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Drittes Kapitel.
Der Kriegsgott Broglie.

Der Hof ist über die erlittene Niederlage empört; aber, was liegt daran? Ein andermal wird es besser gehen. Merkurius stieg vergeblich herab, jetzt ist die Zeit für Mars gekommen. Die Götter des Oeil de Boeuf haben sich in das Dunkel ihres wolkenreichen Ida zurückgezogen und sitzen da, sinnend und schmiedend, was notthut: mögen es Zettel einer neuen Nationalbank, Kriegsmunition oder Dinge sein, in deren Geheimnis die Menschen niemals eindringen.

Was bedeutet nur dieser Truppenapparat? Die Nationalversammlung kann für ihren Unterstützungs-Ausschuß keinerlei Förderung erlangen; sie muß immer nur hören, daß in Paris die Bäckerläden belagert sind, daß in den Provinzen die Leute schon von Kleie und gekochtem Grase leben.« Über allen Landstraßen aber lagern Staubwolken von marschierenden Regimentern und nachrollenden Kanonen; fremde Panduren von grimmigem Aussehen, Salis-Samade, Esterhazy, Royal-Allemand, die großenteils aus Fremden bestehen, ziehen, dreißigtausend an der Zahl, – die Furcht steigert sie wohl auf fünfzigtausend, – alle in der Richtung auf Paris und Versailles. Schon sieht man auf den Höhen von Montmartre ein Graben und Schaufeln, das dem Aufwerfen von Wall und Graben verzweifelt ähnlich sieht. Ein Wall von Kanonen an der Sèvresbrücke hemmt das Hinausströmen der Bevölkerung von Paris nach Versailles. Bei den Marställen der Königin stehen Kanonen, die gegen den Saal der Nationalversammlung selbst gerichtet sind. Dröhnende Tritte der 171 Soldaten, die endlos oder anscheinend endlos um all diese Plätze in totenstiller Nacht schwärmen oder vorüberziehen, »ohne daß man nur einen Trommelschlag oder ein Kommandowort vernimmt,« A. Lameth, Assemblée Constituante, I, 41. stören sogar den Schlummer der Versammlung. Was hat das zu bedeuten?

Sollen vielleicht acht oder gar zwölf Abgeordnete, unsere Mirabeaus, Barnaves an der Spitze, plötzlich nach dem Kastell von Ham entführt, die übrigen aber schmachvoll in alle Winde zerstreut werden? Keine Nationalversammlung kann die Verfassung fertig bringen, wenn von den Marställen der Königin her Kanonen ihre Mündungen auf sie richten. Was bedeutet das nur von Kopfnicken und Achselzucken unterbrochene Schweigen des Oeil de Boeuf? Was sinnt und schmiedet man am geheimnisvollen Wolkenthrone des Ida? Solche Fragen muß ja der bestürzte Patriotismus beständig stellen, – erhält aber als Antwort nur ein leeres Echo.

Fragen und ein leeres Echo als Antwort sind schon an und für sich schlimm genug: insbesondere aber jetzt, da das fruchtarme Jahr, das von August zu August läuft, immer weiter fortschreitet und immer mehr und mehr ein Hungerjahr wird. Bei »Kleie und gekochtem Grase« haben die Brigands wirklich Veranlassung, sich zusammenzurotten und scharenweise vor Bauern- und Edelhöfen voll Ingrimm zu schreien: Brot, Brot! Vergeblich sendet man Soldaten gegen sie; beim Anblick der Soldaten zerstreuen sie sich, verschwinden, als wären sie unter die Erde gesunken, dann aber sammeln sie sich gleich wieder anderswo zu neuem Tumult und neuer Plünderung. Was man von ihnen sieht, ist schon schrecklich genug, um wie viel schrecklicher aber zu hören, wie sie sich im Gehirn von fünfundzwanzig Millionen argwöhnischer Seelen abspiegeln. Brigands und Broglie, offenkundige Gährung und widersinnige Gerüchte treiben in Frankreich die meisten Herzen in den Wahnsinn. Was wird das Ende davon sein?

In Versailles haben vor mehreren Wochen die Bürger zu den Waffen gegriffen, neben anderen Zwecken »zur Unterdrückung der Brigands;« – der Militärkommandant mag es sich auslegen, wie er will. Kann das gleiche nicht anderswo, ja überall geschehen? Vor der wahngeängstigten Phantasie des Patrioten steigt bereits undeutlich als letzter Rettungsanker der Schatten einer Nationalgarde auf. Aber stellt euch 172 vor allem das Holzzelt im Palais Royal vor. Da herrscht ein Chaos, als gingen Welten in Trümmer, hier heult am lautesten die tolle und tollmachende Stimme des Gerüchtes, hier späht der Argwohn am schärfsten in den blassen, trüben Weltstrudel hinein und sieht phantastische Gestalten: drohende, blutdürstige Regimenter, die auf dem Marsfelde lagern, die Auflösung der National-Versammlung, glühende Kanonenkugeln, die Paris einäschern, den sinnlos rasenden Kriegsgott und Bellonas sausende Geißel. Dem ruhigsten Bürger wird es nur zu klar, daß ein Kampf unvermeidlich ist.

Ja unvermeidlich – nicken schweigend Messeigneurs und Broglie. Unvermeidlich und kurz. Mag die Nationalversammlung, in ihrer Verfassungsarbeit gehindert, das königliche Ohr mit Adressen und Vorstellungen ermüden, – unsere Kanonen stehen wohl aufgestellt da, und die Truppen sind bereit. Des Königs Erklärung mit ihren fünfunddreißig nur zu großmütigen Artikeln wurde abgegeben, ohne daß ihr derselben Gehör schenktet; sie bleibt aber unwiderrufen, und der König selbst wird sie ausführen, seul il fera!

Was Broglie betrifft, so hat er sein Hauptquartier in Versailles ganz wie auf einem Kriegsschauplatz aufgeschlagen: schreibende Sekretäre, wichtigthuende Stabsoffiziere, die sich mit Vorliebe in Schweigen hüllen, Adjutanten mit Federbüschen, Wachen und harrende oder hin und her eilende Ordonnanzen. Er selbst trägt eine wichtige, undurchdringliche Miene zur Schau, hört wohl mit stillem Lächeln Besenval III, 398. auf die Warnungen und ernsten Ratschläge des Pariser Kommandanten Besenval, der deshalb wiederholt hinauskommt. Die Pariser und Widerstand leisten? rufen verächtlich Messeigneurs. Ja, wie ein Brotpöbel! Fünf Generationen hindurch haben sie sich hübsch ruhig verhalten und allem gefügt. Noch in den letzten Jahren erklärte ihr Mercier, eine Pariser Revolte sei fortan ausgeschlossen. Mercier, Tableau de Paris VI, 22. Haltet nur fest an der königlichen Erklärung vom 23. Juni. Die Edlen Frankreichs, tapfer und ritterlich wie ehedem, werden sich einmütig um uns scharen und, was den dritten Stand betrifft, wie ihr ihn nennt, den wir aber eine Kanaille von ungewaschenen Sansculotten, Schwindlern, Scribifaxen und aufrührerischen Maulhelden nennen – den wird, wenn es notthut, der wackere Broglie mit einer tüchtigen Kartätschensalve ( salve de canons) zu Paaren 173 treiben – und zwar gar rasch. – So reden sie auf ihrem wolkenumhüllten Ida, den Menschen ebenso fremd, wie die Menschen ihnen.

Eine Kartätschensalve, Messeigneurs, ist ganz gut, allerdings unter einer Bedingung: der Schütze muß auch aus Metall sein. Zum Unglück ist euer gemieteter Schütze unter Bandelier und Koller aus Fleisch, hat Instinkte, Gefühle, sogar eine gewisse Überlegung. Gerade jene Kanaille, die ihr hinwegblasen wollt, ist seine Sippe, Fleisch von seinem Fleisch, er hat einen Bruder, Vater und Mutter darunter, die von Kleie und gekochtem Grase leben müssen. Selbst sein Liebchen, wenn es noch nicht im Spital gestorben ist, macht ihn seinem Soldatenglauben abwendig und erklärt ihm, der Fluch der Menschen werde ihn treffen, wenn er Patriotenblut vergieße. Der Soldat, der es erlebt hat, wie ihm sein Sold von einem räuberischen Foulon gestohlen, sein Blut von den Soubises oder Pompadours vergeudet wurde, wie ihm die Pforte der Beförderung unerbittlich verschlossen blieb, wenn er nicht adeliger Geburt war: der hat Grund genug zur Klage gegen euch. Eure Sache ist nicht die Sache der Soldaten, sondern, wie es scheint, nur eure eigene; sonst geht sie weder Gott noch Menschen an.

So mag die Welt zum Beispiel vernommen haben, daß man neulich in Béthune zur Zeit, als eine jener »Brotrevolten« ausbrach, wie es deren jetzt so viele giebt, Soldaten aufmarschieren ließ. Als das Kommando: Feuer! ertönte, – rührte sich kein Hahn; nur die Musketenkolben wurden zornig gegen den Boden aufgestoßen. Mit finsteren Blicken und unentschlossenen Mienen standen die Soldaten da, bis ein jeder von einem patriotischen Familienvater unter den Arm genommen und eiligst fortgezogen wurde, um bewirtet und mit Liebe überschüttet zu werden; auch ihren Sold hat man durch Subskription erhöht. Hist. Parlementaire.

Selbst die französischen Garden, das beste Linienregiment, haben jüngst in den Straßen keine große Bereitwilligkeit zum Feuern an den Tag gelegt. Sie kehrten murrend von Réveillon zurück und haben seitdem nicht eine einzige Patrone verschossen, ja, wie wir sahen, nicht einmal auf Befehl. Eine gefährliche Stimmung herrscht unter diesen Garden, die übrigens in ihrer Art merkwürdige Leute sind; der Pythagoräer Valadi war einst einer ihrer Offiziere. Ja, was für harte Köpfe 174 mag es in ihren Reihen unter Dreispitz und Kokarde geben, was für Ideen, von denen die Welt nichts ahnt! Einen der härtesten Köpfe können wir gerade auf den Schultern eines gewissen Sergeanten Hoche erkennen. Lazare Hoche, ein anstelliger Bursche, früher beim Versailler Marstall beschäftigt, ist der Neffe einer armen Kräuterhändlerin; Lesen ist seine Leidenschaft. Er ist jetzt Sergeant Hoche und kann nicht höher steigen; seinen Sold verwendet er auf Nachtlichter und billige Bücher. Dictionnaire des Hommes Marquants, Londres (Paris) 1800, II, 198.

Nach alledem scheint es das beste zu sein, die französischen Garden in ihrer Kaserne zu konsignieren. So denkt und befiehlt Besenval. In ihrer Kaserne konsigniert, bilden die Garden einfach einen »Geheimbund« und verpflichten sich, nichts gegen die Nationalversammlung zu unternehmen. Verführt durch den Pythagoräer Valadi, verführt durch Geld und Weiber! rufen Besenval und unzählige andere. Mögen sie wodurch immer verführt sein oder der Verführung gar nicht bedürfen, seht, wie sie am 26. Juni der Konsignierung zum Trotz von ihren Unteroffizieren angeführt, in langen Reihen beim Palais Royal anlangen. Hier werden sie mit Vivats und Geschenken begrüßt, hier trinken ihnen die Patrioten zu, hier erklären sie unter gegenseitigen Umarmungen, daß Frankreichs Sache die ihrige sei! Am nächsten Tage und den folgenden wiederholt sich das gleiche Schauspiel. Und was das Seltsamste ist, außer dieser patriotischen Kundgebung und der Mißachtung des Konsignierungsbefehles legen sie die »strengste Pünktlichkeit an den Tag.« Besenval, III, 394-6

Sie werden verdächtig, diese Garden. – Man sperrt elf Rädelsführer von ihnen in der Abtei ein; eitle Strenge! Die elf Gefangenen brauchen nur gegen Abend, »durch die Hand eines Unbekannten« eine Zeile in das Café de Foy gelangen zu lassen, wo der Patriotismus eben am lautesten vom Tische herab die Zuhörer haranguiert. »Zweihundert junge Leute, die bald auf viertausend anwachsen,« mit tüchtigen Brecheisen ausgerüstet, wälzen sich nach der Abtei, sprengen die Thüren und tragen ihre Elf samt anderen Opfern des Militarismus heraus: erst zum Abendessen im Garten des Palais Royal, dann ins Théâtre des Variétés, wo sie wohnen und »in Feldbetten schlafen sollen,« da bis jetzt noch kein 175 anderes Nationalprytaneum zur Verfügung steht. Und dies alles geschieht mit der größten Besonnenheit, ja diese jungen Leute waren so gewissenhaft, daß sie einen militärischen Gefangenen, der, wie es sich herausstellte, wegen eines wirklichen bürgerlichen Verbrechens eingesteckt war, unter Protest wieder in seine Zelle zurückbrachten.

Warum wurden nicht neue Truppen entboten? Ach, das geschah ja. Neue militärische Streitkräfte sprengten in vollem Galopp, mit gezogenem Säbel heran, »das Volk« aber fiel ihnen ganz sachte in die Zügel, die Dragoner steckten ihre Schwerter in die Scheide, zogen zum Gruße ihre Mützen und saßen unbeweglich wie Dragonerstatuen da, – nur den Trunk, den man ihnen anbot, nahmen sie an und »tranken mit größter Herzlichkeit auf das Wohl des Königs und der Nation.« Histoire Parlera. II, 32.

Und warum, fragt man, thaten Messeigneurs und Broglie, der große Kriegsgott, als sie dies sahen, nicht Einhalt und schlugen einen neuen, was immer für einen neuen Weg ein? Unglücklicherweise konnten sie, wie gesagt, überhaupt nichts sehen. Hochmut, der vor dem Falle geht, eine blinde Wut, die zwar verzeihlich und ganz natürlich, aber unvernünftig war, hatte ihre Herzen verstockt und ihre Köpfe erhitzt, und so stürzen sie mit Schwachsinn und Gewalt (einem schlimmen Gespann) ihrem Verhängnis entgegen. Alle Regimenter sind doch nicht französische Garden oder durch den Pythagoräer Valadi verführt: laßt also frische, unverführte Regimenter kommen: Royal-Allemand, Salis-Samade, das Schweizerregiment Chateau-Vieux; die können fechten, aber kaum sprechen – außer in ihren deutschen Gutturallauten; laßt Soldaten marschieren und die Straßen von rollenden Kanonen erdröhnen; der König muß eine neue Sitzung halten – und dort Wunder wirken! Die Kanonensalve kann, wenn es notthut, zum Gewittersturm werden!

Sollen es unter diesen Umständen die hundertundzwanzig Wahlmänner von Paris nicht für zweckmäßig erachten, sich noch ehe es glühende Kugeln regnet, täglich wieder als »Wahlklub« zu versammeln, obwohl ihr Cahier längst abgeschlossen ist? Ihre erste Versammlung findet in einer Taverne statt, wo ihnen »eine große Hochzeitsgesellschaft gerne Platz macht;« Dusaulx, Prise de la Bastille. Collection des Mémoires par Berville et Barrière, Paris 1821, p. 269. 176 aber seit kurzem tagen sie im Hôtel de Ville. Flesselles, der Vorsteher der Kaufmannschaft, hat es samt seinen vier Schöffen nicht verhindern können; so groß war die Macht der öffentlichen Meinung. Er, seine Schöffen und die sechsundzwanzig Stadträte, die alle von oben ernannt sind, mögen wohl schweigend in ihren langen Talaren dasitzen und mit scheuen Augen diesem Vorspiel zu einer von unten kommenden Erschütterung zusehen und überlegen, wie sie selbst dabei fahren werden!

 


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