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Die graue Theorie

»Tu qui regis totum orbem ...«

Nun der Vater aus dem Hause ist, geht es mit Johann rasch vorwärts. Der Mutter blieben die Kinder zur Last und Erziehung; aber ein Alpdruck war gewichen.

Johann lernte zuerst gründlich Violine bei A. Kohlmann, Ballett-Korrepetitor des Kärntnertor-Theaters; dann – nach einem Unterricht bei Prof. Hofmann – Theorie bei Josef Drechsler, Regens-Chori der ehrwürdigen Kirche Am Hof zu den neun Chören der Engel.

Drechsler, damals schon über Sechzig, Altwiener Prachtstück wie der Lamperl-Hirsch, stammte aus der letzten Mozartzeit. Er war Deutschböhme gleich Simon Sechter, hatte aber, wenig seßhaft, seine Nase in alle Betriebe der Musik gesteckt, war auf Provinzschmieren mit hundert Praktiken gebeizt worden und landete zuletzt in Wien, wo er als Organist bei den Serviten, als Kapellmeister am Leopoldstädter Theater, als Theorielehrer bei St. Anna, als Domkapellmeister bei St. Stephan, den Weg des Gerechten zwischen Profan- und Kirchenmusik wandelte.

Ein wenig Pedant vom Cherubinischen Schlag, Bürokrat der Harmonielehre, erzeugte er Nutzmusik für Gottesdienste – und Melodien für Raimunds Zaubermärchen, sanglich, reizvoll, volkhaft, die jeder sang, als seien sie den Worten selbst entflossen.

Drechsler, der mit dem »Bauer als Millionär«, der »Unheilbringenden Krone« verwoben ist und seine Unsterblichkeit in einem hübschen Singspiel von Leo Fall (»Brüderlein fein«) fand, war der richtige Mann für Johann Strauß. Eine strenge Hand für den strengen Satz, eine feine Nase für melodisches Arom. Von welchen Gaben Johann Strauß allerdings nur vorübergehenden Gebrauch machte.

Eduard Strauß teilt in seinen »Erinnerungen« ein Notenblatt aus Johanns Studienzeit mit, worin man die Ungelenkheit sieht, die auf dem verminderten Septakkord von Tonart zu Tonart kriecht, aber auch das Vergnügen, das eine sichere Eselsbrücke bereitet.

Natürlich suchte der schon Abgeklärte den Schüler für die Würdigkeiten der Kirchenmusik zu gewinnen; allein es scheint, ein salbungsvolles Messen- und Oratoriengenie steckte nicht in Johann, der mit eilig »zusammengeschmierter Aufgab'« zur Stunde kam. In dessen Kopf es walzerte und der, einmal an die Orgel geführt und über ihr Wesen belehrt, der Königin der Instrumente bei verschlossener Kirchentür sogleich eine Polka entlockte. In seinen Fingern vibrierte keine Fuge ...

»Aus Ihna wird nix!« soll der alte Drechsler bei solchen Extratouren gesagt und die Augen zum Himmel geworfen haben. Bis unter seiner Aufsicht ein Graduale entstand, »Tu qui regis totum orbem«, vier Singstimmen mit Bläsern, G-dur, worin sich Eulenspiegel gänzlich hinter einem Maestoso verbarg. Ein Opus, das Drechsler selbst in der Kirche »Am Hof« aufzuführen für würdig hielt.

Dies Gesellenstück wurde zugleich das Meisterstück des jungen Strauß. Er packte sein Graduale ein, legte es einem Gesuch an den Wiener Magistrat bei und bewarb sich damit kurzerhand um die Lizenz zur Leitung eines Wirtshaus-Orchesters. »Wirtshaus« klingt nicht schön, aber man mußte irgendwo anfangen und konnte sich den Punkt im Weltall nicht aussuchen.

Der alte Drechsler war außer sich. Zur Tanzmusik! Abtrünnig! Und noch ganz unreif! Ohne Ahnung von Kanon und Fuge! Zur Tanzmusik ...!

Um die gleiche Zeit begann der junge Bruckner, nur ein Jahr älter als Johann Strauß, in ländlicher Ferne seine ersten Theoriestudien und beendigte sie 1861 nach sieben Jahren bei Simon Sechter, als Johann Strauß schon Regent des halben Erdkreises war, und fühlte sich dann noch immer nicht reif ...

Kopfschüttelnd fügte sich Drechsler. Kopfschüttelnd schrieb er in seiner Biedermeierschrift ein halb gütiges, halb schlaues »Zeugnis«, das Bestätigung, Hoffnung und Wunsch enthielt. Die Hoffnung wünschte, daß Johann Strauß »bei seiner leidenschaftlichen Vorliebe für dieses Studium nicht auf dieser Stufe stehen bleiben, sondern stets vorwärtsschreiten werde«. Und der Wunsch hoffte, daß »dieser bescheidene, sehr gebildete Jüngling, dieses aufkeimende Talent in dem von ihm selbst gewählten Stande soviel wie möglich unterstützt werde«.

Das geschah im Juli 1844. Und mußte geschehen, denn Johann erlebte und erlitt mit seiner Mutter die Mühsal jeden Tags. Und mußte ein Ende finden, mußte irgendwie die unverwitwete Witwe mit den fünf Kindern über Wasser halten.

Eine entschlossene Gebärde: das Studium ist aus! Der Tanz beginnt! Er bot dem Meister Drechsler die Abschiedshand. Vergeblich suchte er sich und seine Lage dem alten Herrn klarzumachen. Der sagte nur ärgerlich: »Na so gengan S' und schreiben S' Walzer wie Ihna Vater. Dazu hätten S' freili' kan Kontrapunkt net braucht!«

Strauß war achtzehn, also minderjährig; aber der Magistrat hielt sich an Zeugnis und Graduale und die zu erwartende Steuer. Er holte die väterliche Genehmigung, die ohnehin nie gekommen wäre, nicht erst ein. Es handelte sich um ein »freies Gewerbe« und Anfang September war die Bewilligung da.

Vier Wochen darauf hat der junge Mensch die notwendigen 15 Mann für sein Orchester beisammen, er sammelt Geiger und Bläser in der Musikantenherberge »Zur Stadt Belgrad«, die immer voll stellenloser Genies war, studierte mit ihnen ein paar Stücke über Hals und Kopf – die halbjährige Studienzeit mußte durch eine emsige Praxis gekrönt werden – und Anfang Oktober ist er zum großen Schlag bereit, gelaunt, der Vaterstadt und Stadt seines Vaters den Kopf zu verdrehen.

»Ja, hast denn ein Repertoire?« fragte eine mißtrauische Freundesstimme.

In der Tat bildete (und bildet) das große Repertoire Ehre und Stolz der Tanzkapellen. Ihre Ehre war vermindert, mußten sie nach acht Tagen ihre Stücke wiederholen; ihr Stolz gebrochen, traten sie nicht jedesmal mit einem neuen Walzer auf.

»Aber ich habe doch vier Walzer, zwei Quadrillen und drei Polkas!« erwiderte sein junges Bewußtsein mit Selbstironie.

»Es wird schon gehen!«

Und es ging, wie in allen Fällen, wo es eben gehen muß.

So kam für den gänzlich »Unbefugten« im Drechslerschen Sinn, der nur Genie und einen Namen hatte, der 15. Oktober 1844; der große Tag, wo er Wien aus den Fugen, sich selbst aus der Taufe hob.

»Tu qui regis totum orbem ...«


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