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Viertes Kapitel.
Die Prozession.

Am ersten Sonnabend des Monats Mai trägt Versailles Gala, und Montag, der 4. Mai, ist ein noch größerer Festtag. Die meisten Deputierten sind eingetroffen und haben hier Wohnung genommen; eben jetzt küssen sie, in genau bestimmter Reihenfolge eingeführt, im Schlosse Seiner Majestät die Hand. Der Oberceremonienmeister de Brezé erwirbt sich aber nicht die Zufriedenheit aller; denn wir bemerken, daß er beim Einführen des Adels und des Klerus beide Thürflügel weit öffnet, während er bei der Einführung der Gemeinen nur einen Flügel aufmacht! Doch zum Eintreten ist auch so Platz genug, und Seine Majestät hat für alle ein Lächeln.

Der gute Ludwig begrüßt seine ehrenwerten Deputierten mit einem hoffnungsvollen Lächeln. Er hat den größten Saal in seiner Nähe, die Salle des Menus, für sie herrichten lassen und hat oft den Arbeitern bei ihrer Arbeit zugesehen. Es ist eine weite Halle mit einer erhöhten Estrade für den Thron, den Hof und die Mitglieder des königlichen Hauses; zur Rechten des Thrones ist der Platz für die dreihundert Deputierten des Klerus, zur Linken der Platz für die dreihundert Deputierten des Adels, dem Throne gegenüber der Platz für die sechshundert Deputierten des dritten Standes. 134 Der Saal hat hohe, luftige Galerien, wo gegen zweihundert Personen, prächtig in Gaze d'or gekleidete Ehrendamen, fremde Diplomaten und andere goldverbrämte und spitzengeschmückte Personen sitzen und herabsehen können. Breite Gänge durchschneiden das Innere und laufen auch an der Außenseite herum. Es giebt Beratungszimmer für die Komitees, Wachstuben und Ankleidezimmer; es ist wirklich ein königlicher Raum, in dem der Tapezierer mit Hilfe der bildenden Künste sein Bestes geleistet hat; an hochrotem, quastengeschmücktem Tuche und den sinnbildlichen Fleurs-de-lys herrscht kein Mangel.

Der Saal ist wohl fertig, man hat sich sogar, wie schon erwähnt wurde, auch über das Kostüm geeinigt; die Gemeinen sollen nicht den verhaßten Chapeau clabaud, sondern den nicht ganz so schlaffen Chapeau rabattu tragen. Ihr Kostüm hätten sie nun; was aber ihre Geschäftsordnung, ihre »Abstimmung nach Köpfen oder Ständen« und das übrige betrifft, dies alles, zu dessen Feststellung jetzt vielleicht noch Zeit wäre, wozu es in wenigen Stunden zu spät sein wird, bleibt leider unerledigt und schwankt als unentschiedene Frage in der Brust von zwölfhundert Menschen.

Endlich war die Sonne des 4. Mai, es war ein Montag, teilnahmlos aufgegangen, als wäre dies kein besonderer Tag. Und doch erschauern und erzittern heute bei ihrem Aufgang alle Herzen von Versailles in ahnungsvoller Erwartung, gleichwie die Memnonssäule am Nil bei den ersten Sonnenstrahlen zu tönen beginnt. Das ungeheuere Paris ergießt sich in allen möglichen und unmöglichen Vehikeln hinaus; aus jeder Stadt, aus jedem Dorfe fließen Seitenbäche zu, und Versailles wird zu einem Meer von Menschen. Besonders der Weg zwischen der St. Ludwigs- und Notredamekirche gleicht einer unendlichen, schwebenden Menschenwoge, deren Gischt bis zu den Schornsteinen hinaufsprüht; denn auch auf den Schornsteinen und Dächern, auf jedem Laternenpfahl und Aushängeschild, auf jedem halsbrecherischen Vorsprung sitzt der mutige Patriotismus, jedes Fenster gleicht einem überreichen Strauß patriotischer Schönheit: denn die Deputierten versammeln sich in der Ludwigskirche, um in Prozession zur Notre-Damekirche zu ziehen und dort die Predigt zu hören.

Ja, meine Freunde, ihr möget sitzen und schauen, und leiblich oder geistig mag ganz Frankreich, ganz Europa sitzen und schauen; denn es ist ein Tag wie wenig andere. Ach, man möchte mit Xerxes weinen: – so viele dichtgedrängte 135 Reihen sitzen da oben, als wären es beschwingte Wesen, die vom Himmel herabgeflogen sind; sie alle und ungezählte andere, die ihnen folgen, werden für immer wieder emporgeflogen und in der blauen Unendlichkeit verschwunden sein, aber die Erinnerung an diesen Tag wird noch fortleben. Es ist der Tauftag der Demokratie, die eine kranke Zeit geboren hat, nachdem die bestimmte Zahl der Monate voll geworden war; für den Feudalismus aber ist es der Tag der letzten Ölung! Eine Gesellschaftsordnung, die sich überlebt hat, die unter schwerer Arbeit (denn hat sie nicht vieles geleistet, hat sie nicht euch hervorgebracht und alles, was ihr habt und wißt?), unter Zank und Raub (was man ruhmvollen Sieg nennt), unter Ruchlosigkeit und Sinnenlust schließlich kindisch und greisenhaft geworden ist, – liegt im Sterben, und jetzt soll unter Todesringen und Geburtswehen eine neue geboren werden.

Schlachten und Blutvergießen, Septembergreuel, Lodi-Brücken, Rückzüge von Moskau, Waterloo, Peterloo, Teertonnen, Zehnpfund-Wahlrechte, Guillotinen werden, wenn man prophezeien wollte, vom heutigen Tage vielleicht noch zwei Jahrhunderte hindurch auszukämpfen sein! Zwei Jahrhunderte, kaum kürzere Zeit wird es währen, bis die Demokratie alle die unvermeidlichen, unseligen Stadien eines großsprecherischen Schwindelsystems durchlaufen hat, bis die verpestete Welt ausgebrannt ist und eine neue Welt in neuer Jugend zu grünen und zu blühen beginnt.

Ihr Tausende von Versailles jubelt trotzdem! Euren Augen bleibt ja dies alles verborgen, ihr seht nur das glorreiche Ende. Heute spricht man über allen Schein das Todesurteil und verkündet laut das Recht der Wahrheit, die zu neuem Leben erwachen soll, läge dies auch noch in weiter Ferne; heute verkündet man laut wie mit der Posaune des jüngsten Tages: An eine Lüge soll man nicht glauben! Das sei euer Glaube, daran wenigstens, wenn schon an nichts anderem, haltet fest, mag dann kommen, was da wolle: »Ihr könnt nicht anders, Gott helfe euch.« So sprach einer, der größer war als jeder von euch, da er sein Kapitel der Weltgeschichte aufschlug.

Doch siehe! die Thore der St. Ludwigskirche thun sich weit auf, und die Prozession der Prozessionen zieht nach der Kirche Notre-Dame! Jubel erschüttert die Lüfte, ein Jubel, so laut und gewaltig, daß er stymphalische Vögel töten könnte. Wahrlich, ein herrlicher, feierlicher Anblick! Von Marschällen 136 geleitet, schreiten Frankreichs Erwählte, Frankreichs Hof, alle in vorgeschriebener Ordnung und Tracht einher. Unsere Gemeinen in »einfachem schwarzen Mantel und weißer Halsbinde;« der Adel glänzend und rauschend in goldgestickten, farbenprächtigen Sammetmänteln, Spitzen und wallenden Federn; der Klerus in Rochet, Alba oder in Pontificalibus, zuletzt kommt der König selbst und der königliche Hofstaat, auch sie im herrlichsten Prunk, ihrem höchsten und letzten: gegen vierzehnhundert Männer, die in wichtigster Sendung aus allen Windrichtungen herbeigeeilt sind.

Ja, in dieser schweigend einherschreitenden Masse tritt uns ein gut Teil Zukunft entgegen. Diese Männer tragen zwar keine symbolische Bundeslade wie die alten Hebräer; aber auch mit ihnen wurde ein feierlicher Bund geschlossen,. auch sie leiten einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Menschheit ein. Hier ist die ganze Zukunft; sie und das über ihr düster brütende Schicksal ruhen noch unleserlich, aber unabwendbar in den Herzen und in den noch unausgestalteten Gedanken dieser Männer. Welch seltsamer Gedanke: sie tragen die Zukunft in sich; aber weder sie noch ein anderer Sterblicher, sondern nur das Auge da droben kann lesen und sehen, wie sie sich enthüllen wird im Feuer und Donner der Geschütze, im Rauschen der Schlachtenbanner, unter dem dröhnenden Tritt der Kriegsheere, in der Glut brennender Städte und dem Wehklagen gewürgter Nationen. Dies alles liegt verborgen und wohl umhüllt in diesem vierten Maientag – oder sagen wir lieber, lag schon in einem früheren unbekannten Tag verborgen, dessen sichtbare Frucht und Folge er ist. Wunder liegen ja in jedem Tage verborgen, nur können wir sie glücklicherweise nicht enträtseln; denn jeder, auch der gewöhnlichste Tag bedeutet ein Ineinanderfließen zweier Ewigkeiten.

Stelle dir nun, lieber Leser, vor, auch wir beide ließen uns auf einem günstigen Beobachtungsposten nieder und überschauten mit einem Blick, – was uns jetzt Muse Clio ohne Wunder ermöglicht, – diese Prozession und das Menschenmeer, natürlich mit ganz anderen Augen als die anderen Zuseher – mit prophetischen. Wir können hinaufsteigen und ohne Furcht zu fallen oben stehen bleiben.

Das Menschenmeer oder die zahllose zuschauende Menge bietet freilich ein gar zu undeutliches Bild; blicken wir aber scharf und fest hin, so treten nicht wenige, noch namenlose Gestalten schärfer hervor, die entweder wirklich oder mutmaßlich 137 da sind, und die nicht immer namenlos bleiben werden. So die junge Baronin Staël, die leibhaftig zwischen anderen ehrenwerten Damen von einem Fenster herabsieht. Madame de Staël, Considérations sur la Révolution Française (London 1818), I, 114-191. Ihr Vater ist Minister und eine der Hauptpersonen, in seinen eigenen Augen die Hauptperson. Junge, geistvolle Amazone, deines Bleibens ist nicht hier, auch nicht deines geliebten Vaters; »wie Malesherbes alles in Gott sah, so sah Necker alles in Necker,« eine Behauptung, die nicht Stich halten wird.

Aber wo ist die braunlockige, leichtlebige, gutherzige Demoiselle Théroigne? Du braune, redegewandte Schöne, die du mit deinen geflügelten Worten und Blicken rauhe Herzen und selbst die Stahlpanzer ganzer Bataillone erbeben machen und einen österreichischen Kaiser überreden wirst; – Helm und Pike werden zu rechter Stunde für dich bereit liegen, leider auch die Zwangsjacke und ein langer Aufenthalt in der Salpêtrière. Du hättest besser gethan, wenn du im heimatlichen Luxemburg geblieben und Mutter der Kinder irgend eines wackeren Mannes geworden wärest; – das aber war dir nicht bestimmt, war nicht dein Los.

Wie soll man jedoch ohne eine oder hundert eherne Zungen alle bemerkenswerten Persönlichkeiten des stärkeren Geschlechtes aufzählen! Hat nicht Marquis Valadi eiligst seinen breitkrämpigen Quäkerhut, seinen Pythagoras in Wapping und die Stadt Glasgow verlassen? Founders of the French Republic (London, 1798), § Valadi. De Morande blickte von seinem » Courrier de l'Europe« und Linguet von seinen » Annales« auf, sie haben gespannt durch Londoner Nebel hindurch ausgeschaut und sind Ex-Verleger geworden, nur um die Guillotine zu speisen und den verdienten Lohn zu ernten. Steht nicht dort auf den Zehenspitzen unser Faublas-Louvet? Und Brissot, de Warville genannt, der Freund der Schwarzen? Er hat mit Marquis Condorcet und dem Genfer Clavière den » Moniteur« gegründet oder ist daran, es zu thun, – tüchtige Zeitungsschreiber müssen doch über einen solchen Tag Berichte schreiben.

Oder siehst du mit einiger Deutlichkeit, wahrscheinlich tief unten und auf keinem der Ehrenplätze Stanislaus Maillard, den Huissier à cheval des Châtelet, einen der verschmitztesten und geriebensten Gesellen? Siehst du Kapitän Hulin aus Genf und Kapitän Elie vom Regiment der Königin, die beide 138 aussehen, als wären sie auf Halbsold gesetzt? Siehst du den betrügerischen Maultierhändler Jourdan mit seinem ziegelroten Schnurrbart (denn noch trägt er keinen Vollbart)? In einigen Monaten wird er Jourdan der Kopfabschneider sein und andere Arbeit verrichten.

Sicherlich steht oder reckt sich verdrießlich auf einem anderen Punkte, doch gewiß auch auf keinem Ehrenplatz ein schmutziges, triefäugiges, nach Ruß und Pferdemedizinen riechendes Individuum in die Höhe, um trotz seiner kurzen Gestalt doch etwas zu sehen: es ist Jean Paul Marat aus Neufchâtel. O Marat, Renovator der Philosophie, Lektor über Optik, du merkwürdigster aller Tierärzte in Artois' Ställen, was erblickt deine trübe Seele, die aus deiner trüben, verdrossenen Jammermiene spricht, in diesem Schauspiele? Sieht sie wenigstens einen schwachen Hoffnungsschimmer gleich dem Dämmerlichte des anbrechenden Tages nach der langen Polarnacht? Oder erblickt sie nur blaues Schwefellicht und Gespenster, Argwohn, Leiden und Rache ohne Ende?

Von dem Tuchhändler Lecointre und davon, wie er seinen nahe gelegenen Tuchladen schließt und fortgeht, brauchen wir kaum zu sprechen, ebensowenig von Santerre, dem lungenkräftigen Brauer aus dem Faubourg St. Antoine. Nur zwei andere Gestalten heben wir hier noch hervor, die muskulöse Hünengestalt, aus deren grobem, plattgedrücktem Gesicht ( figure écrasée) mit den schwarzen Brauen die gewaltige Energie eines noch nicht rasenden Herkules blickt. Es ist ein hungerleidender, unbeschäftigter Advokat, Namens Danton: den merke dir! Dann die Gestalt seines schlanken Kameraden und Berufsgenossen mit den langen, gekräuselten Locken und dem dunkeln, gemeinen Gesichte, das von seinem Genie so wunderbar durchleuchtet wird, als brenne eine Naphthalampe in ihm: das ist Camille Desmoulins, ein Bursche von unendlicher Verschlagenheit, von Witz, ja sogar Humor, einer der geistsprühendsten, klarsten Köpfe unter den vielen Millionen. Armer Camille, möge man von dir sagen, was man wolle, es wäre eine Lüge, wenn man behauptete, daß man dich nicht beinahe geliebt habe, du ungestümer, sprühender Mann! Der muskulöse, noch nicht rasende Mann ist also Jacques Danton, »ein Name, der in der Revolution nur allzu bekannt« sein wird. Er ist oder soll eben Präsident im Distrikt der Cordeliers werden und wird bald die ehernen Töne seiner Lungen erschallen lassen.

139 Wir wollen aber nicht länger bei der bunten, jubelnden Menge verweilen; denn siehe, jetzt kommen die Gemeinen heran.

Könnte wohl jemand erraten, welcher unter den sechshundert Männern in einfacher, weißer Halsbinde, die gekommen sind, um Frankreich neu zu gestalten, ihr König werden wird? Einen König oder Führer müssen sie ja haben, wie alle menschlichen Vereinigungen; was auch ihre Aufgabe sein mag, immer ist einer da, der sich durch seinen Charakter, seine Fähigkeiten und seine Stellung zu ihrer Durchführung am besten eignet. Und dieser Mann, ihr künftiger, noch nicht gewählter König, schreitet hier unter den übrigen. Wird es der dort mit den dichten, schwarzen Locken sein, mit der hure, wie er sie nennt, mit dem schwarzen Eberkopf, der wie geschaffen ist, als senatorisches Abzeichen geschüttelt zu werden, mit den buschigen, herabhängenden Brauen, er, dessen grobgeschnittenem, narbigem Karbunkelgesicht natürliche Häßlichkeit, Blatternarben, Unmäßigkeit, Ausschweifung und Bankerott ihren Stempel aufgedrückt haben; aber das glühende Feuer des Genies leuchtet durch wie das Licht eines Kometen durch chaotische Finsternis. Das ist Gabriel Honoré Riquetti de Mirabeau, der Weltbezwinger und menschenbeherrschende Deputierte von Aix. Stolz schreitet er, wie Baronin Staël sagt, einher, wiewohl er hier mit scheelen Blicken angesehen wird, und schüttelt seine dunkle Chevelure, seine Löwenmähne, als künde sie große Thaten an.

Ja, Leser, er ist der Typus des Franzosen jener Zeit, wie Voltaire der Typus der seinen war. In all seinem Streben und Ringen, in seinen Tugenden und Lastern ist er Franzose, vielleicht mehr Franzose als jeder andere; – und welche Fülle männlicher Kraft liegt überdies in ihm! Merke dir ihn wohl! Ohne ihn sähe die Nationalversammlung ganz anders aus, ja, er könnte mit dem alten Despoten sagen: »Die Nationalversammlung? Das bin ich.«

Er entstammte einem südlichen Klima, südlichem, heißem Blute; denn die Riquettis oder Arrighettis waren vor langen Jahrhunderten aus Florenz vor den Guelfen geflohen und hatten sich in der Provence niedergelassen, wo sie ihre Eigenart von Geschlecht zu Geschlecht vererbten: jähzornig und unbeugsam, waren sie zugleich verläßlich und scharfschneidend wie der Stahl, den sie trugen; von einer Willens- und Thatkraft, die manchmal an Wahnsinn streifte, ohne ihn zu erreichen. So kettet ein alter Riquetti in toller Erfüllung 140 eines tollen Gelübdes zwei Berge zusammen; die Kette mit ihrem »fünfstrahligen Eisenstern« ist heute noch zu sehen. Warum sollte nicht umgekehrt ein moderner Riquetti gar Vieles losketten und ins Rollen bringen, – was auch zu sehen sein wird?

Das Schicksal hat Arbeit für den schwarzbraunen Dickkopf Mirabeau, das Schicksal hat über ihn gewacht und seine Individualität schon von langem her vorbereitet. Zerfetzt und zerhauen von siebenundzwanzig an einem einzigen Tage erhaltenen Wunden, blieb sein Großvater der starke Col d'argent, wie man ihn nannte, auf der Brücke von Casano liegen, während Prinz Eugens Reiter zweimal über ihn hinwegsetzen. Vendôme brach, sein Fernglas fallen lassend, in die Klage aus: »So ist denn Mirabeau tot!« Doch Mirabeau war nicht tot; ein fliehender Sergeant hat einen kupfernen Feldkessel über das teure Haupt gestülpt, er kam zu sich und genaß durch wunderbare Heilung zu neuem Leben; – denn Gabriel sollte erst geboren werden. Mit seinem Silberkragen trug er noch lange Jahre sein narbenbedecktes Haupt aufrecht, freite und zeugte den starrköpfigen Marquis Victor, den Menschenfreund. Endlich erblickte in dem vom Schicksal bestimmten Jahre 1749 der langerwartete, grobzugehauene Gabriel Honoré das Licht der Welt als das rauheste Löwenjunge, das je aus dieser rauhen Rasse hervorgegangen war. Wie verwundert mochte der alte Löwe (denn auch unser alter Marquis war eine Löwennatur, unbeugsam, zum Herrschen wie geschaffen, aber ein vollendeter Querkopf) seinen Sprößling betrachtet haben! Er beschloß, ihn aufzuziehen, wie kein Löwe noch aufgezogen ward. Alter Marquis, alle Mühe bleibt vergeblich! Dieser junge Löwe wird, du magst ihn schlagen und schinden, soviel du willst, es nie lernen, den Karren deiner politischen Ökonomie zu ziehen und ein Menschenfreund zu werden; er wird nicht du sein, sondern er wird und muß er selbst sein, ein anderer als du. Deine Ehescheidungsprozesse, »deine ganze Familie mit Ausnahme eines einzigen Mitgliedes in Haft und die sechzig Lettres de cachet« zu deinem Privatgebrauch setzen höchstens die Welt in Erstaunen.

Unser unglücklicher Gabriel, der sündigte und gegen den gesündigt wurde, hat von seinem Gefängnis auf der Insel Rhé den Atlantischen Ocean und vom Turme zu If das Mittelmeer rauschen gehört. Er war in der Festung Joux und zweiundvierzig Monate, fast ohne Kleider auf dem Leibe im Gefängnis zu Vincennes, immer infolge einer Lettre de 141 cachet seines Löwenvaters. Er war in den Gefängnissen von Pontarlier, wo er sich freiwillig als Gefangener gestellt hatte, und hat, um dem Anblick der Menschen zu entrinnen, zur Zeit der Ebbe eine Meeresbucht durchwatet. – Er hat vor dem Parlament von Aix plaidiert, um seine Frau zurückzuerhalten; das Publikum war auf die Dächer gestiegen, um wenigstens zu sehen, da es nicht hören konnte. »Klappermaul« ( claque-dents), knurrt der alte Querkopf Mirabeau, der in dieser vielbewunderten Beredsamkeit nichts anderes bemerken will als zwei aneinander schlagende Kinnbacken und einen hohlen, wie eine Trommel lauttönenden Kopf.

Was hat nicht alles Gabriel Honoré auf seinen merkwürdigen Irrfahrten versucht und gesehen! Alle Arten von Menschen, von drillenden Unteroffizieren bis zu Premier-Ministern und in- und ausländischen Buchhändlern hat er kennen gelernt und für sich zu gewinnen verstanden, – denn dieses wilde, unbeugsame Herz ist im Grunde ein geselliges, liebendes Herz – besonders aber hat er die verschiedensten Arten von Frauen gewonnen, von der Tochter des Bogenschützen zu Saintes bis zu jener holden, jungen Frau Sophie Monier, die er nur stehlen konnte, um dafür in effigie geköpft zu werden. Wahrlich, seit der arabische Prophet, von Ali bewundert, tot auf dem Schlachtfelde lag, hat es kaum noch einen solchen Liebeshelden mit der Kraft von dreißig Männern gegeben. Im Kriege hat er sich an der Eroberung von Corsika beteiligt, hat regelrechte und regellose Fehden ausgefochten und verleumderische Barone mit der Reitpeitsche gezüchtigt. In der Litteratur hat er über Despotismus, über Lettres de cachet geschrieben, hat Erotica im Stile Sapphos und Werthers, Obscönes, Profanes, Bücher über die Preußische Monarchie, über Cagliostro, über Calonne und über die Pariser Wasserleitungsgesellschaft veröffentlicht: – jedes Buch, könnten wir sagen, gleicht einem gewaltigen, rauchenden Pechfeuer, das wie ein Alarmsignal plötzlich emporqualmt! Die Pechpfanne, den Zündstoff und das Pech, das lieferte er selbst, aber all den Plunder von alten Lumpen, altem Holz und allem erdenklichen alten Kehricht (denn für ihn ist alles Brennmaterial) hatte er von allen möglichen Trödlern und Höckern zusammengetragen; daher hörte man denn auch so viele Trödler rufen: Heraus damit, das Feuer ist mein!

Ja, allgemeiner gesprochen, es hat wohl selten einen Menschen gegeben, der ein so großes Talent zum Borgen 142 besaß wie er; er konnte sich Ideen und Fähigkeiten eines anderen Menschen, ja den Menschen selbst zu eigen machen. »Alles nur Widerschein und Wiederhall ( tout de reflet et de réverbère),« knurrt der alte Mirabeau, der sehen kann, aber nicht sehen will. Nein, alter mürrischer Menschenfreund! Das ist es nicht, sondern seine Geselligkeit und seine alles an sich ziehende Natur; sie wird jetzt sein Hauptvorzug sein! In seinem vierzigjährigen »Kampfe gegen den Despotismus« hat er die herrliche Gabe der Selbsthilfe erworben und doch nicht die herrliche, angeborene Gabe der Kollegialität, die Gabe sich helfen zu lassen, verloren. Eine seltene Mischung ist dieser Mann: er kann, sich selbst genügend, leben und lebt doch auch in dem Leben anderer Menschen, er kann die Menschen zwingen, ihn zu lieben und mit ihm zu arbeiten, er ist ein geborener König der Menschen.

Bemerken wir noch, daß er, wie der alte Marquis weiter knurrt, »mit allen Formeln aufgeräumt hat, als hätte er sie verschluckt ( humé),« – eine Thatsache, die, wenn wir es wohl überlegen, in jenen Tagen viel bedeutet. Er ist kein Mann von Systemen, sondern nur von Instinkten und Einsicht, gleichwohl ein Mann, der jeden Gegenstand scharf ins Auge fassen, ihn durchdringen und beherrschen wird: denn er hat mehr Verstand und Willenskraft als andere, ein Mann, der zwar keine Brille der Logik, aber ein scharfes Auge besitzt. Fehlen ihm auch leider Dekalog, Moralcodex oder irgend ein bestimmtes Theorem, so ist er doch nicht ohne eine starke, feurige Seele und ohne aufrichtigen Sinn: er ist eine Wirklichkeit, kein künstlicher Schein. Und nachdem er so vierzig Jahre lang gegen den Despotismus angekämpft und sich von allen Formeln freigemacht hat, soll er nun der Wortführer einer Nation werden, die demselben Ziele zustrebt; denn ringt nicht auch Frankreich danach, den Despotismus abzuschütteln und sich von seinen alten Formeln freizumachen, die es als wertlos, abgebraucht und der Wirklichkeit nicht entsprechend erkannt hat? Von diesen will es sich freimachen und, wenn es sein muß, lieber ohne alle Formeln bleiben, bis es neue gefunden hat.

So tritt der merkwürdige Riquetti Mirabeau an das große Werk heran. Eine feurige, rauhe Gestalt mit schwarzen Simsonlocken unter dem Schlapphut, so schreitet er einher, gleich einer düsterglühenden Feuermasse, die man weder ersticken oder dämpfen konnte, ohne ganz Frankreich mit Rauch und Qualm zu erfüllen. Jetzt hat sie aber Luft bekommen 143 und wird sich selbst samt ihrer Rauchatmosphäre verzehren und ganz Frankreich mit einem Flammenmeer erfüllen. Seltsames Geschick. Vierzig Jahre glimmt und glost er nur mit trübem Qualm und Dunst; dann ringt er sich sieghaft durch und lohet wie ein brennender Berg himmelhoch empor; durch dreiundzwanzig Monate ergießt er hellstrahlend in Flammen und Feuerströmen alles, was er in seinem Innern birgt: und dann liegt er, der Leuchtturm und das Wunderzeichen des staunenden Europa, leergebrannt und für immer erloschen da. Ziehe vorbei, rätselhafter Gabriel Honoré, du Größter von allen! Unter allen National-Deputierten, ja in der ganzen Nation giebt es keinen einzigen Mann, der dir gleich wäre oder auch nur an dich heranreichte.

Wenn aber Mirabeau der Größte ist, wer unter den sechshundert Männern mag dann wohl der Kleinste sein? Vielleicht jener schüchterne, schmächtige, unscheinbare Mann mit der Brille, der noch keine dreißig zählen dürfte? Trüge er keine Gläser, so würde man merken, wie unstet und beobachtend seine Augen herumschweifen; sein Gesicht ist aufwärts gerichtet, als wittere er unklar die ungewisse Zukunft; sein galliges Gesicht spielt in allen möglichen Farbentönen, deren Grundton vielleicht ein blasses Meergrün ist. Siehe De Staël Considérations, II, 142; Barbaroux, Mémoires, etc. Dieses grünadrige Individuum ist ein Advokat aus Arras, sein Name: Maximilian Robespierre. Sein Vater, ebenfalls ein Advokat, gründete unter dem englischen Prinzen oder Prätendenten Karl Eduard Freimaurerlogen. Maximilians, des Erstgeborenen, Erziehung verursachte nicht große Kosten; im Collège Louis le Grand zu Paris hatte er den sprühenden Camille Desmoulins zum Schulkameraden; aber er bat den Kurator, unseren berüchtigten Halsband-Kardinal Rohan, ihn fortgehen zu lassen und auf seinen Freiplatz zu Gunsten eines jüngeren Bruders verzichten zu dürfen. Der gewissenhafte Maximilian verließ das Collège und kehrte in seine Vaterstadt Arras zurück; hier übergab man ihm sogar einen Prozeß, in dem er nicht ohne Erfolg zu Gunsten »des ersten Franklinschen Blitzableiters« plaidierte. Bei seiner Gewissenhaftigkeit und unverdrossenen Arbeitslust, mit seiner zwar begrenzten, aber klaren und raschen Auffassung stieg er in der Gunst amtlicher Personen, die in ihm einen ausgezeichneten, glücklicherweise von Genie ganz freien Arbeiter erkannten. Der Bischof läßt sich überreden, ihn zum Richter in seiner 144 Diözese zu bestellen. Dort spricht er gewissenhaft dem Volke Recht, bis er abdanken muß; denn es erscheint eines Tages ein Angeklagter, dessen Verbrechen den Galgen verdiente; sein Gewissen erlaubt ihm aber nicht, einen Adamssohn zum Tode zu verurteilen. Ein gewissenhafter, sittenstrenger Mann! Nicht wahr, ein für Revolutionen ganz untauglicher Mann? Seine kleine Seele, die durchsichtig und ungefährlich wie Dünnbier aussieht, kann gewiß nicht in Gärung geraten und zu scharfem Essig werden, der immer wieder neuen Essig erzeugt, bis ganz Frankreich zu einer scharfen Säure geworden ist? Wir werden sehen.

Zwischen den beiden Extremen, dem Größten und dem Kleinsten, gehen in der Prozession so viele Große und Kleine ihren verschiedenen Schicksalen entgegen. Da ist Cazalès, der junge, gelehrte Soldat, welcher der beredte Verfechter des Royalismus werden und sich den Schatten eines Namens verdienen wird. Der erfahrene Mounier, der erfahrene Malouet, deren Erfahrung als Parlamentspräsidenten im Laufe der Zeit bald Schiffbruch leiden wird. Pétion hat um eines stürmischeren Plaidierens willen seine Robe und Akten in Chartres zurückgelassen, seine Geige aber hat er nicht vergessen; denn er liebt die Musik. Sein Haar beginnt schon grau zu werden, obwohl er noch jung ist. Der Mann hat Glauben, feste, unerschütterliche Überzeugungen und nicht in letzter Linie Glauben an sich selbst. Auch der protestantische Geistliche Rabaut St. Etienne und der schlanke, beredte und leidenschaftliche Barnave werden bei der Wiedergeburt Frankreichs mithelfen. So viele unter ihnen sind junge Männer. Die Spartaner erlaubten keinem Manne vor dem dreißigsten Lebensjahre zu heiraten: wie viele Männer unter dreißig Jahren sind aber hier, nicht um einen tüchtigen Bürger, sondern um eine Nation, eine Welt von Bürgern hervorzubringen. Die Alten sind gekommen, um Risse auszubessern, die Jungen, um den Schutt wegzuräumen; – ist nicht diese Arbeit hier eigentlich die Hauptaufgabe?

Unterscheidest du nicht, auf die große Entfernung allerdings nur in undeutlichen Umrissen, die Deputierten von Nantes, die zuverlässig da sind? Unseren Augen erscheinen sie zwar nur als Kleiderstöcke mit Schlapphut und Mantel, aber in ihrer Tasche tragen sie ein Cahier de doléance, das unter vielen Absonderlichkeiten auch folgende Klausel enthält: die Perückenmacher von Nantes seien nicht mit neuen Zunftbrüdern zu behelligen, da die vorhandenen Zweiundneunzig 145 mehr als genügend wären. Histoire Parlementaire, I, 335. Die Einwohner von Rennes haben den Pächter Gérard gewählt, »einen Mann ohne Schulbildung, aber von natürlichem Verstand und rechtlichem Sinn.« Festen Schrittes geht er hier in seiner einfachen Bauerntracht, die er unbekümmert um kurze Mäntel und Kostüme stets tragen wird, allein einher. Der Name Gérard oder Père Gérard, wie sie ihn zu nennen belieben, wird in endlosen Witzen in royalistischen Satiren und republikanisch-didaktischen Almanachen Actes des Apôtres (von Peltier und anderen); Almanach du Père Gérard (von Collot d'Herbois). in alle Welt hinausgetragen werden. Als Gérard einst aufgefordert wurde, aufrichtig seine Meinung zu sagen, was er nach seiner bisherigen Erfahrung von der parlamentarischen Thätigkeit halte, gab er eine Antwort, die ihn als Mann charakterisiert: »Ich meine, daß es unter uns eine ganz nette Summe von Spitzbuben giebt.« So geht Vater Gérard in seinen dicken Schuhen festen Schrittes seines Weges weiter, wohin immer ihn seine Pflicht ruft.

Und der würdige Doktor Guillotin, den wir wiederzusehen hofften? Ist er nicht hier, so sollte er doch hier sein, und wir sehen ihn auch mit unserem in die Zukunft blickenden Auge: die Pariser Deputierten haben sich nämlich alle etwas verspätet. Merkwürdiger Guillotin, du angesehener Arzt, die Ironie des Schicksals hat dir den Ruhm der absonderlichsten Unsterblichkeit beschieden, die jemals einen gewöhnlichen Sterblichen seiner Ruhestätte, dem Schoße der Vergessenheit, entrissen hat. Guillotin wird die Ventilation des Saales verbessern, wird in Sachen der Sanitätspolizei und Hygiene nützlich sein; ja noch mehr: er wird seinen Bericht über das Strafgesetz vorlegen und bei dieser Gelegenheit eine klugerdachte Köpfungsmaschine beschreiben, die berüchtigt und weltbekannt sein wird; sie ist die durch Nachdenken, Studium und viele Versuche erzielte Frucht, welcher, als wäre sie seine Tochter, die Dankbarkeit oder der leichte Sinn des Volkes die von seinem Namen abgeleitete weibliche Bezeichnung La Guillotine beigelegt hat. »Meine Herren, mit meiner Maschine mähe ich Ihnen den Kopf im Nu ohne den geringsten Schmerz ab,« Worte, über die alle lachen. Moniteur, 1. Dec. 1789 (Histoire Parlementaire). Unseliger Doktor! Du wirst zwar nicht guillotiniert, aber zweiundzwanzig Jahre 146 lang nichts hören als Guillotine, nichts sehen als Guillotine und selbst nach dem Tode Jahrhunderte noch als ruheloser Geist diesseits von Styx und Lethe umherirren; denn dein Name kann sogar den Namen eines Cäsar überleben.

Sieh dort Bailly, den auch Paris entsendet, den altehrwürdigen Geschichtsschreiber der alten und neuen Astronomie. Armer Bailly, welch ein trauriges Ende findet dein heiter-schönes Philosophieren, das so ruhig und klar wie milder Mondenschein ist, im wirren Durcheinander deiner Ämter, deiner Präsident- und Bürgermeisterschaft, deiner diplomatischen Dienste, schließlich im blindwütenden Rasen der Niedertracht, welche dich in ewige Finsternis hinabstößt. Es ist wohl ein weiter Weg, den du von der himmlischen Milchstraße bis zum Drapeau Rouge herabsteigen mußtest, bis zu jener unseligen Dungstätte, wo du an »dem letzten Höllentage,« wenn auch nur vor Kälte ( de froid) gezittert hast. Wissenschaftliches Forschen und praktisches Handeln ist nicht dasselbe; schwach sein ist kein Unglück, aber für seine Aufgabe zu schwach sein, das ist ein Unglück. Wehe dem Tage, an dem man dich, den friedlichen Wanderer, auf den wilden Hippogryph der Demokratie hob; ihn, der mit einem Sprung die feste Erde verließ und bis zu den Sternen hinanstürmen wollte, hätte kein bisher bekannter Astolpho reiten können.

Unter den Deputierten des dritten Standes giebt es Kaufleute, Künstler, Gelehrte, dreihundertundvierundsiebzig Anwälte Bouillé, Mémoires sur la Révolution Française (London 1797), I, 68. und auch wenigstens einen Geistlichen, den Abbé Sieyès. Auch ihn entsendet Paris unter seinen zwanzig Deputierten. Seht ihn, den leichten schmächtigen Mann, wie kalt ist er, aber elastisch und biegsam wie Draht; er verbindet Instinkt mit stolzer Logik; er ist leidenschaftlos oder hat nur eine Leidenschaft, die des Eigendünkels, wenn man Leidenschaft nennen kann, was sich in seiner unabhängigen, konzentrierten Größe bis zur Höhe der übersinnlichen Welt erhoben zu haben wähnt und nun von seinem hohen Throne mit einem gewissen gottähnlichen Gleichmut auf die Leidenschaft hinabsieht! Er ist der Alleinweise, und mit ihm wird alle Weisheit sterben. Das ist Sieyès, der Baumeister von Systemen, der Generalbaumeister von Konstitutionen, der euch himmelhohe Konstitutionen baut, so viele man nur braucht; leider stürzen sie schon zusammen, bevor er noch die Gerüste 147 wegnimmt. » La politique,« sagte er zu Dumont, »die Politik ist eine Wissenschaft, die ich zu einiger Vollendung ( achevée) gebracht zu haben glaube.« Dumont, Souvenirs sur Mirabeau, p. 64. O Sieyès, was wirst du mit deinen offenen, aufmerksamen Augen noch alles sehen müssen! Aber wäre es nicht interessant zu wissen, wie Sieyès jetzt (denn er soll noch am Leben sein) A. D. 1834. mit dem trüben, nüchternen Blick des höchsten Greisenalters dieses ganze Bauen von Konstitutionen betrachtet? Etwa noch mit dem alten, unwiderleglichen Transcendentalismus? Der Sieg der guten Sache gefiel den Göttern, ihr Fall einem Sieyès ( victa Catoni). – Mittlerweile ist unter himmelerschütternden Vivatrufen und den Segenswünschen aller Herzen der Zug der Deputierten des dritten Standes vorbeigezogen.

Ihnen folgt der Adel und dann der Klerus. Bei beiden möchte man fragen, wozu sie eigentlich gekommen sind. Eigentlich, so wenig sie es ahnen, um die mit Donnerstimme an sie gestellte Frage zu beantworten: Was thut ihr auf Gottes schöner Erde, in seinem großen Arbeitsgarten, in dem jeder, der nicht arbeitet, entweder bettelt oder stiehlt? Wehe ihnen, wehe allen, die nur antworten können: Wir treiben den Zehnten ein, wir hegen Wild! Bemerkt indessen, wie d'Orléans seinem Stande vorausgeht und eifrig bemüht ist, sich unter die Gemeinen zu drängen. Für ihn giebt es Vivats, für die übrigen nur wenige Zurufe, obwohl alle Feudalhüte mit wallenden Federn und ein Schwert an der Seite tragen, obwohl ein d'Antraigues, der junge Edelmann ans Languedoc, und wirklich viel mehr oder weniger bemerkenswerte Pairs unter ihnen schreiten.

Da sehen wir die liberalen anglomanen Herzoge Liancourt und La Rochefoucault, den pietätvollen Sohn Lally und die beiden liberalen Brüder Lameth. Da ist vor allen Lafayette, den man Cromvell-Grandison nennen und dessen Name die Welt erfüllen wird. Auch er hat sich von vielen Formeln frei gemacht, aber nicht von allen. Er hängt an der Washington-Formel und wird an ihr hängen, wie ein dichtes Kriegsschiff an einem sichern Anker hängt, sich um ihn dreht und selbst nach dem wildesten Toben von Wind und Wogen noch daran hängen wird. Mag dies ruhmvoll sein oder nicht, für ihn ist es ein Glück. Er allein von allen Franzosen hat eine feste Weltanschauung und eine ihr entsprechende 148 Gesinnung; er kann ein vollkommener Charakter und ein Held werden und wäre es auch nur der Held einer Idee. Betrachte dir ferner unseren alten Freund aus der Zeit des Parlaments, Crispinus Catilina d'Espréménil. Reumütig bis in die Fingerspitzen, ist er als glühender Royalist von den mittelländischen Inseln zurückgekehrt; unstet blickt sein Auge, und sein Licht, das überhaupt nur düster glühte, ist jetzt dem Erlöschen nahe und flackert matt hin und her; über kurz oder lang wird ihn die National-Versammlung, um nicht Zeit zu verlieren, als Geistesgestörten behandeln. Zum Schluß sieh dir noch den kugelförmigen, jüngeren Mirabeau an, der mit Entrüstung seinen Bruder unter den Gemeinen sieht; es ist Vicomte Mirabeau, wegen seiner kugelrunden Gestalt und der großen Menge geistiger Getränke, die er faßt, Mirabeau Tonneau genannt.

Dort geht nun unser französischer Adel, alles im alten, ritterlichen Pomp, aber ach! unter welch veränderten Verhältnissen! Ihren heimatlichen Breiten entrissen, gleichen sie arktischen Eisbergen, die dem Äquator zutreiben und dort rasch schmelzen. Ehemals haben diese ritterlichen Duces ( Ducs, wie sie noch heißen) thatsächlich die Welt geführt, war es auch nur zu Kampf und Raub, wodurch damals der reichste Lohn der Welt zu verdienen war. Und da diese Duces zugleich die fähigsten Führer waren, so fiel ihnen der Löwenanteil der Beute zu, den ihnen niemand streitig machen konnte. Was können aber jetzt, da so viele Webstühle, verbesserte Pflugscharen, Dampfmaschinen und Wechsel erfunden sind, da die Menschen sogar Drillmeister für das Schlachtengetümmel um achtzehn Pence für den Tag dingen, was können jetzt noch diese ritterlichen Gestalten in goldgestickten schwarzen Sammetmänteln, in ihren mit Federn reichgeschmückten Hüten »von feudaler Form« bedeuten? – Ein Rohr, das im Winde hin und her schwankt.

Nun ist der Klerus herangekommen, mit Cahiers für die Abschaffung des gleichzeitigen Genusses mehrerer Pfründen, für den Wohnzwang der Bischöfe und eine bessere Zahlung des Zehnten. Hist. Parlementaire, I, 322-27. Stolz schreiten, wie wir bemerken, die Würdenträger einher, gesondert von den zahlreichen Würdenlosen, die im Grunde genommen nur in Pfarrerröcke verkleidete Gemeine sind. Hier aber soll, wenn auch auf seltsame Art, das Wort in Erfüllung gehen: Und die Höchsten werden (zu 149 ihrer gar großen Überraschung) die Niedrigsten sein. Besieh dir, um unter so vielen nur ein Beispiel zu wählen, diesen einnehmenden Grégoire; eines Tages wird Pfarrer Grégoire bereits Bischof sein, während die heute hier so stolz Einherschreitenden als Bischöfe in partibus verzweifelt umherirren werden. In einem anderen Sinne merke dir Abbé Maury, sein breites Gesicht mit dem fein zugespitzten Mund und den runden Augen, aus denen Intelligenz, Falschheit und jene Art von Sophistik leuchtet, die erstaunt thut, daß man sie sophistisch findet. Er weiß dir altes, mürbes Leder so geschickt aufzufrischen, daß es wie neues aussieht; ein stetig aufsteigender Mann; er pflegte zu Mercier zu sagen: »Sie werden sehen, daß ich vor Ihnen in der Akademie sein werde.« Mercier, Nouveau Paris. Leicht möglich, du geschicktester Maury, ja du sollst sogar einen Kardinalshut und Sammet und Ruhm haben, aber ach! am Ende auch volle Vergessenheit wie wir alle, und sechs Fuß Erde. Was frommt es bei einem solchen Ende, altes morsches Leder aufzufrischen? Ehrenvoll erscheint im Vergleich damit die Art, wie sich dein guter alter Vater sein Brot, hoffentlich in ausreichendem Maße, durch Schuhemachen verdient. Übrigens fehlt es Maury nicht an Unerschrockenheit. Er wird mit der Zeit Pistolen tragen und bei dem Todesruf » La Lanterne« (der Laternenpfahl) kaltblütig entgegnen: »Freunde werdet ihr dann besser sehen?«

Siehst du aber zunächst dort drüben den lahm einherhinkenden Bischof Talleyrand-Périgord, Seine Ehrwürden von Autun? Eine hämische Bitterkeit liegt in dieser unehrwürdigen Ehrwürdigkeit von Autun. Er wird die seltsamsten Dinge thun und dulden und wird sicherlich eines der seltsamsten Wesen werden, die man je gesehen hat oder sehen wird; ein Mann, der in Falschheit und von Falschheit lebt und doch nicht das ist, was man einen falschen Menschen nennen kann, das ist das Besondere an ihm. Hoffentlich wird ein solcher Charakter künftigen Geschlechtern ein Rätsel sein: bisher war ein solches Produkt der Natur und Kunst nur in unserem papierenen und Papier verbrennenden Zeitalter möglich. Erkenne in Bischof Talleyrand und in Marquis Lafayette die bedeutendsten Vertreter ihrer Arten, erwäge, was sie waren und was sie thaten, und wiederhole dir: O tempus ferax rerum!

Ist nicht im Grunde genommen auch der unglückliche 150 Klerus gar weit von seinen heimatlichen Breiten in den Strom der Zeit hinausverschlagen? Eine abnormale Masse von Menschen, die, wie jedermann schon dunkel zu begreifen anfängt, ihre Aufgabe nicht mehr zu erfassen versteht! Einst waren sie eine Priesterschaft, die Verkünder der Weisheit, die Offenbarer des Göttlichen im Menschen, ein wahrer Klerus (oder Erbe Gottes auf Erden): aber jetzt? – Schweigend ziehen sie mit ihren in ihrem Geiste verfaßten Cahiers vorüber, und niemand ruft: Gott segne sie!

König Ludwig und sein Hof beschließen den Zug. Der König, dessen Antlitz an diesem Tage der Hoffnung vor Freude strahlt, wird mit Jubel begrüßt, mit noch größerem sein Minister Necker. Nicht so die Königin, in deren Herz nur selten noch ein Hoffnungsstrahl fällt. Unglückliche Königin, Kummer und Sorgen bleichen dein Haar, in diesen Wochen stirbt dein Erstgeborener, schwarze Lüge und Verleumdung haben deinen Namen unauslöschlich befleckt, unauslöschlich, solange dies Geschlecht leben wird. Statt Viva la Reine! dringt der höhnende Ruf Vive d'Orléans! an ihr Ohr. Von ihrer königlichen Schönheit ist ihr beinahe nur die Hoheit geblieben, aus der nicht mehr Huld, sondern Stolz, Strenge und stummes Dulden sprechen. Mit sehr gemischten Gefühlen, unter denen die Freude sicherlich fehlt, läßt sie diesen Tag, den zu erleben sie nie erwartet hätte, über sich ergehen. Arme Maria Antoinette, mit deinen edlen Instinkten, deinen raschen, leidenschaftlichen Impulsen, deinen Augen fehlt nur allzusehr der sichere, weite Blick für die Aufgabe, die du erfüllen sollst! Ach, das Schicksal hat für dich Thränen des wildesten Wehes und die still fließenden Zähren stummen Schmerzes des Weibes aufgespart, obgleich in deiner Brust das Herz der Tochter Maria Theresias schlägt. Unselige, du bist dem Schicksal verfallen, schließe deine Augen vor der Zukunft.

Und so sind die Erwählten Frankreichs in prunkvoller Prozession vorbeigezogen, einige, durch das Feuer des Lebens geläutert, der Ehre, viele der Schande, nicht wenige dem Gemetzel, der Verwirrung, Verbannung und Verzweiflung, alle der Ewigkeit entgegen. Wie viel Ungleichartiges ist in dieser Gärkufe hier zusammengeworfen, um durch unberechenbare Kräfte und Gegenkräfte, durch Wahlverwandtschaft und unter stürmischen Prozessen ein Heilmittel für eine todkranke Gesellschaftsordnung zu gewinnen. Wenn man es recht bedenkt, so ist es wohl die eigenartigste Vereinigung von Menschen, 151 die je auf unserem Planeten zu einem solchen Zwecke zusammentrat. Und eine so tausendfach verschlungene Gesellschaft, die jetzt aus ihren unendlichen Tiefen hervorzubrechen droht, hat zu Heilern und Führern diese Männer, die für sich selbst keine Lebensregel besitzen oder höchstens eine Lebensregel nach dem Evangelium eines Jean Jacques. Selbst dem Weisesten unter ihnen, den wir wenigstens den Weisesten nennen müssen, ist der Mensch eigentlich nichts anderes als ein Zufall unter dem Himmel. In seinen Augen hat der Mensch keine Pflicht gegen seine Mitmenschen, außer etwa »die Konstitution zu machen.« Er kennt keinen Himmel über sich, keine Hölle unter sich, seine Welt ist ohne Gott.

Giebt es noch, möchte man fragen, einen anderen besseren Glauben, der in diesen zwölfhundert Männern lebt? Jawohl, Glauben an federngeschmückte Feudalhüte, an Wappenschilder, an das göttliche Recht der Könige und das göttliche Recht der Wildtöter; Glauben oder, was schlimmer ist, zünftigen Halbglauben oder das Allerschlimmste, den macchiavellistisch geheuchelten Glauben an geweihte Oblaten und an die Göttlichkeit eines armen, alten italienischen Greises. Trotz alledem läßt sich, wie gesagt, in der unermeßlichen Verwirrung und Verderbtheit, die hier blind danach ringt, weniger verworren und weniger verderbt zu werden, das eine hervorstehende Merkmal eines neuen Lebens erkennen: der ernste, feste Entschluß, sich von allem Schein zu befreien, ein Entschluß, der bewußt oder unbewußt feststeht und immer tiefer Wurzel faßt, bis er zum Wahnsinn und zur fixen Idee wird, ein Entschluß, welcher in der ihm hier zu Gebote stehenden Verkörperung rasch zu einer ungeheuerlichen, staunenerregenden, unbeschreiblichen Entwicklung heranreifen wird: ein neues Schauspiel für Jahrtausende! – Auch des Himmels Licht muß ja oft in Donner und Gewitterschwüle gehüllt auf die Erde als zerstörender Feuerstrahl niederfahren, der zerstört, um zu reinigen. Ja, ist es nicht eben diese drückende, atmosphärische Schwüle, die den Blitz und das Licht bringt? Soll auch das neue Evangelium wie einst das alte in der Zerstörung einer Welt geboren werden?

Wie die Deputierten dem Hochamt und der Predigt beiwohnten, wie sie, obwohl es doch in der Kirche war, Beifall klatschten, als der Prediger über Politik sprach; wie sie am nächsten Tage unter Entfaltung des nämlichen Pompes zum erstenmal in die Salle des menus (die kein Vergnügungssaal mehr ist) eingeführt und zu Reichsständen wurden: das 152 mögen sich die Leser selbst vorstellen. Der König sitzt gleich Salomo in aller Pracht und Herrlichkeit auf seiner Estrade und läßt seine Augen über die majestätische Halle schweifen, in der so viele Federn nicken und so viele Augen glänzen, während die Galerien und Seitenräume in allen Farben des Regenbogens prangen; denn von dort strahlt die sieghafte Macht der Schönheit herab. Auf dem breiten, schlichten Gesichte des Königs ruht die Zufriedenheit eines Mannes, der nach langer Irrfahrt endlich den sicheren Hafen erreicht hat: vertrauensseliger König! Er erhebt sich und hält mit volltönender Stimme eine Rede, die man sich leicht ausdenken kann. Weder mit ihr noch mit der ein- und zweistündigen Rede des Großsiegelbewahrers und Neckers, die von Patriotismus, Hoffnung, Vertrauen und ungenügenden Einkünften überfließen, wollen wir die Geduld des Lesers auf die Probe stellen.

Wir bemerken nur noch, daß Seine Majestät nach der Beendigung seiner Rede seinen Federhut aufsetzte. Als der Adel dem Brauche gemäß seinem Beispiele folgte, setzten nicht ohne einen gewissen Trotz auch nicht wenige unserer Deputierten des dritten Standes ihre Schlapphüte auf, ja drückten sie sogar fest auf den Kopf nieder und sahen mit Ruhe dem Kommenden entgegen. Histoire Parlementaire (I, 356); Mercier, Nouveau Paris etc. Darauf entsteht sowohl unter ihnen, als auch zwischen der Majorität und Minorität ein lautes Gemurmel von: Couvrez-vous, découvrez-vous! dem der König dadurch ein Ende macht, daß er seinen eigenen königlichen Hut wieder abnimmt.

So schließt die Sitzung ohne einen weiteren Zwischenfall oder ein anderes Omen als dieses, womit bedeutungsvoll genug Frankreich seine Reichsstände eröffnet hat. 153

 


 


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