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Der innere Abgrund

1885, im Jahre des Zigeunerbarons, machte Neßlers Trompeter von Säkkingen die Stadt Wien wirblig: in allen Auslagen hingen die Photos von Reichmann und Sommer, die, das Bein romantisch auf einen altdeutschen Stuhl gestellt, »Behüt dich Gott« in die Herzen junger und alter Margareten bliesen. Von der Hofoper ging ein Trompeterrausch aus, dem auch Johann Strauß gewissermaßen zum Opfer fiel.

Er kam von dem Gedanken nicht mehr los, seine nächste Operette müsse »altdeutsch« sein, das Publikum sei jetzt auf derartige Stoffe eingestellt, während ihm Überlegung oder freundschaftliche Einsicht hätte raten müssen: das Gegenteil! Japanische, brasilianische, antarktische Geographie – welche immer! –, nur eben nicht das gleiche.

Strauß lebte in seinem Palais in eine geistige Exterritorialität eingeschlossen wie Peter Rosegger, der sich, um seine Originalität überflüssig besorgt, lange die Bücher anderer versagte. Strauß besuchte Theater und Konzert der gleichzeitigen Produktion wegen selten. Er las darüber in den Zeitungen oder ließ sich von Augen- und Ohrenzeugen berichten und war »kreuzunglücklich«, wenn ein gutes Libretto an ihm vorbeigegangen war. Dann trieb er seine Mitarbeiter an, ihm Ähnliches zu schaffen, und meistens war es ein Fehlgriff.

»Gebrach es ihm an Urteil, oder besaß er zu wenig Selbständigkeit und Energie, seine Meinung zu vertreten – bei ihm hatte jeder Recht und behielt es, wenn der Rechthaber zufällig der letzte war.

Dabei lieh er sein Ohr einer Menge von unberufenen und gefährlichen Ratgebern, die noch weniger von der Sache verstanden als er, und ihn in die schrecklichste Verwirrung stürzten. Bevor er sich für ein Sujet entschied, fanden förmliche Palastrevolutionen in der Igelgasse statt, und es wurden in den beiden Parterrezimmern Intrigenstücke aufgeführt, die für den unbeteiligten Zuschauer meist viel unterhaltender waren als die nachher ausgewählten Libretti. Entscheidend bei der Wahl war vor allem der jeweilige Geschmack des Publikums; dann erst wurde nach der Fabel, nach dem Szenarium, nach den Gesangsnummern gefragt.« (Max Kalbeck.)

Und nun, zur Neßlerzeit, als Backfischromantik und gute »altdeutsche« Hausmacherkunst den Ungeschmack einer Zeit bestätigten, indem sie ihn steigerten – Neßler war Reaktion auf Wagner! –, in dieser Familien- und Gartenlaubenepoche verfiel Johann Strauß auf einen Helden aus Grimmelshausens Simplicissimus, wie er, durch den Erfolg von Smetanas »Verkaufter Braut« in der Theater- und Musikausstellung alarmiert (1892), von einer slawischen Heldin, einer serbischen Brautwahl schwärmte und »Jabuka« komponierte ...

Er stand eben mit Moritz Jokai eines neuen Textes wegen in Verhandlung; mit Schnitzer einer Oper wegen, »Der Schelm von Bergen«, wovon er den ersten Akt geschrieben hatte. Alles fiel von ihm, als er von einem Textbuch hörte, das ein gewisser Victor Léon für Alfred Zamara, den Harfenvirtuosen und Komponisten, geschrieben hatte, eine Operette »Der Doppelgänger«, die in München erfolgreich aufgeführt worden und in ihrer Art ganz neu sei. Léon – das war vielleicht der von der Wölfin Gezeugte!

Victor Léon, damals ganz junger Schriftsteller, Lessing-Bewunderer, novarum rerum cupidus, ging auf Revolutionieren des Theaters aus, auf Niederreißen der Hans-und-Grete-Dramatik, Aufrichten der neuen »ernsthaften Operette«, wo menschliche Konflikte Höhepunkte bilden und was dergleichen Umsturzideen mehr waren. Es gor im Kessel der Zeit, man stand knapp vor dem deutschen Naturalismus, vorm Sonnenaufgang des neuen Dramas und auch in die Operettenwelt zitterte etwas von der Unruhe hinein. Kurz, dem Doppelgänger, der ersten revolutionär gedachten und empfundenen Operette sollte im Simplicius eine zweite folgen.

Eines Tages sendet Strauß seinen Freund Priester zu Léon und der will es erst nicht glauben, daß Strauß, der göttliche Johann Strauß, mit ihm, dem kaum bekannten Librettisten, zu sprechen wünscht; allein Strauß läßt erklären, er habe den »Doppelgänger« gesehen und frage an, ob Léon Ähnliches auf Lager habe. Natürlich hatte er es. Und als er von Strauß zum Abendessen eingeladen wird, kramt er, halb noch verlegen, halb glückberauscht seine Stoffe aus: Rubens' Frau, der Hirte David, Alarcons Dreispitz, wovon Strauß am meisten Rubens' Frau fesselte. Plötzlich unterbrach er den Weiterphantasierenden und fragte: was er mit Zamara arbeite. Léon erzählt lebhaft und dramatisch vom Simplicius, den er aus dem Grimmelshausschen Volksbuch samt dem klirrenden Dreißigjährigen Krieg auf die Bühne gehoben habe –, da springt Johann Strauß auf: »Mein lieber Léon, das muß ich haben! Den Simplicius muß ich bekommen!« Léons Einwendungen, er sei damit schon gebunden, entkräftet Herr Priester und beim Champagner wird Léon zum Mitarbeiter von Johann Strauß ernannt. Glücktaumelnd läuft er nach Haus, bringt am nächsten Tag, was von Simplicius fertig ist: das ganze Vorspiel, das Strauß entzückte, den ersten Akt, das Szenarium des zweiten Akts, das in seiner Unvollständigkeit allerdings wenig Eindruck machte, – »aber«, meinte Strauß, »wer einen ersten Akt wie diesen machte, wird auch einen guten letzten schreiben!«

Der Vertrag mit Strauß wird geschlossen und der mit Zamara gelöst, obwohl der erste Akt schon komponiert, die Aufführung für den 15. August in München festgesetzt, Brackl zum Sänger der Titelrolle bestimmt war.

Simplicius! Das war der deutsche Stoff! Das die neue Operette, die Strauß suchte! So stieg man endlich aus der Wiener Verflachung heraus!

Léon stand damals noch vor der großen Routine, die ihn nachmals berühmt machte. Er stellte den Simplicius als eine Art von reinem Toren dar, der, im Wald vergraben, nichts kennt als das nur halb verstandene Vaterunser und durch das Weib zum wissenden Helden erhöht wird. Mit dem Parsifalstoff verwandte Züge sind unverkennbar.

Später hat Léon, der auch ein dramaturgisches Brevier schrieb, die »Revolutionierung« des Theaters aufgegeben ... und eine Unzahl von selbständigen Komödien (»Gebildete Menschen«) und Textbücher verfaßt, davon seine erfolgreichsten für Lehár (wie die ursprünglich für Heuberger bestimmte Lustige Witwe). Er war einer der geplagtesten Librettisten, einer, der Komik im Schweiß seiner Stirn erzeugte und sich in Schicksale, Begebenheiten, Abkünfte aller der unbekannten Personen nächtlich verlor, die seine Phantasie hervorbrachte. Dabei kein Schablonist: seine Bücher zeigen vielmehr alle Abarten, vom Volksstück bis zum phantastischen Märchen, – allein damals war Léon jung beim Handwerk, noch zu breit und zu gesprächig und – was das schwerste ist – zu wenig heiter.

In der Tat kamen Strauß, nachdem das erste Feuer verraucht war und die Arbeit begann, allerlei Bedenken. Er ist nicht mehr »der gutmütige, nachsichtige Jeany«, meint er, er fühle die Langweile eines Buches schon beim Lesen. Den Simplicius will er heiterer als den Zigeunerbaron gestalten, das Wienerische bevorzugen, »zumal ich im Vorspiel und in manchen Situationen Gelegenheit finden mußte, einen ernsteren Ton anzuschlagen. Leider wird die Partitur um ein gutes Drittel länger als der ›Zigeunerbaron‹. Es ist daher nothwendig, daß jetzt schon dafür Sorge getragen wird (etwa durch einen praktischen Mitarbeiter), daß textliche Kürzungen vorgenommen werden, wo es nur möglich ist ...«

Strauß beabsichtigt, in diese Operette »keine Hopsasa-Themen« zu schließen, will vielmehr, wie er Priester mitteilt, »von den traditionellen Formen und dem Charakter des Dagewesenen in dieser Operette strengstens abweichen«.

Strauß arbeitet mit solchem Furor an der Musik, daß er sich nicht einmal Zeit nimmt, nach Berlin zu fahren, wo das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater einen großen, über einen Monat währenden Strauß-Zyklus veranstaltet. Er überreicht seine Partitur, ohne sie als Oper oder Operette zu bezeichnen, dem Theater an der Wien und erregt damit die größten Hoffnungen. Man dachte an eine Reformoperette – der Verleger bot Léon sogleich 20.000 Gulden für seinen Anteil, doch der Textdichter wies diese und ähnliche Anträge »im Vertrauen auf den Genius von Johann Strauß« ab. Die Autoritäten weissagten umgekehrt wie beim Zigeunerbaron. Doch beim Theater kommt es immer anders ...

Die Aufführung fand am 17. Dezember 1887 statt. Die Zuhörer sahen ein malerisches Bild des Dreißigjährigen Krieges, schwere Harnische, in denen Sonne funkelte, einen Berg mit Wallensteinschen Rittern; sahen in die wehmütig lächelnden Augen Girardis, der mit Wuschelhaar und langen Fingernägeln aus einer Verwechslung in die andere geht, bis er in Breithut und Koller des Reitermanns triumphiert – sahen alles, nur nicht die alten »Bühneng'spaß«, auf die sie eingestellt waren ... Man saß auf den Händen.

Und die Musik schien Lustigkeiten anzupeitschen, die sich ungehorsam zeigten.

Was war das – –?

Johann Strauß witterte ganz richtig ein neues Problem, ohne es in seiner verhängnisvollen Schwierigkeit zu kennen: das Problem der ernsten Spieloper. Daher sein Umgehen einer bestimmten Bezeichnung, sein Schwanken in der Stilistik, sein Bemühen um Heiterkeit im Ernst. Der Simpliciusstoff ließ sich nicht mehr nach der folgsamen alten Technik behandeln.

Strauß hatte ein halbes Menschenalter früher eine heitere Spieloper, den »Karneval« geschrieben; allein er war jetzt in die nach-wagnersche Zeit hineingealtert, besaß zwar die jugendliche Fülle des Einfalls, aber kein neues Form-Erlebnis. Die Entwicklung der Operndinge ging an ihm vorbei, ohne ihn mitzureißen; seine freiwillige Isolation begann sich zu rächen. So stellt er die pathetischen Ausdrücke der Oper in gewohnheitsmäßiger Zuversicht dicht neben die »Feschitäten« der Wiener Operette, wovon schon die Ouvertüre ein seltsames Zeugnis gibt.

Sie beginnt mit einem Symbol von geheimnisvoller Verschlossenheit, einer zweistimmigen Sequenz von moderner Haltung, einem aus dem Entlegenen in klarer Ruhe heraustretenden Gebilde:

Noten

Diesem Einsamkeitslaut folgt unvermittelt eine Musik für alle, ein pp beginnendes Hopsasa-Thema, 2/4, das also doch in die Partitur kam, ohne daß ein Thema sich ins andere entwickelt oder entwickeln könnte. Hört man das zweite, glaubt man das erste nicht mehr:

Noten

Es folgt die schöne Walzerromanze »Ich denke gern zurück«, deren edler Linienschwung wieder aus der Umgebung fällt. Das Ganze ist Potpourri, ein Stil, der Ernstzunehmendes leicht nimmt.

Das heitere Mosaik der Fledermaus-Ouvertüre wurde berauschende Einheit; hier bleibt der Eindruck der Klitterung, des Gewollten oder Gesuchten, nicht des Gemußten.

Und diesen Doppel- oder Zwitterstil trägt das ganze Werk. Opernlyrik von breitem Gefälle, prachtvolle absolut symphonische Musik wie das Es-dur-Duett (S. 69 d. Kl.-Auszugs) stößt an den Operettenton des »Donauweibchen-Walzers«; Opernrhythmik prallt im ersten Finale auf operettenhafte Marschseligkeit, die die Posse streift.

Doch auch im Zigeunerbaron waren zwei Farben, war Ungarn und Wien?

Gewiß.

Ungarn- und Wiener Musik, Lassan, Friß, Marsch, Walzer, Polka, Volkslied standen dort auf einer Ebene. Das Pathos der Operndinge liegt aber um eine Ebene höher und bleibt mit der Operette unverbunden. Auch Gustav Mahler hat burleske Dinge in die Symphonie geholt; aber er blieb oben und stilisierte das aus der Tiefe Geholte ins Hohe.

Das Stilproblem des Simplicius war: eine neue Sprache zu finden, einheitlich verschmolzen aus allen Straußtönen. Und eine Technik der Walzersymphonik, der beziehungsreichen Tonsymbole, die sich nicht auf gelegentliche Erinnerungsmelodien und aufbrausende Finali beschränkte.

Nicht viel später quälte sich ein anderer Wiener Meister mit der Problematik der Spieloper ab, – aber auch im Corregidor vermochte Hugo Wolf nicht die neue Sprache, die stofflösende Technik zu finden, die nur die Wagner-Fernen: Offenbach in Hoffmanns Erzählungen, Verdi in Falstaff fanden. Vor Johann Strauß wie vor Hugo Wolf lagerte das Riesengebirge des Wagnerschen Kunstwerkes. Der eine suchte es von der Operettenseite her zu umgehen, der andere von der Opernseite her ...

So mußte Strauß trotz seiner glücklichen melodischen Homophonie unter dem Verhängnis der Zeit an einem Problem scheitern, dessen Lösung erst dem genialen Namensvetter Richard beschieden war. Simplicius krankt an der Zwittrigkeit zweier Stilelemente ebenso wie, um es gleich vorwegzunehmen, mehr oder weniger der »Ritter Pázmán« und die »Jabuka«.

Zurückblieb eine Sammlung von Musikstücken, durch Kraft oder Anmut und immer durch Rhythmik reizend: das triolenschmetternde Reiterlied, auf dem sich das zweite Finale aufrichtet, das Des-dur-Duett Tilly-Simplicius (»Dummer Bub«) und das Glanzstück, die Walzerromanze »Ich denke gern zurück« mit ihrer brahmsisch geteilten Schwungoktave.

Sie gehörte zu den Straußischen Melodien der Zeitlosigkeit. In einem ernsten Konzert, das ich (1921) mit einem Sänger veranstaltete, ließ das Publikum das übliche Baritonprogramm mit Loeweschen Balladen ruhig über sich ergehen. Als die (heimlich eingeschobene) Walzerromanze kam, geriet alles in eine rhythmische Trunkenheit, entbrannt an der ewigen Jugend dieses genialen Stückes, von dem ich immer bedauere, daß es nicht Edelstein in der goldenen Schale, nicht factor agitans einer wirksamen Spieloper geworden ist.

Mitten im zweiten Akt der Uraufführung brach Feuerlärm aus und gefährdete Stimmung und Erfolg. Die Leute erhoben sich, durch eine Flamme, einen schwelenden Geruch erschreckt, stoben zu den Ausgängen, fluteten, durch Zurufe von der Bühne gelockt, wieder zurück und wurden aufs neue durch Feuerrufe von der Galerie aufgejagt. Der einzige, der bei dieser Panik ruhig blieb und Gewalt über seine Nerven behielt, war der Neurastheniker am Pult: Johann Strauß. Wie so oft zeigte sich, daß bei Gefahren die Nervösen am gefaßtesten sind.

Die Hutfeder eines Choristen hatte sich an einer Gasflamme versengt, noch saß die Erinnerung an den Ringtheaterbrand dem Publikum in den Nerven und die Panikstimmung war fertig. Strauß ließ die eben gesungene Walzerromanze vom Orchester wiederholen und beruhigte damit den großen Ameisenhaufen, – eine Beifallssalve klatschte durch den Lärm, der Fortgang der Szene, der Abend der Premiere war gerettet.

Wie ein Strom, der in lichte Auen flüchtet und dort von Katarakten träumt, die er hinter sich hat und nicht mehr gewinnen wird, mutet die Musik zu Simplicius an, ergreifend, weil sie eine forcierte, keine künstlerisch-naive Heiterkeit ist.

Die Fledermaus war gemußt; Simplicius war gewollt.


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