Ich fürchtete bloß, daß die Ereignisse des Tages unsern Projekten für den Abend Eintrag tun könnten.

Ich kannte aber die Franzosen noch nicht, dieses vielseitige Volk, welches Zeit für alles findet, welches an einem und demselben Tage mit gleicher Sorglosigkeit, und ich möchte beinahe sagen mit derselben Geschicklichkeit die Muskete, den Bleistift und die Feder handhabt, welches am Morgen dem Revoltieren, abends der Kunst obliegt, und zwar alles dies mit einem Eifer und einem Zartgefühl, welches nur ihm angehört. Um acht Uhr hatten meine Schneiderinnen Wort gehalten und ich bekam meine beiden Kostüme. Die Pünktlichkeit, womit unsere Gäste von neun bis halb zehn Uhr sich einfanden, bewies uns das Vergnügen, welches es ihnen machte, unserer Einladung zu folgen. Anfangs sprach man von der Neuigkeit des Tages, das heißt von der Emeute. Mit Erstaunen sah ich, daß alle diese Künstler, alle diese Poeten, alle diese Journalisten, wenn sie dieselbe auch nicht einzig und allein auf Rechnung des Hofes brachten, doch wenigstens der Meinung des armen Réveillon waren, als derselbe sein Magazin brennen sah, nämlich, daß der Hof sich nicht so kräftig widersetzt hatte, wie er wohl gekonnt hätte. Der Dichter Chenier und der Maler David gingen noch weiter. Sie behaupteten nicht bloß, daß der Hof sich der Emeute nicht widersetzt hätte, sondern auch, daß der Anstoß dazu von ihm selbst ausgegangen sei. Er hoffte, sagten sie, daß jener ganze ausgehungerte Schwarm, alle diese Leute ohne Brot, fünfzigtausend Arbeiter ohne Arbeit sich den Meuterern anschließen und die Häuser der Reichen zu plündern beginnen würden. Dann gewann alles eine andere Gestalt. Der Hof hatte einen vortrefflichen Beweggrund, um eine Armee in und um Paris und Versailles zu konzentrieren, einen bewundernswürdigen Vorwand, um die Einberufung der Stände zu vertagen. Gegen die Erwartung des Hofes aber war das Volk ehrlich geblieben und hatte sich weiterer Gewaltschritte enthalten. Die Herren sagten dies mit einem solchen Ausdruck der Überzeugung und ihre Zuhörer waren so geneigt, ihnen beizustimmen, daß mein Gewissen dadurch sehr erschüttert ward. Was Sir William betraf, so gestattete seine diplomatische Zurückhaltung ihm nicht, sich offen zu dieser Meinung zu bekennen, wohl aber bemerkte ich, daß er dieselbe sich kundgeben ließ, ohne sie weiter als durch ein »wohl möglich« oder »glauben Sie?« zu bekämpfen. Da indessen unsere Gesellschaft keinen politischen Zweck hatte, so hörte man allmählich auf von den Angelegenheiten des Tages zu sprechen, um wieder auf die Poesie und Literatur zu kommen. Talma war, wie man uns gesagt hatte, ein Mann von hochgebildetem Urteil, und indem er sich anschickte, den Hamlet von Ducis zu spielen, bedauerte er in Gegenwart dieses Dichters, daß derselbe sich genötigt zu sehen geglaubt, dem französischen Geschmack so viele Opfer zu bringen. Ich glaubte, dies sei der geeignete Augenblick, um der Wagschale den Ausschlag zu Gunsten Shakespeares zu geben, und ohne etwas zu sagen, begab ich mich in mein Zimmer. Fünf Minuten genügten mir, um mein Ophelia-Kostüm anzulegen und die von Sir William, der meine Absicht verstanden, angefachte Diskussion war noch in eifrigem Fortgange, als plötzlich die Tür sich öffnete und ich in dem geschickt erzeugten Dunkel des Nebenzimmers bleich und mit starrem Blick wie das Gespenst Ophelias erschien. Ein einziger Schrei hallte durch den Salon und jeder wich unwillkürlich vor mir zurück, um mir Platz zu machen. Ophelias Wahnsinns- und Julias Balkonszenen waren mein Triumph. Davon hatte ich mich jedesmal überzeugt, wo ich in London diese beiden Szenen gespielt. In Frankreich hatte ich gleichzeitig einen Vorteil und einen Nachteil. Die Sache war hier vollkommen neu und mußte folglich größern Effekt machen; da aber nur sehr wenige die englische Sprache verstanden, so mußte das Spiel meiner Physiognomie die Absicht des Dichters erraten lassen.

Zum Glück bedurfte die prachtvolle Wahnsinnsszene Ophelias keine Erklärung, so sprechend kann die sie begleitende Pantomime werden. Fast bei jedem Vers ward ich von Beifall unterbrochen, der aber, anstatt den Effekt zu erhöhen, denselben nur beeinträchtigen konnte. Talma kam deshalb meinem Wunsch entgegen und bat, daß man mich wenigstens ohne Unterbrechung die verschiedenen Stadien durchmachen lassen solle, welche die Szene darbietet. Ich dankte ihm durch eine Kopfbewegung, und ohne mich zu unterbrechen oder unterbrochen zu werden, fuhr ich fort bis zum Ende der ersten Szene, welche mit den Worten schließt:

»Gute Nacht, meine Damen, meinen Wagen.«

Nun aber brach ein förmlicher Beifallssturm los. Talma kam, indem er mich wegen dieser Vertraulichkeit um Verzeihung bat, auf mich zugestürzt und erklärte, ich sei keineswegs die Gesandtin von England, sondern die inkognito reisende Mistreß Siddons. Demzufolge küßte er mir die Hand. Beiläufig will ich hier eins bemerken, nämlich, daß nie ein großer Herr, wie ein Prinz oder König, der mir die Hand küßte, mir so viel Vergnügen machte, oder besser gesagt so große Ehre erzeigte, wie Talma in diesem Augenblick. Und Sir William begriff dies recht wohl, denn er faßte seinerseits Talmas Hand und drückte sie mit der Miene der innigsten Dankbarkeit. Ich entschlüpfte aus dem Saale, während man mich mit Ungestüm zurücklief. Man glaubte, der Auftritt sei zu Ende, Talma aber erklärte, daß erst die Hälfte aufgeführt und daß die noch übrige die malerischste und dramatischste sei. Ich wollte den Enthusiasmus meiner Bewunderer nicht kalt werden lassen und erschien fast sofort wieder mit meinem aufgelösten Haar, meinem Kranz von Maßlieben und Vergißmeinnicht und den wilden Blumen in meinem Schleier. Ich habe schon einmal die Wirkung geschildert, welche ich in dieser Rolle hervorbrachte. Man verzeihe meinem Stolze, wenn ich mich wiederhole. Es sind dies die einzigen Triumphe, welche keine Reue in mir zurückgelassen haben. Es war dies die reine Seite, die sich in mir Bahn brach; es war die künstlerische Flamme, welche mich mit ihrer Glorie krönte.

Warum hat Gott nicht erlaubt, daß ich in der Welt der Kunst lebte, anstatt in der Welt der Größe und des Glanzes? Es versteht sich von selbst, daß mein Erfolg das zweite Mal noch größer war als das erste Mal. Er endete mit einem förmlichen Streit, welchen Talma mit dem armen Ducis begann, den er beschuldigte, den Hamlet Shakespeares so entstellt zu haben, daß er nicht gewagt, die beiden Szenen, die ich soeben vorgeführt, darin aufzunehmen. Ducis schien gänzlich zu der Idee Talmas bekehrt zu werden, dennoch aber kam es mir vor, als wollte er seinen Hamlet lieber so lassen, wie er wäre, anstatt ihn nochmals von vorn anzufangen. Ebenso wie der Abbé Vertot war er mit seiner Belagerung fertig. »Ich hatte es Ihnen wohl gesagt,« wiederholte Talma. »Sie besitzen eine abscheuliche Wut, alles zu arrangieren. Es ist gerade so wie mit meinem Monolog, dem berühmten: ›Sein oder nicht sein,‹ welchen Sie mir vollständig verdorben haben. Wollen Sie vielleicht wissen, wie er im Englischen lautet, mein lieber Ducis? Schauen Sie her und hören Sie!«

Alle traten auf die Seite. Talma hielt sich ein paar Sekunden lang die Hand auf die Augen, um seiner Physiognomie Zeit zu geben, sich zu ändern. Dann ließ er langsam die Hand herabsinken, und mit träumerischer Stirn, stierem Auge und gesenktem Haupte begann er in englischer Sprache mit vortrefflichem Akzent jenes berühmte Verhör, wo das Leben den Tod zwingen will, ihm sein Geheimnis zu gestehen.

Talma war erhaben – O, wäre ich frei, wäre es mir erlaubt gewesen, meine goldene Kette zu brechen, wie würde ich gesagt haben »Nimm mich hin! Trage mich mit dir empor in die Höhe, wo du schwebst, und lass' mich nur an deinem Herzen wieder auf die Erde herabsinken.« Ach, leider hatte das Schicksal anders über mich verfügt. Verzeihe mir, mein Gott, daß ich nicht zu wählen, oder vielmehr, daß ich nicht zu warten wußte. Was kann es nützen, wenn ich den Rest dieses berauschenden Abends erzähle? Nach zweiundzwanzig Jahren leuchtet er noch durch die Nacht der Vergangenheit strahlender als meine schönsten Tage. Wir blieben beisammen bis Tagesanbruch, ohne daß jemand von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens ein einziges Mal daran gedacht hätte, die Stunde schlagen zu hören.


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