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Zehntes Kapitel.
Les grandes entrées

Die trübe Dämmerung eines neuen kalten, regnerischen Morgens war kaum über Versailles angebrochen, als es dem Schicksal gefiel, daß ein Leibgardist auf dem rechten Schloßflügel aus dem Fenstern schauen sollte, um zu sehen, welchen Anblick Himmel und Erde böten. Gesindel männlichen und weiblichen Geschlechts streift vor seinen Augen umher. Sein knurrender Magen macht ihn nicht ohne Grund übellaunig, und so kann er vielleicht einen kurzen Fluch über das Gesindel nicht unterdrücken, oder er kann sich wenigstens nicht enthalten, einen solchen zu erwidern.

Böse Worte erzeugen noch bösere, bis auf das böseste Wort die böse That folgt. Hat der fluchende Leibgardist, der (wie es nicht anders sein konnte) im Schimpfen übertrumpft wurde, wirklich sein Gewehr geladen und zu schießen gedroht oder wirklich geschossen? Wer das wüßte! Behauptet wird es, wenn es auch uns unglaubwürdig erscheint. Doch, wie dem auch sei, der bedrohte Pöbel wiehert und rüttelt vor Wut an allen Gittern: das Schloß des einen (einige erklären, es sei eine bloße Kette gewesen) giebt nach, der Pöbel ist im großen Hofe und wiehert noch lauter.

Der fluchende Leibgardist und noch einige seiner Kameraden geben nun Feuer, und einem Manne wird der Arm 280 zerschmettert. Lecointre wird aussagen, Dépositions de Lecointre (in Histoire Parlem. III, 111-115). »Sieur Cardine, ein unbewaffneter Nationalgardist, sei erstochen worden.« Aber seht, gewiß ist, daß der arme Jerôme l'Héritier, auch ein unbewaffneter Nationalgardist, Sohn eines Pariser Sattlers, Kunsttischler von Beruf, dessen Kinn noch jugendlicher Flaum bedeckt, tödlich getroffen aufs Pflaster sinkt und den Boden mit seinem Blut und Gehirn bespritzt. Ein Schrei des Mitleids und unstillbarer Rache erhebt sich, wilder als der Iren heulende Totenklage. In wenigen Minuten ist auch das Gitter zum inneren und innersten Hofe, dem sogenannten Marmorhof, durch Gewalt oder Überrumpelung gesprengt und genommen; auch er wird überflutet, und dann ergießt sich die lebendige Sündflut über die große Freitreppe, über alle Stiegen und Eingänge! Deshuttes und Varigny, die zwei wachehaltenden Leibgardisten werden niedergerannt und von hundert Piken durchbohrt. Weiber bemächtigen sich ihrer Säbel oder sonst einer Waffe und stürmen wie Mänaden hinein; andere Weiber heben die Leiche des erschossenen Jerôme auf und legen sie auf die Marmorstufen nieder; hier soll sein zerschmettertes Haupt mit dem fahlen Antlitz und dem für immer stummen Munde eine beredte Sprache sprechen.

Wehe nun allen Gardes du Corps, für sie giebt es kein Erbarmen. Miomandre de Sainte-Marie steigt vier Stufen auf der Hauptstiege herab und fleht mit sanften Worten zu dem wütenden Orkan; seine Kameraden reißen ihn an Schoß und Gürtel buchstäblich aus dem Rachen des Verderbens und schlagen die Thür zu. Auch sie wird nur noch Minuten standhalten; ihre Füllungen zerschellen wie Scherben. Das Verbarrikadieren hilft euch nichts; flieht, ihr Gardes du Corps, flieht schnell; gleich Höllenhunden rast euch in wilder Jagd der wütende Aufstand auf den Fersen nach!

Die entsetzten Leibgarden fliehen, alles hinter sich verriegelnd und verrammelnd, ihnen nach das wilde Heer. Wohin? Von Saal zu Saal und, wehe, jetzt stürmt es zu den Gemächern Ihrer Majestät, in deren letztem die Königin selbst schläft. Fünf Wachen stürzen durch die lange Zimmerreihe, schon sind sie im Vorzimmer und rufen laut: »Rettet die Königin!« Den angstvoll zitternden Frauen, die sich weinend ihnen zu Füßen werfen, antworten sie: »Ja, wir wollen sterben, rettet die Königin!«

Zittert nicht, ihr Frauen, eilt nur! Hört, noch eine Stimme 281 ruft aus der Ferne von der äußersten Thür: »Rettet die Königin!« und die Thür schließt sich. Das ist die Stimme des wackeren Miomandre, das ist sein zweiter Warnungsruf; durch ringsum dräuenden Tod ist er hindurchgestürmt, um dies thun zu können, und nun, da es gethan ist, bietet er dem dräuenden Tode die Stirn. Der brave Tardivet du Repaire, der denselben verzweifelten Dienst leisten will, wird mit Piken niedergestoßen und nur mit Mühe reißen ihn seine Kameraden noch lebend hinein. Miomandre und Tardivet: mögen die Namen dieser zwei Leibgardisten, wie die Namen aller Wackeren lange fortleben!

Zitternde Ehrendamen, von denen eine Miomandre aus der Ferne erblickt und verstanden hat, hüllen die Königin hastig ein: nicht in Staatsgewänder. Sie flieht, um ihr Leben zu retten, durch das Oeil de Boeuf, auf dessen Hauptthür auch schon der Aufruhr schlägt. Jetzt ist sie in des Königs Gemach, in des Königs Armen, sie umklammert ihre Kinder; nur wenige Getreue umgeben sie. Die beherzte Tochter einer Kaiserin bricht in die Thränen einer Mutter aus: »O meine Freunde, rettet mich und meine Kinder! O mes amis, sauvez moi et mes enfants!« Die Axt des Aufruhrs wird geschwungen, und ihre Donnerschläge hallen vernehmlich durch das Oeil de Boeuf herüber. Welch eine Stunde! Ja, Freunde, eine schreckensvolle, gräßliche Stunde, gleich schmählich für die Regierten und Regenten, eine Stunde, in der Regierte und Regent schmählich bezeugen, daß ihr Verhältnis zueinander endgiltig gelöst ist. Die Wut, die in den letzten vierundzwanzig Stunden in zwanzigtausend Herzen kochte, hat sich entzündet, und Jerômes Leiche mit dem hirnlosen Kopfe liegt als glühende Kohle da. Es ist, wie gesagt, das entfesselte Element, das hereinbricht und sich über alle Corridore und Gänge verbreitet.

Inzwischen hat man die armen Leibgardisten größtenteils ins Oeil de Boeuf gehetzt; hier an des Königs Schwelle mögen sie sterben, zu ihrer Verteidigung können sie soviel wie nichts thun. Mit Tabourets, Bänken, mit allem Beweglichen verrammeln sie die Thür, gegen welche die Axt des Aufruhrs donnernd schlägt. Aber was geschah mit dem wackeren Miomandre? Kam er dort an der äußeren Thür der Königin um? Nein, er wurde niedergestoßen, zerhauen, zerfetzt und als Leiche, wofür man ihn hielt, liegen gelassen; trotz alledem hat er sich hierher weitergeschleppt und wird, hochgeehrt vom loyalen Frankreich, weiter leben. Beachtet 282 auch, daß der Aufruhr in gradem Widerspruche mit dem, was man gesagt und gesungen hat, nicht die von Miomandre verteidigte Thür gesprengt hat, sondern anderswohin gestürmt ist, um neue Leibgarden zu suchen. Campan, II, 75-87.

Die armen Leibgardisten mit ihrem Thyestesmahle im Opernsaale! Ein Glück für sie, daß der Aufruhr nur Pike und Axt und keine richtigen Belagerungswerkzeuge hat! Welch Rütteln und Donnern! Sollen sie denn alle elend gemordet werden und mit ihnen auch das Königtum? Deshuttes und Varigny, den beim ersten Einbruch Gemordeten, hat man als Opfer Jerômes Manen im Marmorhofe die Köpfe abgeschnitten, ein Geschäft, das Jourdan mit dem Ziegelbarte gar willig besorgte; darauf fragte er: »Habt ihr nicht mehr?« Einen anderen Gefangenen führt man unter heulendem Gesange um den Leichnam herum; darf Jourdan seine Ärmel zum zweitenmal hinaufstreichen?

Und lauter, immer lauter tobt im Innern der Aufruhr, plündert, wo er nicht morden kann; immer lauter donnert es gegen das Oeil de Boeuf; was kann jetzt noch den Einbruch hindern? – Plötzlich hört es auf, die Axtschläge hören auf! Wilde Flucht, immer schwächer werdendes Schreien, dann Stille; man vernimmt den Tritt regelmäßiger Schritte, darauf friedliches Klopfen: Wir sind die Centralgrenadiere die früheren Gardes français, öffnet uns, ihr Herren vom Garde du Corps! Wir haben nicht vergessen, wie ihr uns bei Fontenoy gerettet habt. Toulongeon, I, 144. Die Thür öffnet sich, und herein tritt Kapitän Gondran mit seinen Centralgrenadieren. Die Soldaten fallen einander in die Arme; es ist eine plötzliche Befreiung vom Tode zum Leben.

Wunderliche Adamssöhne! Um diese Garde du Corps »auszurotten«, sind die Centralgrenadiere von Hause aufgebrochen, und nun stürzen sie herbei, um sie vor der Ausrottung zu retten. Die Erinnerung an gemeinsame Gefahr und frühere Hilfe macht auch rauhe Herzen weich; Brust preßt sich an Brust, – nicht im Streite! Der König erscheint einen Augenblick an der Thür seines Gemaches und ruft: »Schont meiner Garden!« » Soyons frères!« ruft Kapitän Gondran und stürmt wieder davon, um mit gefälltem Bajonett das Schloß zu säubern.

Jetzt ist auch Lafayette – (der plötzlich aufgeschreckt ist, nicht vom Schlafe, denn er hatte noch kein Auge geschlossen) 283 mit seiner leidenschaftlichen, volkstümlichen Beredsamkeit, mit seinem schneidigen militärischen Kommandowort da. Die von der Trompete und Alarmtrommel geweckte Leibgarde rückt heran. Das blutige Handgemenge ist vorbei, gedämpft der himmelhochflammende Feuerbrand; noch ist er nicht ganz erloschen, doch brennt er nur mehr wie niedergebrannte Kohle und ist nicht mehr unlöschbar. Die Gemächer des Königs sind unbeschädigt. Die Minister, Beamten und sogar einige loyale Nationaldeputierte versammeln sich um die Majestäten, Die Bestürzung wird sich unter Schluchzen und Verwirrung allmählich legen und, so gut es geht, zu Plan und Rat gestalten.

Blicken wir einen Augenblick aus den königlichen Fenstern hinaus! Ein tobendes Meer von Menschenköpfen überschwemmt beide Höfe und stürmt gegen alle Zugänge, mänadische Weiber, rasende Männer, alle toll von Rachgier, Raublust und Zerstörungswuth. Der Pöbel hat seinen Maulkorb abgestreift und bellt wie der Höllenhund mit drei Rachen. Vierzehn Leibgardisten sind verwundet, zwei ermordet, von Jourdan geköpft. Er fragt: War es der Mühe wert, wegen zweier einen so weiten Weg zu machen? Die unglücklichen Deshuttes und Varigny! Ihr Schicksal war sicher beklagenswert; sie wurden so plötzlich in den Abgrund geschleudert wie Leute, die von einer weithin donnernden Berglawine erfaßt werden, welche nicht durch sie, sondern in weiter Ferne durch andere ins Rollen gebracht wurde. Als die Schloßuhr zuletzt schlug, schritten noch beide mit geschulterten Musketen müde auf und ab und hatten keinen sehnlicheren Wunsch, als daß die nächste Stunde schlüge. Sie hat geschlagen, aber sie hören es nicht mehr. Ihre Körper liegen verstümmelt am Boden, ihre Köpfe paradieren auf zwölf Fuß langen Piken durch die Straßen von Versailles und werden gegen Mittag die Barrièren von Paris erreichen, – ein gar gräßlicher Gegensatz zu den großen, tröstlichen Anschlagzetteln, die hier überall angebracht sind.

Der andere gefangene Leibgardist muß noch unter indianerartigem Kriegsgeheul die Runde um den Leichnam Jerômes machen; der bluttriefende Ziegelbart mit aufgestreiften Ärmeln schwingt seine blutige Axt, als Gondran mit seinen Grenadieren in Sicht kommt. »Kameraden, wollt ihr sehen, wie man kalten Blutes einen Menschen abschlachtet?« »Hinweg mit euch, ihr Schlächter!« antworten diese, – und der arme Leibgardist ist frei. Geschäftig eilt Gondran, geschäftig eilen 284 Garden und Kapitäne, durchsuchen alle Korridore, zerstreuen das Gesindel, die raubenden Horden und fegen den Palast rein. Die verstümmelten Opfer des Blutbades werden fortgeschafft, Jerômes Leiche nach dem Rathause zur Untersuchung; die Gluthitze des Aufruhrs wird immer mehr auf eine mäßige und erträgliche Temperatur herabgedrückt.

Wie gewöhnlich beim Ausbruch so vieler und verschiedener Leidenschaften, berühren einander auch hier Extreme aller Art; das Komische, das Lächerliche trifft mit Schrecklichem zusammen. So können wir sehen, wie hoch über dem wogenden Meere menschlicher Köpfe Strolche auf Pferden aus dem königlichen Marstall ihre Luftsprünge machen. Das sind die Plünderer; denn der Patriotismus ist immer zu einem Teile mit Schurken und Dieben durchsetzt. Gondran entriß ihnen, was sie im Schloße erbeutet hatten: darauf eilten sie in die Stallungen und raubten die Pferde. Aber die edlen Diomedesrosse, erzählt Weber, verachteten solche Schurkenlast; sie schlugen mit ihren königlichen Hufen aus, warfen bald die Mehrzahl dieser Schurken in weitem Bogen unter lautem Gelächter der Zuschauer ab und ließen sich einfangen; berittene Leibgarden brachten die übrigen in Sicherheit. Schließlich sei auch das beinahe rührende letzte Aufflackern der Etikette erwähnt, die hier in der kimmerischen Finsternis einer Weltzertrümmerung nicht ohne Lebenszeichen verschwindet, wie das Heimchen am Heerde noch beim Ertönen der Posaune des Weltgerichts zirpen dürfte. »Monsieur,« sagte ein Ceremonienmeister (man möchte beinahe glauben, es sei de Brézé gewesen., als Lafayette in diesen schrecklichen Minuten nach den innern Gemächern des Königs stürzte, » Monsieur, le Roi vous accorde les grandes Entrées,« da er den Moment wohl nicht für geeignet hielt, den Zutritt zu verweigern. Toulongeon, I, App.120.

 


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