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Die Tuilerien.

Erstes Kapitel.
Epimenides.

Wie wahr ist es, daß es in dieser Welt nichts Totes giebt, daß alles, was wir tot nennen, nur Veränderung bedeutet, bei welcher die Kräfte in entgegengesetzter Weise wirken! Auch dem Blatte, das im feuchten Winde verwest, sagt jemand, wohnen noch immer Kräfte inne; wie könnte es sonst verwesen? Unser ganzes Weltall von der Schwerkraft angefangen bis zum Gedanken und Willen ist nur eine unendliche Summe tausendfältig wirkender Kräfte; die Freiheit des Menschen ist von der Notwendigkeit der Natur umgeben; in diesem unendlichen Getriebe schlummert nichts auch nur einen Augenblick, alles ist vielmehr unaufhörlich wach und thätig. Du magst suchen, wo du willst, vom Granitfelsen, der seit der Schöpfung langsam verwittert, bis zum gesprochenen Worte, bis zur That: nirgends wirst du etwas abgesondert unthätig Daliegendes finden. Unwiderruflich fliegt das gesprochene Wort hinaus, aber noch vielmehr die vollbrachte That. Selbst die Götter, singt Pindar, können die geschehene That nicht ungeschehen machen. Gewiß nicht; was gethan ist, ist gethan für alle Ewigkeit, ist hinausgeschleudert in die unendliche Zeit und muß darin entweder lange sichtbar oder bald unserem Blicke entzogen fortwirken und wachsen als ein neues, unzerstörbares Element in der Unendlichkeit der Dinge. Fürwahr, was ist diese Unendlichkeit der Dinge selbst, die wir Universum, Weltall nennen, anders als eine That, eine Gesamtsumme von Thaten und Thätigkeiten? Keine Rechenkunst kann diese drei auf ihre Tafeln bringen und addieren; ihre Gesamtsumme steht aber doch deutlich geschrieben in allem, was gethan worden ist, in allem, was gethan wird, in allem, was gethan werden wird. Versteht es recht, alles, was ihr vor euch seht, ist eine That, das Produkt und der Ausdruck angewandter Kraft, und das 397 All der Dinge ist nichts anderes als eine unendliche Konjugation des Zeitwortes Thun. Ein uferloser Ocean, die Quelle der Kraft, des Vermögens zu wirken, weit wie die Unermeßlichkeit, unergründlich wie die Ewigkeit, schön und furchtbar zugleich, unbegreiflich, ein Ocean, in dem die Kraft in tausend Strömungen harmonisch wogt und rollt und kreist: das ist es, was die Menschen Dasein und Welt nennen, dieses tausendfarbige Flammenbild, das so, wie es sich in unserem armseligen Gehirn abspiegeln kann, zugleich Hülle ist und Offenbarung des einen Unnennbaren, der da thronet im unnahbaren Lichte! Noch weit jenseits der Milchstraße, schon vor dem Beginn der Tage wogt und kreist sie um dich her, ja du selbst bist ein Teil von ihr auf dem Punkte im Raume, wo du stehst, in dem Augenblicke, den deine Uhr zeigt.

Oder, von aller transcendentalen Philosophie abgesehen, ist es nicht eine aus der sinnlichen Wahrnehmung geschöpfte Wahrheit, die selbst ein einfacher Verstand als Axiom ansehen kann, daß sich alle menschlichen Dinge ausnahmslos in beständiger Bewegung, in Wirkung und Gegenwirkung befinden, daß sie Phase für Phase nach unabänderlichen Gesetzen vorgeschriebenen Zielen zustreben? Wie oft müssen wir es betonen und können es doch nicht tief genug ans Herz legen: die Saat, die wir gesäet haben, muß aufgehen! Auf den blühenden Sommer folgt der welkende Herbst. Und so verhält es sich nicht nur mit Saatfeldern, sondern auch mit allen Unternehmungen, Einrichtungen, philosophischen und socialen Systemen, französischen Revolutionen, kurz, mit allem, wodurch man in dieser Welt hienieden wirkt und schafft. Der Anfang birgt das Ende und alles, was dazu führt, in sich, wie bereits die Eichel die Eiche und ihre Schicksale in sich trägt. Stoff genug zu ernsten Gedanken, wenn wir darüber nur nachdenken wollten; – aber unglücklicher- oder auch glücklicherweise thun wir es nicht gar häufig! Beginne, wo du willst, der Anfang ist da und dir gegeben; aber wo, wie und wem wird das Ende gegeben sein? Alles wächst, sucht und erleidet seine Bestimmung; bedenke auch, daß gar Vieles ähnlich wie der Baum wächst, gleichviel ob wir daran denken oder nicht. So kommt es, daß jener Epimenides, jener schlaftrunkene Peter Klaus, seither auch Rip van Winkle genannt, bei seinem Wiedererwachen eine veränderte Welt findet. So viel hat sich während seines siebenjährigen Schlafes verändert! Alles, was außer uns, ja sogar vieles, was in uns liegt, wird sich verändern, ohne daß wir es beachten. Die 398 Wahrheit, die gestern noch ein unsicheres Problem war, ist heute ein Glauben geworden, der leidenschaftlich nach Ausdruck verlangt, und morgen schon hat ihn der Widerspruch zu wahnwitzigem Fanatismus gesteigert, oder Druck und Gewalt hat ihn zu krankhafter Unthätigkeit abgestumpft: und jetzt versinkt er in das Schweigen der Befriedigung oder der Entsagung. Für den Menschen und für jedes Ding ist das Heute nicht Gestern. Auf den Liebesschwur von gestern folgt heute der Fluch des Hasses; nicht aus freien Stücken, gewiß nicht; aber es mußte so kommen. Möchte sich der helle Glanz der goldenen Jugend freiwillig in das düstere Dunkel des glanzlosen Alters verwandeln? Es ist furchtbar, daß wir, Söhne der Zeit, aus ihr gebildet und gewoben, so eingeschlossen und so tief versenkt in das Geheimnis der Zeit, dastehen; furchtbar, wie über uns allen und über allem, was wir haben, sehen und thun, geschrieben steht: »Ruhe nicht, verharre nicht, vorwärts, deinem Schicksal entgegen.«

Aber in Revolutionszeiten, die sich von gewöhnlichen Zeiten hauptsächlich durch ihre Schnelligkeit unterscheiden, könnte jener Siebenschläfer des Märchens nach viel kürzerer Zeit erwachen; er brauchte nicht ein Jahrhundert oder sieben Jahre, oft nicht einmal sieben Monate zu schlafen und würde doch beim Erwachen Wunder genug erleben. Denkt euch zum Beispiel, ein neuer Peter Klaus habe sich, müde von dem Jubel des Föderationstages, sagen wir, unmittelbar nach dem Segen Talleyrands niedergelegt, wäre in dem Glauben, alles stehe nun gut, ruhig unter dem Holzgerüste des Vaterlandsaltars eingenickt und hätte dort nicht einundzwanzig Jahre, sondern vielleicht nur Jahr und Tag geschlafen.. Die weit entfernte Kanonade von Nancy stört ihn nicht, ebensowenig das schwarze Tuch neben ihm, auch nicht die gesungenen Requiems, die Totensalven der Kanonen, die Weihrauchpfannen und das lärmende Menschengewühl grade über seinem Kopfe, nichts von alledem stört Peters Schlaf, nein, Peter schläft ruhig weiter vom 14. Juli 1790 bis zum 17. Juli 1791, bis das Jahr seinen Kreislauf vollendet hat. An jenem letzten Tage hätte freilich kein Peter Klaus, kein noch so schlaftrunkener Epimenides, hätte höchstens der Tod selbst weiter schlafen können. Und so erwacht denn unser wunderbarer Peter Klaus; aber mit welchen Augen, o Peter! Himmel und Erde zeigen noch immer ihr heiteres Juligesicht, und das Marsfeld wimmelt von Menschen; doch der Freudenjubel ist zum Wahnsinnsgeheul des Schreckens und 399 Rachedurstes geworden; statt Talleyrands Segen, statt eines Segenswortes überhaupt, vernimmt man nur Flüche, Verwünschungen und gellendes Wehklagen; statt der Freudensalven krachen scharfe Schüsse; statt schwingender Weihrauchkessel und flatternder Banner der dreiundachtzig Departements sieht man nur eine blutigrote Fahne wehen, das Drapeau rouge. Thörichter Klaus! Das eine lag im anderen, das eine war das andere minus die Zeit, geradeso wie Hannibals felsenspaltender Essig schon im süßen Most enthalten war. Der süße Most der Föderation stammte aus dem letzten Jahre, der saure Essig der Auflösung, des Aufruhrs ist derselbe Stoff, er ist nur um die zu dieser Umwandlung nötige Zeit älter.

Jetzt schläft kein Märchen-Klaus oder Epimenides mehr; und könnte nicht trotzdem mancher, wofern er nur den dazu gehörigen Leichtsinn und die nötige Kurzsichtigkeit besitzt, dasselbe Wunder auf natürlichem Wege, ich meine mit wachenden Augen, zustande bringen? Augen hat er wohl, aber er sieht nur das Nächstliegende. Mit funkelnden, strahlenden Blicken, als ob er nicht nur sähe, sondern alles durch und durch sähe, bewegt er sich prahlend und geschäftig in dem engen Kreise seiner Pflichten und Geschäfte und läßt sich gar nicht träumen, daß dieser sein Kreis nicht die ganze Welt ist; denn beginnt nicht für uns dort, wo unser Gesichtskreis aufhört, das Nichts, ist nicht dort für uns ganz zweifellos das Ende der Welt? So wird denn auch unser geschäftiger Mann in Amt und Würden (nennen wir ihn zum Beispiel Lafayette) nach Jahr und Tag plötzlich durch gewaltigen Kartätschenlärm aufgeschreckt und schaut nicht weniger erstaunt drein, als es Peter Klaus gethan hätte. Solch ein natürliches Wunder kann Lafayette erleben und zwar nicht nur er allein, sondern auch die meisten anderen Franzosen, ob sie nun ein Amt bekleiden oder nicht, ja, das ganze französische Volk. Wie erstaunte Siebenschläfer springen sie einer nach dem anderen auf und staunen beim Erwachen über den Lärm, den sie selbst machen. So seltsam ist die Freiheit von der Notwendigkeit umschlossen, solch ein merkwürdiger Somnambulismus von Bewußtem und Unbewußtem, Willkürlichem und Unwillkürlichem ist das menschliche Leben. Wenn man irgendwo in der Welt darüber erstaunt war, daß sich der Förderationsschwur in Kartätschenschüsse verwandelte, so waren sicherlich die Franzosen, sie, die erst schwuren und dann schossen, von allen am meisten erstaunt.

400 Ach, Ärgernis mußte kommen. Das erhabene Pikenfest mit seiner allumfassenden Bruderliebe, wie man sie seit dem goldenen Zeitalter nicht mehr sah, hat daran nichts geändert; denn das glühende Verlangen in fünfundzwanzig Millionen Herzen ist dadurch nicht abgekühlt worden, es ist noch immer heiß, ja heißer, nachdem jeder Druck eines Gebotes, jeder Zwang, jedes bindende Gesetz außer jenem melodramatischen Föderationseid, mit dem sie sich selbst gebunden haben, von so vielen Millionen genommen war. Du sollst war ja von alters her die Grundbedingung des menschlichen Daseins, sein Glück und sein Segen beruhte auf der Befolgung dieses Gebotes. Wehe dem Menschen, wenn – und geschähe es auch auf Geheiß der klarsten Notwendigkeit – Widerspenstigkeit, ein treuloses Sichausschließen und Absondern, wenn ein bloßes Ich will seine führende Regel wird! Aber das Evangelium Rousseaus ist gekommen, und sein erstes Sakrament ist gefeiert worden: alles zeigt, wie wir sagten, ein immer glühenderes Verlangen, es muß immer heftiger weitergären und sich beständig ändern, wir mögen es bemerken oder nicht.

»Von Ekel überwältigt,« besteigt ein schnurrbärtiger royalistischer Kapitän sein Streitroß oder seine Rosinante und reitet drohend über den Rhein, bis schließlich alle davongeritten sind. Aber auch die Civil-Emigration hört nicht auf: ein Seigneur nach dem anderen muß freiwillig oder gezwungen in gleicher Weise davonreiten oder davonrollen; denn sogar die Bauern verachten denjenigen, der nicht den Mut hat, seinen Standesgenossen zu folgen und mit ihnen zu kämpfen. Dampmartin. Kann er es ertragen, daß man ihm einen Spinnrocken ( quenouille) entweder als Kupferstich durch die Post zuschickt oder als hölzerne Wirklichkeit über seiner Thürschwelle befestigt, als wäre er kein Herkules, sondern eine Omphale? Solche Wappen sendet man ihm fleißig auch vom jenseitigen Rheinufer zu, bis auch er sich endlich rührt und in Bewegung setzt; und so ist wieder ein Grundherr mehr in übler Laune fortgezogen, ohne sein Land mitnehmen zu können. Doch was sprechen wir von Offizieren und emigrierenden Seigneurs? Ist doch jedes zornige Wort auf der Zunge, ja jeder zornige Gedanke im Herzen eines jeden dieser fünfundzwanzig Millionen Franzosen ein Bruchteil des großen Kampfes. Bringt viele zornige Worte zusammen, und ihr habt eine Schlägerei; nehmt alle Schlägereien mit all den 401 offenen Wunden zusammen, die sie zurücklassen, und es entstehen Aufruhr und Revolten. Alles, was ehrwürdig war, hört auf, Ehrfurcht einzuflößen; sichtbare, wirkliche Flammen verzehren ein Schloß nach dem anderen, unsichtbare, geistige, vernichten eine Autorität nach der anderen. Lärmend und weithin sichtbar lodernd oder geräuschlos und unbemerkt verschwindet stückweise die ganze alte Ordnung der Dinge: und siehst du morgen hin, so siehst du nichts mehr.

 


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