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Siebentes Kapitel.
Mirabeaus Tod.

Mirabeau hatte aber ebensowenig noch ein Jahr zu leben, als er tausend Jahre hätte leben können. Des Menschen Jahre sind gezählt, und Mirabeaus Geschichte war jetzt vollendet. Ob man bedeutend oder unbedeutend war, ob man in der Weltgeschichte durch Jahrhunderte genannt oder schon nach einem Tag oder zwei Tagen vergessen ist, darum kümmert sich das gebieterische Schicksal nicht. Mitten aus dem Hasten des rosigen, thätigen Lebens winkt uns schweigend der bleiche Bote heraus; weitreichende Interessen, Entwürfe, Rettung der französischen Monarchie oder was immer du unter den Händen hast, alles mußt du sofort verlassen und gehen, gleichviel ob du französische Monarchien rettest oder Schuhe auf dem Pont Neuf schwärzest. Auch der bedeutendste unter den Sterblichen darf nicht verweilen; und hinge die Weltgeschichte an einer Stunde, – diese Stunde kann nicht gewährt werden. Darum ist unsere Frage: Was wäre geschehen? meist eine müßige. Die Weltgeschichte kann nie und nimmer der Ausdruck dessen sein, was nach Maßgabe irgend einer Möglichkeit sein möchte, könnte oder sollte, sie ist einzig und allein der Ausdruck dessen, was ist.

Mirabeaus Lebensführung hat die riesige Eichenkraft mit wildem Ungestüm gerüttelt und geschüttelt – und erschöpft. Es war ein fieberhaftes Hasten, das Herz und Kopf im verzehrenden Glühen erhält; ein Übermaß von Anstrengung und Aufregung, ein Übermaß in allem; ein rastloses Arbeiten, das beinahe ans Unglaubliche grenzt! »Hätte ich nicht mit ihm gelebt,« sagt Dumont, »so hätte ich nie erfahren, was man aus einem einzigen Tage machen kann, was sich alles in den Zeitraum von zwölf Stunden hineinlegen läßt. Ein Tag war für diesen Mann mehr als für andere eine Woche oder ein Monat; die Menge der Geschäfte, die er gleichzeitig leitete, war fabelhaft; vom Entwerfen bis zum Ausführen ging kein Augenblick verloren.« – »Herr Graf,« sagte einst sein Sekretär zu ihm, »was Sie verlangen, ist einfach unmöglich.« »Unmöglich?« erwiderte er, vom Stuhle aufspringend, »kommen Sie mir nie wieder mit diesem dummen Wort.« Dumont, p. 311. ( Ne me dites jamais ce bête de mot.) Und dann die Gesellschaften und Gastmähler, die er als Kommandant der Nationalgarde 435 giebt, (die fünfhundert Pfund kosten); ach, und die Sirenen der Hofoper und all der Ingwer, der heiß im Munde brennt: – auf welch abschüssiger Bahn bewegt sich dieser Mann! Kann Mirabeau nicht innehalten, kann er nicht fliehen und sein Leben retten? Nein; dieser Herkules trägt ein Nessushemd am Leibe, er muß rastlos stürmen und brennen, bis er verzehrt ist. Menschliche Kraft, und wäre sie noch so herkulisch, hat ihre Grenzen. Blasse Schatten, Vorboten der blassen Ruhe, zucken durch das Feuerhirn Mirabeaus. Während er dahinstürmt und rast und jeden Nerv anspannt in diesem Meer von Ehrgeiz und Verwirrung, tritt düster und still eine Mahnung an ihn heran, daß das Ende davon ein schneller Tod sein wird.

Schon im letzten Februar konnte man sehen, daß er als Präsident der Versammlung bei der Abendsitzung seinen »Hals in leinene Tücher eingehüllt« hatte; es zeigte sich krankhafte Hitze des Blutes; bald wurde es schwarz vor seinen Augen, bald zuckten Blitze auf; er mußte nach der Morgenarbeit Blutegel ansetzen und verbunden präsidieren. »Beim Abschied,« sagt Dumont, »umarmte er mich mit einer Rührung, die ich nie an ihm bemerkt hatte. ›Ich sterbe hin, mein Freund, sterbe als würde ich von langsamem Feuer verzehrt; wir werden uns vielleicht nicht mehr sehen. Wenn ich nicht mehr bin, wird man erst wissen, was ich war. Das Unglück, das ich aufgehalten, wird von allen Seiten über Frankreich hereinbrechen.‹« Dumont, p. 267. Die Krankheit warnt noch vernehmlicher, er kann nicht darauf hören. Als er am 27. März in die Versammlung ging, mußte er unterwegs bei Freund de Lamark Hilfe und Ruhe suchen und lag hier eine halbe Stunde lang halb ohnmächtig auf dem Sofa ausgestreckt. Trotzdem ging er, als wollte er dem Schicksal trotzen, in die Versammlung und sprach laut und eifrig fünfmal hintereinander; dann verließ er die Rednerbühne – für immer. Zu Tode erschöpft tritt er in den Tuileriengarten hinaus; viel Volk drängt sich wie gewöhnlich mit Bittschriften und Anliegen um ihn; er sagt zu dem ihn begleitenden Freunde: »Bringe mich fort von hier.«

Und so füllt sich am letzten März des Jahres 1791 die Rue de la Chaussée d'Antin mit zahllosen, ängstlich besorgten Menschen, die unaufhörlich Erkundigungen einziehen; in dem Hause, das jetzt die Nummer 42 trägt, ist der erschöpfte Riese 436 niedergesunken, um zu sterben. Fils Adoptif, VIII, 420-479. Scharen von Leuten aller Parteien, aller Stände, vom König bis zum niedrigsten Bettler! Der König läßt zweimal des Tages offiziell und überdies privatim Erkundigungen einziehen; von nah und fern nimmt das Anfragen kein Ende. Alle drei Stunden wird ein geschriebenes Bulletin ausgegeben; es wird abgeschrieben, weitergegeben und schließlich gedruckt. Das Volk beobachtet freiwillig lautloses Schweigen; kein Wagen mit seinem Geräusch darf vorbeifahren. Es herrscht dichtes Gedränge; aber der Schwester Mirabeaus, die man erkennt, macht man ehrerbietig Platz. Die Menge harrt in stummer Ergriffenheit; und allen scheint es, als ob ein großes Unglück nahte, als ob der letzte Mann, welcher der kommenden Wirren in Frankreich Herr werden könnte, nun da läge im verzweifelten Ringen mit der überirdischen Macht.

Aber das Schweigen eines ganzen Volkes ist vergeblich, vergeblich die unermüdliche Aufopferung seines Freundes und Arztes Cabanis; am Sonnabend, den 2. April fühlt Mirabeau, daß für ihn der Tage letzter angebrochen ist, daß er an diesem Tage scheiden muß und nicht mehr sein wird. Titanenhaft wie sein Leben ist auch sein Tod. Wie wenn die nahende Auflösung einen Schimmer der Verklärung über ihn breitete, erglüht und erstrahlt zum allerletztenmal der Genius dieses Mannes und äußert sich in Worten, die man lange im Gedächtnis behalten wird. Wohl sehnt er sich nach dem Leben, aber er beugt sich vor dem Tode und hadert nicht mit dem Unerbittlichen. Seine Reden werden phantastisch und seltsam, überirdische Phantome scheinen jetzt ihren Fackeltanz um seine Seele zu tanzen, die feuerstrahlend, regungslos, gerüstet der großen Stunde entgegensieht Manchmal fällt noch ein Lichtstrahl von ihm auf die Welt, von der er scheidet. »Ich trage in meinem Herzen das Grablied der französischen Revolution; ihre sterblichen Reste werden nun die Beute der Parteien sein.« Er vernimmt Kanonendonner und macht die charakteristische Bemerkung: »Hebt sie schon an, die Leichenfeier des Achilles?« Und zu einem Freunde, der ihn aufrichtet, sagt er: »Ja, stütze nur diesen Kopf, ich wollte, ich könnte dir ihn hinterlassen.« Denn dieser Mann stirbt, wie er gelebt bat: voll Selbstbewußtsein, in der Überzeugung, daß eine Welt auf ihn blickt. Er schaut in den jungen Lenz hinaus, der für ihn nicht mehr zum Sommer werden soll. Die Sonne 437 ist eben aufgegangen, und er spricht: » Si ce n'est pas là Dieu, c'est du moins son cousin germain.« Fils Adoptif, VIII, 450; Journal de la maladie et de la mort de Mirabeau, par P. J. G. Cabanis (Paris, 1803). – Nun hat der Tod die Außenwerke genommen, das Sprachvermögen ist verloren; aber die Citadelle, das Herz, hält sich noch; der sterbende Riese verlangt leidenschaftlich durch Zeichen Papier und Feder und begehrt schreibend leidenschaftlich Opium, um die Todesqualen zu enden. Betrübt schüttelt der Arzt den Kopf; » Dormir! « schreibt der andere und deutet leidenschaftlich auf das geschriebene Wort. – So stirbt ein gigantischer Heide, ein Titan; blindlings und unerschrocken stürzt er ins Grab. Um halb neun Uhr morgens sagt Doktor Pétit, der am Fuße des Bettes steht: » Il ne souffre plus.« Sein Leiden und sein Wirken ist zu Ende.

Trauert, ihr schweigenden Patrioten, trauere, du Volk von Frankreich, dieser Mann ist euch entrissen. Er ist plötzlich zusammengebrochen, ohne sich erst zu beugen und zu biegen, bevor er brach; er ist zusammengestürzt wie ein Turm, der vom jähen Blitze getroffen wird. Sein Wort sollt ihr nicht mehr hören, seinem Rate nicht mehr folgen. – – Tief ergriffen zerstreut sich die Menge und verbreitet die Trauerkunde. Wie rührend ist die Anhänglichkeit der Menschen an den, den sie als ihren Herrn und Gebieter anerkannt haben. Alle Theater und öffentlichen Vergnügungsorte sind geschlossen; in diesen Nächten giebt es keine geselligen Freuden, die Freude ist gewichen; ja das Volk dringt sogar in Privathäuser ein, in denen getanzt wird, und verlangt, daß man den Tanz abbreche. Von solchen Tanzunterhaltungen kamen nur zwei ans Licht. und diese mußten aufhören. Die Trauer ist allgemein; nie gab es in dieser Stadt ein solches Trauern um einen Toten, niemals seit jener längst vergangenen Nacht, in der Ludwig XII. starb und die Crieurs de Corps mit ihren Schellen klingelnd durch die Straßen zogen und riefen: Le bon roi Louis, père du peuple, est mort! Hénault, Abrégé Chronologique, p. 429. Jetzt ist es Mirabeau, um den man trauert, und ohne Übertreibung darf man sagen: das ganze Volk trauert um ihn.

Drei Tage lang vernimmt man weit und breit nichts als leises Klagen, selbst in der Nationalversammlung fließen Thränen. Auch in den Straßen herrscht nur Trauer; Redner steigen auf die Ecksteine und halten vor einer zahlreichen 438 schweigenden Zuhörerschaft Trauerreden auf den Toten. Kein Kutscher fahre schnell durch diese Gruppen und störe sie durch das Rollen seiner Räder; er thut besser, ihnen ganz auszuweichen; sonst könnten ihm die Wagenstränge durchschnitten, und er samt seinem Fahrgast als unverbesserliche Aristokraten in die Gosse geworfen werden. Die Redner auf den Ecksteinen sprechen, so gut sie können; das sansculottische Volk mit seiner rauhen Seele lauscht ihnen mit gespannter Aufmerksamkeit, hören doch alle Menschen gern einer Rede oder Predigt zu, wenn das gesprochene Wort durch seinen Inhalt wirklich Etwas bedeutet und nicht ein inhaltloses Geschwätz ist, das Nichts bedeutet. Im Restaurant des Palais-Royal äußert der Kellner: »Schönes Wetter, Monsieur.« »Ja, Freund,« antwortet der alte Gelehrte, »schönes Wetter, aber Mirabeau ist tot.« Klagelieder kommen auch aus den heiseren Kehlen der Straßensänger und werden, auf weißgrauem Papier gedruckt, das Stück zu einem Sou verkauft. Fils Adoptif, VIII, 1. 10; Zeitungen und Auszüge (in Histoire Parl. IX, 366-402). Portraits, gemalte, gestochene, in Stein gehauene oder geschriebene Portraits, Lobreden, Erinnerungen, Biographien, ja sogar Vaudevilles, Dramen und Melodramen werden während der folgenden Monate in allen Provinzen Frankreichs in unermeßlicher Fülle hervorsprießen wie die Blätter im jungen Frühling. Und damit man das Burleske nicht ganz vermisse, darf Gobels Hirtenbrief nicht fehlen, jener Gans Gobel, die eben zum konstitutionellen Bischof von Paris ernannt wurde. Es ist ein Hirtenbrief, in dem das Ça-ira gar wunderlich mit dem Nomine Domini abwechselt, ein Hirtenbrief, in dem wir allen Ernstes eingeladen werden, »uns darüber zu freuen, daß wir in unserer Mitte einen durch Mirabeau geschaffenen Stand von Prälaten besitzen, eifrige Anhänger seiner Lehre, treue Nachahmer seiner Tugenden.« Hist. Parl. IX, 405. So redet und gackert auf mannigfaltige Weise der Schmerz Frankreichs, bald verständlich, bald unverständlich klagend, daß ihm eine Herrschernatur entrissen ist. So oft in der Nationalversammlung schwierige Fragen auf die Tagesordnung kommen, werden aller Augen »mechanisch nach dem Platz blicken, wo Mirabeau saß;« – er aber ist nicht mehr da.

Am dritten Abend der Klagen, am 4. April, findet das feierliche Leichenbegängnis statt, so großartig wie es einem 439 Toten nur selten zu teil wird. Der Leichenzug, an dem nach oberflächlicher Schätzung hunderttausend Leidtragende teilnehmen, ist eine Meile lang. Alle Dächer sind mit Zuschauern überfüllt, ebenso alle Fenster, Laternenpfähle und die Äste der Bäume. »Trauer malt sich auf jedem Antlitz, viele weinen.« Wir sehen ein Doppelspalier von Nationalgarden, die Nationalversammlung in corpore, die Jakobinergesellschaft und andere Vereine; die königlichen Minister, die Munizipalbehörden, alle patriotischen und aristokratischen Notabilitäten. Unter diesen bemerken wir auch Bouillé, »mit dem Hute auf dem Kopf;« er hat ihn über die Stirn gezogen, als wollte er die Gedanken verbergen, die sie einschließt. In feierlicher Stille bewegt sich der meilenlange Trauerzug im Glanze der Abendsonne (denn es ist schon fünf Uhr) langsam dahin. Gedämpfter Trommelwirbel und die langgezogenen Klagetöne der Musik unterbrechen von Zeit zu Zeit das feierliche Schweigen, und wie ein Grablied aus metallenen Kehlen lassen manchmal inmitten des unendlichen Gesummes der Menschen die Posaunen ihre seltsamen, ungewohnten Töne erschallen. In der St. Eustachius-Kirche hält Cerutti die Leichenrede; die Gewehrsalve, die dann abgegeben wird, »löst ganze Stücke Gips von der Decke.« Von hier geht es zur Genovevenkirche, die dem Zeitgeist entsprechend durch höchsten Beschluß zu einem Pantheon der großen Männer des Vaterlandes geweiht worden ist: Aux Grands Hommes la Patrie reconnaissante. Erst kurz vor Mitternacht ist die Leichenfeier zu Ende, und Mirabeau ist als erster Bewohner dieses vaterländischen Pantheons allein in seiner dunklen Behausung zurückgeblieben.

Leider nur ein Bewohner auf Widerruf, den man wieder hinausweisen wird; denn in diesen Tagen krampfhafter Erschütterungen und Zerklüftungen gönnt man nicht einmal dem Staub der Toten Ruhe. Es währt nicht lange, und auch Voltaires Gebeine werden aus ihrem heimlich erschlichenen, gestohlenen Grabe in der Abtei von Scellières in ein gierig stehlendes Grab in seiner Vaterstadt Paris überführt werden. Alle Welt giebt ihm das Geleite, viele Reden werden gehalten; acht Schimmel ziehen den Leichenwagen; die Wagenlenker tragen klassische Kostüme mit überreichem Bänderschmuck, trotz des regnerischen Wetters. Moniteur vom 13. Juli 1791. Auch der Evangelist Jean Jacques muß, wie es sich jetzt gebührt, in 440 Ermenonville ausgegraben und feierlich unter pomphaftem Gepränge und großem Aufwand an Gefühl in das vaterländische Pantheon gebracht werden: Moniteur vom 18. Sept. 1794; siehe auch vom 30. August 1791. er und noch andere. Mirabeau dagegen wird, wie wir sagten, wieder hinausgewiesen, zum Glück, ohne wieder zurückkehren zu können; denn er ruht jetzt unkenntlich in der Vorstadt St. Marceau im mittleren Teile des St. Katharinenfriedhofes, wo man ihn in der Stille der Nacht eilig wieder begraben hat, und wird nicht mehr gestört werden.

So erlischt, weithin sichtbar, das Leben dieses Mannes; er wird zu Asche und zu einem Caput mortuum in diesem Weltbrande, den wir französische Revolution nennen: nicht der erste, der sich darin verzehrte, und nicht der letzte von Tausenden und Millionen; ein Mann, der »alle Formeln verschlungen« hatte, der sich in diesen eigenartigen Zeiten und Verhältnissen berufen fühlte, als Titan zu leben und zu sterben. Er für seinen Teil hat alle Formeln verschlungen; wo ist nun die Formel zu finden und wäre sie noch so umfassend, die sein Plus und Minus richtig ausdrückt und das Reinergebnis seiner Persönlichkeit angiebt? Bis jetzt giebt es keine. Gar manche Sittengesetze müssen über Mirabeau ihr Verdammungsurteil sprechen; das Sittengesetz, nach dem er beurteilt werden könnte, ist noch in keiner menschlichen Sprache ausgesprochen worden. Noch einmal wollen wir es wiederholen: Er ist eine Wirklichkeit und kein Schein; er ist ein lebendiger Sohn der Natur, unserer gemeinsamen Mutter, und keine hohle Künstelei, kein toter Mechanismus von konventionellen Regeln; er ist niemandes Sohn, niemandes Bruder. Welche Bedeutung in diesem kleinen Worte liegt, das bedenke der ernste Mann, der traurig durch eine von lauter »ausgestopften Puppen« bewohnte Welt wandelt, die gedankenlos schwätzend ihn blöde angrinsen.

Die Zahl der Männer, die in diesem Sinne leben und mit Augen sehen, ist jetzt nicht groß: wir wollen zufrieden sein, wenn wir in der ungeheueren französischen Revolution mit ihrer alles enthüllenden Wut ihrer drei finden. Wir sehen zwar Sterbliche, die bis zur Raserei getrieben, die schärfste Logik hervorsprudeln, ihre Brust einem Hagel von Geschossen, ihren Hals der Guillotine preisgeben: – aber auch von ihnen müssen wir zu unserem Leidwesen sagen, daß sie zum guten Teil noch künstlicher Formelkram, daß sie nichts 441 Wirkliches, Thatsächliches, sondern nur ein Scheinbild sind, das Spiegelbild dessen, was sie hören und sehen, kurz, ein bloßes Hörensagen.

Ehre dem starken Manne, der sich in diesen Zeiten vom Scheine losgemacht hat und etwas ist. Denn, um etwas wert zu sein, ist doch die erste Bedingung, daß man etwas ist. Zuerst müßt ihr den heuchlerischen Schein um jeden Preis, auf jede Gefahr hin aufgeben; so lange dieses besteht, kann nichts anderes beginnen. »Von allen verbrecherischen Sterblichen in diesen Jahrhunderten,« schreibt der Moralist, »finde ich nur einen einzigen, dem man nicht verzeihen darf, den Heuchler;« denn er ist, wie der göttliche Dante singt, »Gott und den Feinden Gottes gleich verhaßt.«

A Dio spiacente ed á nemici suoi!

Wer aber mit Sympathie, die doch das erste Erfordernis zur Einsicht ist, diesen rätselhaften Mirabeau betrachtet, wird finden, daß in ihm Aufrichtigkeit, ein großer, freier Ernst, ja wir dürfen sagen, eine große Ehrlichkeit wirklich die Grundlage von allem bildeten; denn er durchsah mit seinem schnellen, klaren Blicke vor allem das, was wirklich war, was als Faktum existierte; ihm allein und nichts anderem folgte er mit seinem ungestümen Herzen. Daher bleibt er, welchen Weg immer er wandelt, wie er auch ringt, wie oft er auch fällt, ein Mitmensch. Hasse ihn nicht; du kannst ihn nicht hassen! Denn in diesem Manne leuchtet durch alle Flecken und Verdunkelungen hindurch, bald siegreich strahlend, bald im Ringen verdunkelt das Licht des Genies, das noch niemals niedrig und hassenswert war, sondern zum mindesten unser Bedauern, unser mit Liebe gepaartes Mitleid erwecken muß. Man sagt, daß er ehrgeizig war und Minister werden wollte. Das ist wahr; aber war er nicht geradezu der einzige Mann in Frankreich, der als Minister etwas Gutes hätte schaffen können? Nicht Eitelkeit allein, nicht Stolz allein, nein, auch leidenschaftliche Ausbrüche von Liebe und jähem Zorn, auch der milde Tau der Barmherzigkeit fanden in diesem großen Herzen Raum. So tief er auch gesunken und durch Laster entstellt war, so darf doch auch von ihm wie einst von jener Magdalena gesagt werden: er hat viel geliebt; sogar seinen Vater, den härtesten aller alten Querköpfe, hat er innig geliebt und verehrt.

Mag sein, daß seine Fehltritte und Verirrungen zahlreich waren, – wie er es ja selbst, oft sogar unter Thränen 442 beklagte. Dumont, p. 287. Ach, ist nicht das Leben eines jeden solchen Mannes im poetischen Sinne eine Tragödie, gefügt aus Schicksal und eigener Schuld, reich an Elementen des Mitleids und der Furcht? Dieser Mitbruder erscheint uns, wenn nicht episch, so doch tragisch, wenn nicht erhaben, so doch groß, groß in seinen Eigenschaften, weltgroß in seinen Schicksalen. Andere Menschen, die ihn als solchen anerkennen, werden lange Zeit seiner gedenken und ihm näher treten, um ihn zu prüfen und zu betrachten; sie werden in den verschiedensten Zungen von ihm singen und sagen, – bis das Rechte gesprochen und die Formel, nach welcher er sich beurteilen läßt, gefunden sein wird.

Hier also verschwindet der wilde Gabriel Honoré aus dem Gewebe unserer Geschichte, nicht ohne ein tragisches Lebewohl. Er ist dahingegangen: die Blüte des wilden Riquetti- oder Arriquetti-Geschlechtes. Scheint es nicht, als habe dieses mit einer letzten Anstrengung sein Bestes geleistet und sei dann erloschen oder auf das gewöhnliche Mittelmaß herabgesunken? Der alte Querkopf Marquis Mirabeau, der Menschenfreund, schläft schon den tiefen Todesschlaf. Der Bailli Mirabeau, der würdige Oheim, wird bald einsam und verlassen sterben. Mirabeau-Tonneau, der schon über den Rhein gegangen ist, wird von seinem Emigrantenregiment fast zur Verzweiflung getrieben. »Mirabeau-Tonneau,« sagt einer seiner Biographen, »ging voll Entrüstung über den Rhein und drillte Emigrantenregimenter. Als er aber eines Morgens in seinem Zelte saß, ohne Zweifel mit verstimmtem Magen und Herzen, und in übelster Laune über die Wendung der Dinge nachgrübelte, verlangte ein Kapitän oder Subaltern-Offizier, in dienstlichen Angelegenheiten vorgelassen zu werden. Der Kapitän wird abgewiesen; er wiederholt sein Begehren und wird zum zweiten- und zum drittenmal abgewiesen. Ja, der Oberst Vicomte Mirabeau-Tonneau ergreift, in seinem Zorne wie ein brennendes Branntweinfaß auflodernd, sein Schwert und stürzt taumelnd hinaus auf die zudringliche Kanaille – stürzt leider in die zudringliche Degenspitze der Kanaille, die behende vom Leder gezogen hatte, – und stirbt; die Zeitungen nennen es Schlagfluß und einen schrecklichen Zufall. So sterben die Mirabeaus.

Von neuen Mirabeaus hören wir nichts; das wilde Geschlecht ist, wie gesagt, mit seinem Größten ausgestorben, wie 443 ja oft Familien und Geschlechter verschwinden, wenn sie nach langen Zeiten der Bedeutungslosigkeit irgend eine lebende Quintessenz aller ihrer Eigenschaften hervorgebracht haben, die als weltberühmter Mann in weithin sichtbarem Glanze erstrahlt; dann ruhen sie, als hätten sie sich erschöpft, und überlassen das Scepter anderen. Der letzte, der auserwählte Mirabeau ist dahin, dahin der Auserwählte Frankreichs. Er war es, der das alte Frankreich in seinen Grundfesten erschütterte, er war es aber auch, der jetzt mit seiner einzigen Hand das dem Einsturz nahe Gebäude vor dem Zusammenbruch bewahrte. Was hing alles von diesem einen Mann ab! Er gleicht dem Schiffe, das plötzlich an verborgenen Klippen gescheitert ist: – von aller Hilfe fern, treibt jetzt Vieles auf dem unendlichen Meere.

 


 


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