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Zweites Kapitel
In der Salle de Manège.

Gläubigen Patrioten ist es nun klar, daß die Konstitution gehen ( marcher) wird – hätte sie nur erst Beine zum Stehen. Flink denn, ihr Patrioten, rührt euch und schafft sie, macht Beine für sie! Mit Eifer geht die Nationalversammlung an das Wunderwerk, zuerst im Archevêché oder im Erzbischöflichen Palais, aus dem Se. Gnaden entflohen sind, später in der Reitschule, der sogenannten Manège, unweit der Tuilerien. Ihre Mühe hätte Erfolg gehabt, wenn sich in ihrer Mitte ein Prometheus befunden hätte; sie blieb erfolglos, weil kein Prometheus da war. Stellt euch vor, wie sie dort in der 297 Reitschule auch weiterhin in lärmenden Debatten, – denn die Sitzungen sind gelegentlich »skandalös,« und nicht weniger als drei Redner stehen gleichzeitig auf der Tribüne – die träge dahinschleichenden Monate verbringen.

Zähe, dogmatisch, langatmig ist Abbé Maury, voll Pathos wie Cicero Cazalès. Durch Schärfe und Schneidigkeit glänzt drüben ein junger Barnave, ein Feind aller Sophistik, die er wie mit einer scharfen Damascenerklinge zerhaut, ohne sich darum zu kümmern, was er sonst noch mit zerhaut. Schlicht erscheinst du, Pétion, wie ein solider holländischer Bau, solid, – aber schwerfällig. Auch dein Ton, streitbarer Rabaut, wirkt nicht belebend, obgleich du lebhafter bist. Mit unaussprechlicher Gelassenheit schnaubt aus seiner einsamen Höhe der große Sieyès; über seinen Verfassungsentwurf könnt ihr schwatzen, könnt ihn entstellen, verbessern könnt ihr ihn unmöglich: ist nicht die Politik die Wissenschaft, die er erschöpft hat? Kaltblütig, langsam erscheinen die beiden Soldaten Lameth mit ihrem vornehmen Spott oder halbspöttischen Lächeln; ritterlich werden sie, wenn man das Rote Buch vorzeigen wird, die Pension ihrer Mutter zurückzahlen, ritterlich in Zweikämpfen Wunden davontragen. Dort sitzt auch Marquis Toulongeon, dessen Feder wir heute noch Dank schulden; mit stoischer Ruhe, in nachdenklicher Stimmung, zumeist mit Schweigen erwartet er, was das Schicksal bringen werde. Thouret und der Parlamentsrat Duport bringen ganze Berge von Reformen in der Gesetzgebung ein, liberale, nach englischem Muster zugeschnittene, brauchbare und unbrauchbare Reformen. Sterbliche steigen und fallen. Soll nicht z. B. der Einfaltspinsel Gobel oder Göbel – denn er ist ein Straßburger deutscher Abkunft – ein konstitutioneller Erzbischof werden?

Unter all den hier versammelten Männern mag wohl Mirabeau allein allmählich klar erkennen, wohin dies alles zielt. Die Patrioten bedauern daher, daß sein Eifer bereits zu erkalten scheine. In jener berühmten Pfingstnacht des 4. August, da der neue Glaube plötzlich in wunderbaren Flammen aufloderte und der alte Feudalismus in Asche sank, bemerkte man, daß sich Mirabeau nicht beteiligte oder richtiger ausgedrückt, daß er zum Glück zufällig fehlte. Verteidigte er aber nicht das Veto, sogar das absolute Veto? Erklärte er nicht dem ungestümen Barnave gegenüber, sechshundert unverantwortliche Senatoren würden die unerträglichste aller Tyranneien bilden? Wie eifrig trat er dafür ein, daß die Minister des Königs Sitz und Stimme in der 298 Nationalversammlung haben sollten, – ohne Zweifel deshalb, weil er selbst nach einem Ministerstuhle schielte. Und wie darauf die Versammlung den bedeutungsvollen Beschluß faßt, kein Deputierter dürfe Minister sein, beantragt er nicht in seiner stolzen, leidenschaftlichen Weise, diesem Beschluß folgende Fassung zu geben: »Kein Deputierter Namens Mirabeau?« Moniteur, Nr. 65, 86 (29. Nov., 7. Nov. 1789). Er ist ein Mann von vielleicht eingefleischter feudaler Gesinnung, ein Mann voller Winkelzüge, der zu oft ganz augenscheinlich zu den Royalisten hinneigt: ein verdächtiger Mann, den der Patriotismus noch entlarven wird. So hörte man auch in diesen Junitagen, als die Frage aufgeworfen wurde, wer das Recht über Krieg und Frieden haben solle, heisere Ausrufer eintönig in den Straßen rufen: »Großer Verrat des Grafen Mirabeau, Preis nur ein Sou.« Warum? Weil er dafür eintritt, daß dieses Recht dem König allein, nicht der Nationalversammlung zustehen solle. Und er spricht nicht nur dafür, er setzt es auch durch; denn trotz der heiseren Ausrufer und eines zahllosen, durch sie bis zur »Laterne« aufgeregten Pöbels besteigt er am nächsten Tage fest entschlossen die Tribüne, indem er seinen Freunden, die von Gefahr reden, zuflüstert: »Ich weiß es; ich werde von hier nur im Triumph oder – in Stücke gerissen fortkommen;« – und im Triumph kam er fort.

Er ist ein Mann von festem Mut, dessen Volkstümlichkeit sich nicht auf die Gunst des Pöbels (» pas populacière«) stützt, ein Mann, der sich ebensowenig von dem ungewaschenen Mob auf der Straße wie von dem gewaschenen im Saale von seinem Wege abbringen läßt. Dumont erinnert sich, ihn bei einer Berichterstattung über Marseille gehört zu haben; jedes seiner Worte wurde von der »Rechten« ( côté droit) durch Schmähworte wie »Verleumder, Lügner, Mörder, Schurke« ( scélerat) unterbrochen. Mirabeau hält einen Augenblick inne und wendet sich dann in honigsüßem Tone an die Wütendsten: »Meine Herren, ich warte nur, bis diese Liebenswürdigkeiten ( aménités) erschöpft sind.« Dumont, Souvenirs, 278. Ein rätselhafter Mann, der schwer zu entlarven ist. Woher z. B. kommt sein Geld? Kann man annehmen, daß der Ertrag einer Zeitung, an dem Dame Le Jay ausgiebig mitzehrt, und die achtzehn Frank täglich, die er als Deputierter bezieht, auch nur annähernd für solchen Aufwand genügen? Ein Haus in der Chaussée d'Antin, ein 299 Landhaus in Argenteuil; Glanz, Luxus, Orgien, – mit einem Worte, ein Leben, als hätte er eine Goldmine. Alle Salons, die dem Abenteurer Mirabeau verschlossen waren, öffnen sich weit dem König Mirabeau, dem Leitstern Europas, nach dessen Anblick sich Frankreichs Frauen sehnen, – wiewohl der Mann Mirabeau noch ein und derselbe ist. Was das Geld betrifft, so darf man wohl annehmen, daß der Royalismus ihn damit versorgt; thut dies der Royalismus, wird es nicht Mirabeau willkommen sein, wie ja Geld ihm immer willkommen ist?

» Verkauft« kann er doch nicht leicht sein, mag der Patriotismus denken, was er wolle; denn das geistige Feuer, das in dem Manne lebt, das bei aller Verwirrung, durch die es hindurchleuchtet, doch Überzeugung ist und ihn stark macht, dieses Feuer, ohne das er keine Kraft hätte, läßt sich weder kaufen noch verkaufen; bei einem solchen Tauschhandel würde es verschwinden und nicht sein. Vielleicht ist er »bezahlt, nicht verkauft« (» payé, pas vendu«), während umgekehrt, aber im traurigen Gegensatz, der arme Rivarol von sich sagen muß: »verkauft, nicht bezahlt.« Ja, er ist ein Mann, der wie ein Komet in Glanz und Nebel seinen seltsamen Weg geht; der Patriotismus mag ihn mit seinem Fernrohr lange beobachten, ohne höhere Mathematik kann er doch nicht seine Bahn berechnen; ein fragwürdiger, höchst tadelnswerter, aber für uns bei weitem der bemerkenswerteste Mann von allen. In einer blinzelnden, durch Brillen sehenden, haarspaltenden Zeit hat ihm die Natur mit großer Freigebigkeit wirkliche Augen geschenkt. Wo immer er wirkt und spricht, ist sein Wort willkommen und wird immer willkommener; sein Wort allein trifft den Kern der Sache, alles Spinnengewebe der Logik schrumpft in sich zusammen, und du siehst das Ding, wie es wirklich ist, und wie sich damit etwas anfangen läßt.

Leider hat unsere Nationalversammlung viel zu thun: ein Frankreich zu regenerieren, und Frankreich gebricht es an gar Vielem, sogar an Bargeld! Ja, eben diese Finanzen sind es, die Kummer genug verursachen; das Deficit läßt sich nicht verstopfen, es schreit immer wieder: Gieb, gieb! Um das Deficit zu beschwichtigen, versucht man einen sehr gewagten Schritt: den Verkauf aller Ländereien und überflüssigen Baulichkeiten des Klerus. Höchst gewagt. Ja, den Verkauf zugestanden, wer soll sie kaufen, da alles Bargeld verschwunden ist? So wird denn am 19. Dezember die Ausgabe von Papiergeld beschlossen, von » assignats« oder Anweisungen, die auf jene klerikal-nationalen Güter sichergestellt oder angewiesen und 300 wenigstens zur Einlösung dieser unbedenklich sind, eine Maßregel, die den Anfang einer langen Reihe ähnlicher finanzieller Maßregeln bildet, welche die Welt in Erstaunen setzen werden. So lange es also alte Lumpen giebt, wird es nunmehr keinen Mangel an einem Verkehrsmittel geben; ob es auch nicht an einem sicheren Untergrund fehlen wird, auf dem der Verkehr stattfindet, ist eine andere Frage. Aber spricht nicht immerhin diese Assignatengeschichte ganze Bände für die moderne Wissenschaft? Der Bankerott, dürfen wir sagen, war gekommen, wie das Ende aller Täuschungen notwendigerweise kommen muß; doch wie sanft bereitete er sich vor, wie sacht ging er nach und nach nieder; nicht wie eine alles zermalmende Lawine, nein, wie sanfte Schauer eines leichten, kaum fühlbaren Schneegestöbers; Schauer folgen auf Schauer, bis alles thatsächlich begraben und doch nur wenig davon zerstört war, was sich nicht ersetzen oder entbehren ließ. Der Bankerott war, wie wir sagten, etwas Großes; aber das Geld selbst ist ja ein stehendes Wunder.

Übrigens bereitet die Klerusfrage endlose Schwierigkeiten. Man kann zwar das Eigentum des Klerus zum Nationaleigentum erklären und die Geistlichen zu besoldeten Dienern des Staates machen; aber hat man nicht, wenn dies geschieht, eine durchaus veränderte Kirche? Veränderungen verschiedenster Art sind indessen in großer Zahl unvermeidlich geworden. Die alten Landmarken passen nach keiner Richtung für ein neues Frankreich, ja selbst der Grund und Boden wird im buchstäblichen Sinne neu geteilt; die alten buntscheckigen Provinzen werden in neue, einförmige Departements, dreiundachtzig an der Zahl, umgewandelt, eine Umwandlung, bei der wie bei einer plötzlichen Verschiebung der Erdachse kein Mensch sofort seinen neuen Breitegrad kennt. Und was soll mit den zwölf alten Parlamenten geschehen? Man erklärt, die alten Parlamente sollen alle »permanente Ferien« haben, bis die neue gleichmäßige Justiz der Departements-Gerichtshöfe und des National-Appellations-Gerichtshofes, der gewählten Richter, der Friedensrichter und der ganze übrige Thouret-Duportsche Apparat fertiggestellt sein werde. Die alten Parlamente müssen gleichsam mit dem Strick um den Hals in unbehaglichem Warten dasitzen und aus Leibeskräften schreien: Ist niemand da, der uns erlöst? Da zum Glück die Antwort lautet: Niemand, niemand! so sind sie eine leicht lenkbare Klasse, diese alten Parlamente. Sie lassen sich sogar bis zum Schweigen einschüchtern; das Pariser 301 Parlament allein, klüger als die meisten anderen, hat nie gejammert. So werden und müssen sie in »Ferien« dasitzen, wie es ihnen jetzt ziemt; nur ihre Vakanzkammer teilt inzwischen das Bißchen notwendiger Gerechtigkeit aus. Den Strick haben sie um den Hals, und ihr Schicksal ist bald entschieden: Am 13. November 1790 wird Bürgermeister Bailly, von wenigen bemerkt, in den Justiz-Palast gehen und hier mit dem Stadtsiegel und etwas heißem Wachs die Parlaments-Archive versiegeln, – und das gefürchtete Parlament von Paris sinkt sanft wie ein Traum in das Chaos hinab. So werden ohne viele Umstände alle Parlamente verschwinden, und ungezählte Augen werden dabei trocken bleiben.

Anders steht es mit dem Klerus. Zugegeben, die Religion wäre tot, wäre schon ein halbes Jahrhundert früher mit dem unaussprechlichen Dubois gestorben oder vor kurzem mit dem Halsband-Kardinal Rohan nach Elsaß ausgewandert oder spuke jetzt als Gespenst mit dem Bischof Talleyrand umher: lebt nicht trotzdem noch der Schatten der Religion, die religiöse Heuchelei, fort? Der Klerus verfügt über Mittel und Material: seine Mittel sind seine Zahl, Organisation und sein gesellschaftlicher Einfluß, sein Material ist zum mindesten die allgemeine Unwissenheit, bekanntlich die Mutter der Frömmigkeit. Ja, ist es denn übrigens unglaublich, daß noch hie und da in schlichten Herzen verborgen gleich Goldkörnern im Uferschlamm ein wirklicher, echter Glaube an Gott ruht, ein Glaube von so seltener, unerschütterlicher Art, daß selbst ein Maury oder Talleyrand noch als Sinnbild für ihn gelten könnten? – Genug, der Klerus besitzt Macht, der Klerus besitzt Verschlagenheit und ist voll erbitterten Ingrimms. Ja, diese Klerusfrage ist eine verhängnisvolle Sache, ein rollender Schlangenknäuel, den die Nationalversammlung aufgestört hat; nun zischt er ihr um die Ohren, sticht und läßt sich, so lange er lebt, ebensowenig beruhigen wie tot treten! Verhängnisvoll vom Anfang bis zum Ende! Nach fünfzehnmonatlichen Debatten hat man kaum mit harter Mühe die Civilkonstitution des Klerus zu Papier gebracht; jetzt gilt es, sie auch wirklich durchzuführen! Ach, eine solche Konstitution ist nur ein Übereinkommen, um auseinander zu kommen. Sie spaltet Frankreich von einem Ende zum anderen durch einen neuen Riß, der alle übrigen Spaltungen ins Unendliche verwickelt. Auf der einen Seite wütet der noch vorhandene Rest des wirklichen Katholicismus im Bunde mit dem geheuchelten Katholicismus, auf der anderen Seite das ungläubige 302 Heidentum, und beide werden durch Widerspruch fanatisch. Welch endloser Streit zwischen verhaßten, widerspenstigen Priestern und verachteten, konstitutionellen Geistlichen, zwischen zarten Gewissen, wie dem des Königs, und verhärteten Gewissen, wie denen mancher seiner Unterthanen: und das Ende des Ganzen werden Feste der Vernunft und ein Krieg in der Vendée sein. So tief wurzelt die Religion im Herzen des Menschen und ist mit allen nur denkbaren Leidenschaften verwachsen. Vermochte noch ihr totes Echo so viel, was muß einst ihre lebendige Stimme vermocht haben!

Finanzen und Konstitution, Gesetz und Evangelium, wahrlich, das gäbe Arbeit genug; und doch ist es nicht alles. Thatsächlich schrumpfen nämlich das Ministerium samt Necker, den eine »vom Volke oberhalb seiner Thürschwelle angebrachte« eherne Inschrift den » Ministre adoré« nennt, immer sichtlicher zu einem Nichts zusammen. Vollziehende und gesetzgebende Gewalt, Verordnungen und ihre Durchführung im einzelnen, alles entsinkt ungethan ihren kraftlosen Händen und fällt schließlich auf die schwerbeladenen Schultern der hohen Volksvertretung. Überbürdete Nationalversammlung! Was muß sie nicht alles anhören: Berichte über unzählige neue Aufstände, über Raubzüge der Brigands, über eingeäscherte Schlösser, zumal über verbrannte Archive ( chartiers) in den westlichen Landesteilen; denn auch dort bäumt sich das überladene Lasttier in schreckenerregender Weise auf. Sie hört von Städten im Süden und ihren ungestümen Eifersüchteleien, die schließlich mit gekreuzten Klingen ausgetragen werden: Marseille steht im Kampfe gegen Toulon, und Carpentras wird von Avignon belagert. Sie hört von so vielen royalistischen Zusammenstößen auf der Rennbahn der Freiheit, ja sogar von patriotischen Zusammenstößen, die durch den bloßen Unterschied in der Schnelligkeit veranlaßt werden. Sie hört von einem Jourdan Coupe-tête, der sich aus den Banden des Châtelet-Kerkers in jene südlichen Regionen fortgeschlichen hat und dort ganze Schurkenregimenter auf die Beine bringen wird.

Auch von dem Royalistenlager in Jalès muß sie hören: von Jalès, der bergumgürteten Ebene inmitten der Cevennenfelsen; von dort könnte, wie man fürchtet und hofft, der Royalismus sündflutartig herabstürzen und Frankreich überschwemmen. Ein gar seltsames Ding ist dieses Lager von Jalès; es steht zumeist nur auf dem Papier; denn die Soldaten in Jalès, durchwegs Bauern oder Nationalgarden, 303 waren im Herzen geschworene Sansculotten, und alles, was die königlichen Kapitäne dort thun konnten, war, durch irreführende Worte sie oder vielmehr die Berichte über sie als ein für jede Einbildung sichtbares Schreckbild und Wahrzeichen zu erhalten für den Fall, daß Frankreich vielleicht doch noch durch einen Theatereffekt, durch das nach dem Leben gezeichnete Bild einer royalistischen Armee wiedererobert werden könnte. Dampmartin, Événements, I, 208. Erst im dritten Sommer ist dieses Wunderzeichen, das einigemal aufflackerte und wieder verschwand, gänzlich erloschen, und das alte Schloß von Jalès – ein Lager war für das leibliche Auge überhaupt nicht sichtbar – wurde von einigen Nationalgardisten weggeblasen.

Die Nationalversammlung muß ferner nicht nur von Brissot und seinen Negerfreunden, sondern gelegentlich auch von dem ganzen zum Himmel lodernden Brande auf St. Domingo hören, dessen wirkliche und noch schlimmere bildliche Flammen die nächtliche See weithin erhellen; sie muß hören von den Interessen der Schiffahrt, von den Interessen der Landwirtschaft, kurz von allen möglichen Interessen, die jetzt in Nöten sind; von der geknebelten, eingeschüchterten Industrie und der Rebellion, die ganz allein gedeihe; von Unteroffizieren, Soldaten und Matrosen, die zu Wasser und zu Land meutern; von Soldaten in Nancy, die, wie wir sehen werden, von dem wackeren Bouillé mit Kanonen zusammengeschossen werden mußten; von Seesoldaten, ja sogar von Galeerensklaven in Brest, die auch niedergeschossen zu werden verdienten; aber es fehlt ein Bouillé, der es besorgte; denn um es mit einem Worte zu sagen, es gab in diesen Tagen keinen König in Israel, und jeder that, was ihm in seinen eigenen Augen recht schien. Siehe Deux Amis, III, 14; IV, 2, 3, 4, 7, 9, 14. Expédition des Volontaires de Brest sur Lannion. Les Lyonnais Sauveurs des Dauphinois. Massacre au Mans. Troubles du Maine (Pamphlete und Excerpte in Hist. Parl., III, 251, IV, 162-68 etc.)

Solche Berichte muß die hohe Nationalversammlung anhören, während sie fortfährt, Frankreich zu regenerieren. Traurig und hart! Doch was läßt sich dagegen thun? – Macht die Konstitution fertig, und alle werden auf sie schwören; kommen nicht schon jetzt ganze Wagenladungen von Zustimmungsadressen an? So soll denn mit des Himmels Segen und mit der fertigen Konstitution der grundlose 304 Feuerschlund mit Lumpenpapier überwölbt werden; die Ordnung wird sich mit der Freiheit vermählen und mit ihr leben – bis es beiden zu heiß wird. O Côté gauche, du verdienst es wohl, daß sich, wie es in der Regel in den Zustimmungsadressen lautet, »die Blicke des Weltalls« oder wenigstens dieses einen armseligen Planeten dir zuwenden!

Indessen muß man zugeben, daß »die Rechte« ein noch tolleres Bild bietet. Ein unvernünftiges Geschlecht; unvernünftig, schwach an Geist und mit dem dazugehörigen charakteristischen Starrsinn ausgestattet; ein Geschlecht, das nichts lernen will. Stürzende Bastillen, Weiberaufstände, Tausende rauchender Herrenhäuser, ein Land, in dem keine andere Ernte reift als das starrende Eisen der Sansculotten: das wären doch Lehren, die eindringlich genug mahnen; aber sie haben daraus nichts gelernt. Es giebt eben auch heute noch Leute, von denen das alte Wort der Schrift gilt: »Zerstampfe sie in einem Mörser!« Oder milder ausgedrückt: Sie sind mit ihren Wahnideen gleichsam vermählt, und weder Feuer noch Eisen noch die bitterste Erfahrung wird den Bund lösen, bis der Tod ihn löst. Der Himmel erbarme sich ihrer, die Erde mit ihrer unerbittlichen Notwendigkeit wird kein Erbarmen haben.

Anderseits muß man zugeben. daß dies ganz natürlich war. Der Mensch lebt von der Hoffnung: als aus Pandoras Büchse alle Göttergaben herausgeflogen und zu Götterflüchen geworden waren, blieb noch die Hoffnung darin zurück. Wie soll sich ein unvernünftiger Sterblicher, mag seine Hochburg noch so augenscheinlich in Trümmer gelegt sein und mag er in seiner Unvernunft noch so rat- und hilflos dastehen, wie soll er sich von dem Glauben trennen, jene Hochburg könne wieder erbaut werden! Würde nicht dadurch alles wieder ins rechte Geleise kommen? Es erscheint so unaussprechlich wünschenswert, so vernünftig – wenn ihr es nur vom richtigen Standpunkte betrachten wolltet. Muß denn nicht alles, was war, auch weiter sein – wenn sich nicht das feste Gefüge des Weltbaues lockern soll? Ja, fahrt nur so weiter fort, ihr verblendeten Sansculotten in Frankreich! Lehnt euch nur gegen die eingesetzten Gewalten auf, verjagt eure rechtmäßigen Seigneurs, die im Grunde euch so liebten und bereitwillig ihr Blut für euch verspritzten – in Schlachten des Vaterlandes bei Roßbach und an anderen Orten, die beim Hegen des Wildes eigentlich euch hegten – wenn ihr es nur begreifen wolltet: ja, hetzt sie nur hinaus, als wären sie wilde 305 Wölfe, steckt ihre Schlösser und Archive wie Wolfsgruben in Brand; aber was dann? Ei, dann erhebe jeder seine Hand gegen den Mitbruder. Vermißt dann schmerzlich in Verwirrung, Hunger und Verheerung die vergangenen Tage, ruft reuig sie und mit ihnen uns zurück! Reuigen Bitten gegenüber werden wir nicht taub bleiben.

Solche mehr oder minder klaren Erwägungen muß die Rechte anstellen und danach handeln; das war ein vielleicht unvermeidlicher, jedenfalls aber ein ganz falscher Standpunkt für sie. Unheil, sei du unser Heil! so muß darum fortan ihr Gebet lauten. Je wilder die Gärung wächst, desto rascher wird sie vorübergehen; die Welt ist fest und kann sich nicht auflösen.

Entfalten sie überhaupt irgend eine bestimmte Thätigkeit, so geschieht es in Komplotten und Hintertreppen-Konventikeln, in Verschwörungen, die sich nicht ausführen lassen, die ja auch ihrerseits zumeist nur in der Theorie bestehen; gleichwohl gerät dadurch dieser oder jener Sieur Augeard, Sieur Maillebois, Sieur Bonne Savardin, der sie praktisch ausführen will, in Gefahr, oder ins Gefängnis, aus dem er nur mit harter Mühe entkommt. Da ist der arme Praktiker Chevalier Favras, der deshalb, nicht ohne daß ein vorübergehender Verdacht auf Monsieur selbst fällt, unter dem lauten Aufruhr der Welt sogar an den Galgen kommt. Der arme Favras, den ganzen übrigen Tag, einen traurigen Februartag, diktiert er im Hôtel de Ville seinen letzten Willen, erbietet sich, wofern man ihn retten wolle, Geheimnisse zu enthüllen, verweigert es standhaft, da man ihn nicht retten will, und stirbt dann bei Fackelschein in vornehmster Haltung, indem er mit erhobenen Armen mehr bemerkt als ausruft: »Volk, ich sterbe unschuldig, bete für mich.« Deux Amis, IV, 14, 7; Hist. Parl. VI, 348. Armer Favras, du Typus so vieler, die in den nun zu Ende gehenden Tagen unermüdlich auf Beute lauernd in Frankreich umherstreiften, während sie in freierem Felde, statt zu rauben, vielleicht erworben hätten, – für dich war es keine bloße Theorie.

Im Senate dagegen zeigt die Rechte die Haltung ruhigen Zweifels. Mag die hohe Nationalversammlung am 4. August den Feudalismus abschaffen, die Geistlichen zu besoldeten Staatsdienern erklären, suspensive Vetos, neue Gerichtshöfe votieren, kurz, sie mag von bestrittenen Dingen votieren und dekretieren, so viel sie nur will; mag sie dabei von allen vier 306 Enden Frankreichs Beifall, mag sie des Königs Bestätigung und jede nur erdenkliche Zustimmung finden; – die Rechte erblickt (und zeigt es immer wieder) auch weiterhin mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit in allen diesen sogenannten Dekreten bloße vorübergehende Launen, die zwar auf dem Papiere stehen, aber in der praktischen Wirklichkeit nicht bestehen, nicht bestehen können. Stellt euch vor, wie der Eisenkopf Abbé Maury in diesem Tone von jesuitischer Beredsamkeit überströmt; wie ihm der düstere D'Espréménil, Tonne Mirabeau (wahrscheinlich gefüllt) und viele andere von der Rechten zujubeln; stellt euch das Gesicht vor, mit dem ihn von der Linken her der meergrüne Robespierre ins Auge faßt; wie Sieyès auf unbeschreibliche Art gegen ihn schnaubt oder es unter seiner Würde hält, gegen ihn zu schnauben; wie die Galerien vor Erregung stöhnen oder ihn wie tolle Hunde anbellen, sodaß er beim Hinausgehen alle Geistesgegenwart und ein paar Pistolen in seinem Gürtel braucht, um der Laterne zu entgehen; wahrlich, an Zähigkeit kommt ihm keiner gleich.

Hier wird nun in der That ein großer Unterschied zwischen unseren zwei Arten von Bürgerkrieg bemerkbar: zwischen dem modernen Zungen- oder parlamentarisch-logischen Wortkampf und dem alten Faustkampf auf dem eisernen Schlachtfelde, ein Unterschied, der sehr zum Nachteil des erstgenannten ausfällt. Beim Faustkampf, in dem ihr dem Feinde mit blankem Schwerte gegenübersteht, entscheidet ein wohlgeführter Streich; denn ein Mann, aus dessen Kopf das Gehirn herausspritzt, ist physisch wirklich todt und macht euch keine weitere Mühe. Wie ganz anders steht die Sache, wenn ihr mit Argumenten kämpft! Bei einem solchen Kampf kann man keinen noch so erweisbaren Sieg als entscheidend ansehen. Schlage den Gegner mit parlamentarischen Schmähworten nieder, daß ihm die Sinne schwinden, haue ihn entzwei und hänge die eine Hälfte an diese, die andere an jene Dilemmaspitze, blase ihm für den Augenblick das Gehirn oder Denkvermögen ganz aus: es ist umsonst. Er kommt wieder zu sich, lebt am nächsten Morgen wieder auf und setzt seine glänzenden Waffen aufs neue in Stand. Das Mittel, das ihm logisch das Lebenslicht ausblasen könnte, ist in der konstitutionellen Civilisation noch ein Desideratum. Das ist bedauerlich; denn wie kann die parlamentarische Thätigkeit vorwärtsschreiten und das Geschwätz aufhören oder nachlassen, so lange man nicht einigermaßen erkennt, wann ein Mann logisch tot ist.

307 Ohne Zweifel war es ein dunkles Gefühl dieser Schwierigkeit und die klare Einsicht, wie spärlich diese Erkenntnis in dem auf seiner konstitutionellen Laufbahn noch neuen Frankreich vorhanden war, zugleich die Einsicht, daß auch tote Aristokraten noch lange weiter spuken würden wie es z. B. der Kalendermacher Partoidge gethan hat, – was dem Volksfreunde Marat, einem überaus praktischen Manne, so tief zu Herzen ging und was hier in dem üppig faulenden Boden zu dem eigenartigsten Schlachtplan ausreifte, der je einem Volke unterbreitet wurde. Zwar ist er noch nicht reif; aber er hat gekeimt und wächst; seine Wurzeln reichen in den Tartarus, während seine Äste zum Himmel streben: noch zwei Sommer Geduld, und wir werden sehen, wie er in seiner ganzen Höhe aus der bodenlosen Finsternis in unheilschwangere Dämmerung emporragt, – ein Riesen-Schierlingsbaum, auf oder unter dessen Zweigen alle Volksfreunde der Erde wohnen könnten. »Zweihundertundsechzigtausend Aristokratenköpfe,« – das ist die genaueste Berechnung, bei der es auf einige Hunderte nicht ankommt; jedenfalls erreichen wir nie die runde Summe von dreihunderttausend. Entsetzt euch darob, aber es ist so gewiß wahr, als ihr selbst und euer Volksfreund lebt. Eure Senatoren mit ihrem Geschwätz brüten vergeblich über toten Buchstaben und werden nie die Revolution retten. Auch Kassandra-Marat mit seinem dürren Arme kann es allein nicht thun; aber mit einer Anzahl entschlossener Männer wäre es möglich. »Gebt mir,« sagte er mit kalter Ruhe, als ihn einst der junge Barbaroux, einer seiner Schüler in einem sogenannten Kurs über Optik, besuchte, »gebt mir zweihundert Neapolitanische Bravos, von denen jeder mit einem guten Dolche bewaffnet und statt des Schildes mit einem Muffe am linken Arme versehen ist, und ich will mit ihnen durch Frankreich ziehen und die Revolution zustande bringen.« Mémoires de Barbaroux (Paris, 1822) p. 57. Ja, Spaß beiseite, junger Barbaroux; du siehst, aus diesem rußigen Gesichte, dem ernsthaftesten aller erschaffenen Gesichter, spricht kein Scherz, auch kein Wahnsinn, der in die Zwangsjacke gehört.

Das ist die Frucht, welche die Zeit in dem Höhlen bewohnenden Marat zeitigen wird, in dem Fluch beladenen Manne, der in den Kellern von Paris einsam lebt wie der fanatische Anachoret in seiner Thebais oder richtiger gesagt, wie der weithin sichtbare Simon auf seiner Säule, von wo aus er gar eigenartige Ansichten gewinnt. Die Patrioten 308 mögen lächeln und ihn als Kettenhund behandeln, den man bald mit dem Maulkorb versehen, bald ruhig bellen lassen muß, oder sie mögen ihn mit Desmoulins »das Maximum des Patriotismus« und »Kassandra-Marat« nennen: aber wäre es nicht merkwürdig, wenn es sich herausstellte, daß es, von unwesentlichen Änderungen abgesehen, gerade sein »Dolch- und Muffplan« war, den man adoptierte?

In dieser Weise, unter solchen Umständen regenerieren also die hohen Senatoren ihr Frankreich, und man glaubt allen Ernstes, daß sie es wirklich regenerieren; schon wegen dieses Faktums, des Hauptfaktums ihrer Geschichte, darf das ermüdete Auge sie nicht ganz übersehen.

Doch blicken wir hinweg von dem Bereiche der Tuilerien, wo das konstitutionelle Königtum wie ein abgeschnittener Zweig dahin welkt, mag es Lafayette begießen, soviel er will, wo hohe Senatoren vielleicht nur ihre Theorie der »defektiven Verba« vervollkommnen; – wie gedeiht inzwischen die junge Wirklichkeit, das junge Sansculottentum? Der aufmerksame Beobachter kann antworten: Es gedeiht ganz vortrefflich, es setzt neue Knospen an, während die alten Knospen sich bereits zu Blättern und Zweigen entwickeln. Bietet denn nicht die ganz und gar gelockerte französische Gesellschaft einen außerordentlich üppigen Nährboden dafür? Der Sansculottismus besitzt die Eigentümlichkeit, daß er gerade dadurch gedeiht, wodurch andere Dinge absterben: durch Gärung, Streit, Zerrüttung, mit einem Wort, durch das Symbol und die Frucht von alledem, – durch den Hunger.

Und der Hunger kann, wie wir bemerkten, in einem so beschaffenen Frankreich kaum ausbleiben. Ihn und seine Folgen, Erbitterung und unnatürlichen Argwohn, fühlen jetzt die Provinzen und Städte im Süden. In Paris brachten nach dem Weiberaufstande die Kornwagen aus Versailles und der wiedergewonnene Wiederhersteller der französischen Freiheit einige friedlich heitere Tage des Überflusses, aber sie konnten nicht anhalten. Noch sind wir im Monate Oktober, und schon bemächtigt sich das hungernde St. Antoine in einem Anfall von Raserei eines armen Bäckers, des unschuldigen Bäckers » François« und henkt ihn nach dem Vorbild Konstantinopels auf; 21. Oktober 1879 ( Moniteur Nr. 76). aber auch dadurch – so seltsam es scheinen mag – wird das Brot nicht billiger! Es ist nur zu klar, daß weder die Freigebigkeit des Königs, noch die Fürsorge der 309 Munizipalität das bastillenzerstörende Paris ausreichend nähren kann. Angesichts des gehenkten Bäckers verlangt der Konstitutionalismus in seinem Kummer und Zorn das » Loi martiale,« eine Art Aufruhrakte, und rasch, fast ehe die Sonne untergeht, wird es bewilligt.

Das ist das berüchtigte Kriegsgesetz mit seiner roten Fahne ( drapeau rouge), kraft dessen Maire Bailly oder überhaupt ein Maire von nun an diese neue Oriflamme nur auszuhängen, dann etwas über des »Königs Frieden« zu lesen oder zu murmeln braucht, um darauf nach bestimmten Zwischenräumen jeder Versammlung, die nicht auseinandergeht, mit Musketenschüssen aufzuwarten oder sie mit beliebigen anderen Schüssen auseinanderzutreiben. Gewiß ein wirksames, einschneidendes und unter dem Vorbehalte, daß aller Patrouillotismus von Gott und jede Pöbelansammlung vom Teufel ist, gerechtes, sonst wohl nicht ganz gerechtes Gesetz. Maire Bailly, beeile dich nicht, davon Gebrauch zu machen. Hänge sie nicht aus, diese neue Oriflamme; sie ist keine goldene, vielmehr eine allen Goldes bare Flamme. Die dreimalgesegnete Revolution ist nun fertig, meinst du? Wohl dir, wenn sie es ist.

Aber jetzt sage kein Sterblicher mehr, die hohe Nationalversammlung bedürfe eines Aufstandes: auch früher brauchte sie nur so viel Aufstand, als notwendig war, um den Ränken des Hofes zu begegnen; jetzt verlangt sie von Himmel und Erde nichts anderes als ihre Theorie der defektiven Verba zu vervollkommnen.

 


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