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Elftes Kapitel.
Wie im goldenen Zeitalter.

Indessen nimmt Paris, das Tag für Tag und den ganzen lieben Tag lang zum Marsfeld und wieder zurück wandert, mit schmerzlichem Bedauern wahr, daß dort die Spatenarbeit nicht zur rechten Zeit fertig werden kann. Der Raum ist eben zu groß, dreihunderttausend Fuß ins Geviert; von der École Militaire (die mit hölzernen Balkonen und Galerien versehen werden muß) gegen Westen bis zum Thore an der 348 Seine (wo gleichfalls hölzerne Triumphbogen errichtet werden sollen) zählen wir etwa tausend Schritte in der Länge; in der Breite aber, d. i. von der schattigen Allee mit ihren acht Baumreihen auf der Südseite bis zur gleichlaufenden auf der Nordseite, etwas mehr oder weniger als tausend Fuß. Dieser Platz muß ausgegraben und die Erde zu einem Gelände die Seiten entlang und zwar in beträchtlicher Höhe, wieder aufgeschüttet, niedergestampft und stufenartig zu mindestens dreißig Reihen bequemer, mit Rasen eingefaßter und mit Brettern belegter Sitze umgestaltet werden; außerdem ist noch in der Mitte ein ungeheuerer, pyramidenförmiger Vaterlandsaltar, Autel de la Patrie, zu errichten, zu dem Stufen emporführen sollen. Wahrlich eine ausgiebige Zwangsarbeit, aber auch ein Weltamphitheater! Nur fünfzehn Tage noch trennen uns vom Festtage; aber bei dieser Langsamkeit wären beinahe noch halb so viele Wochen nötig; denn unsere Spatenmänner scheinen – eine auffällige Erscheinung – träge bei der Arbeit zu sein und wollen selbst für höheren Lohn keine Nachtarbeit leisten, obwohl ihre Arbeitszeit bei Tage sieben Stunden nicht übersteigt. Ärgerlich erklären sie, auch das menschliche »Tabernakel« bedürfe zeitweilig der Ruhe!

Sind die Arbeiter vielleicht im geheimen von Aristokraten bestochen? Die Aristokraten wären dessen fähig; wurde denn nicht vor einem halben Jahre mit aller Bestimmtheit die Behauptung verbreitet, das unterirdische Paris – wir stehen gefährlich zwischen Himmel und Abgrund über Steinbrüchen und Katakomben und sind unter den Füßen ganz unterhöhlt – sei mit Schießpulver angefüllt, damit man uns in die Luft sprenge? Eine Abordnung der Cordeliers leitete endlich eine Untersuchung ein und fand, – daß man das Pulver wieder beiseite geschafft habe. 23. Dezember 1789 ( Hist. Parl. IV, 44). Ein verruchtes, unverbesserliches Gezücht diese Aristokraten; alle verlangen in diesen heiligen Tagen »Reisepässe.« Unruhen, Aufstände, brennende Schlösser sind in Limousin und an anderen Orten an der Tagesordnung; denn sie sind wieder an der Arbeit. Zwischen dem Besten aller Völker und dem Besten aller königlichen Wiederhersteller möchten sie gerne Unfrieden säen; ja mit welch höllischem Grinsen würden sie unser Bundesfest, dem das Weltall erwartungsvoll entgegensieht, scheitern sehen!

349 Doch nein, aus Mangel an Arbeitern soll das Fest nicht scheitern! Jeder, der vier gesunde Glieder und ein französisches Herz im Leibe hat, kann und wird graben. Es war am 1. Juli, an einem Montag. Kaum haben die trägen fünfzehntausend Mietlinge ihre Geräte beiseite gelegt, während die Zuschauer sorgenvoll nach der noch hochstehenden Sonne blicken, als da und dort ein entrüsteter Patriot mit feurigem Auge Haue oder Schubkarren erfaßt und selbst zu graben oder zu karren beginnt. Dutzende folgen ihnen, dann Hunderte, und bald schaufeln und schieben neue fünfzehntausend freiwillige Arbeiter mit wahrer Riesenkraft und in aller Ordnung, mit einer Geschicklichkeit, die nicht durch Übung und Schulung erworben ward, und leisten dreimal so viel wie die bezahlten Arbeiter. Erst da die Dämmerung in Nacht übergeht, beschließen sie die Arbeit mit Jubelrufen, die man weit über den Montmartre hinaus hört oder wenigstens bespricht.

Am nächsten Tage wird die mitfühlende Bevölkerung auf den Augenblick warten, da die Geräte wieder frei werden. Doch wozu warten? Spaten giebt es überall! Und so brechen, wofern man den Berichten Glauben schenken darf, Enthusiasmus, Gutherzigkeit und Bruderliebe mit ihren hellsten Strahlen, mit einem Glanze hervor, wie ihn die Erde seit dem goldenen Zeitalter nicht mehr gesehen hat. Ganz Paris, Männer wie Frauen, eilt mit Spaten auf der Schulter seinem westlichen Ende zu. Ströme von Menschen ziehen, die einen ohne bestimmte Ordnung in natürlichen, zufälligen Scharen, die anderen wie Handwerksgenossen in Reihen geordnet nach dem Marsfelde. Zum Klange von Saiteninstrumenten marschieren sie drei Mann hoch hinaus, während junge Mädchen im Schmucke trikolorer Bänder und grüner Zweige vorangehen; die Schaufeln und Hauen werden wie Soldatengewehre auf den Schultern getragen, und wie aus einer Kehle erschallt das Ça-ira! Ja, pardieu, ça-ira rufen ihnen die Vorübergehenden in den Straßen zu. Alle Zünfte, alle öffentlichen und privaten Bürgervereine von den vornehmsten bis zu den unbedeutendsten hinab marschieren; selbst die Ausrufer haben für einen Tag ihr Schreien eingestellt. Die benachbarten Dörfer ziehen aus; unter der Führung ihres Maire oder ihres Maire und Pfarrers, der auch Spaten und eine trikolore Schärpe trägt, rücken nach den Tönen einer Dorfgeige, eines Tamburins oder Triangels ihre arbeitsfähigen Männer heran. Nicht weniger als einhundertundfünfzigtausend Menschen sind an der Arbeit, ja zu gewissen Tagesstunden zählt man ihrer an die 350 zweihundertundfünfzigtausend; denn welcher Sterbliche wäre nicht besonders am Nachmittag nach hastig beendetem Tagewerk schnell hinausgeeilt! Eine Ameisenstadt: denn sobald man den Platz Louis Quinze erreicht, herrscht gegen Süden zu jenseits des Flusses auf allen Straßen ein lebendiges Gedränge. Eine solche Menge von Arbeitern, nicht gedungenen Scheinarbeitern, sondern von wirklichen Arbeitern, die freiwillig ans Werk gehen: jeder Patriot stemmt sich gegen die unnachgiebige Erdscholle, hackt, gräbt und schiebt mit aller Kraft und seinem ganzen Gewichte.

Aimables enfants! Sie übernehmen auch selbst die Leitung und Anordnung (das, was der Franzose police de l'atelier nennt) mit der ihnen eigenen Bereitwilligkeit und angeborenen Geschicklichkeit. Es ist ein wahrhaft brüderliches Arbeiten; alle Unterschiede sind verwischt und aufgehoben; es ist, wie es im Anfang war, da Adam selbst noch grub. Geschorene Mönche in langen Kutten neben Wasserträgern in kurzen Röcken; schwalbenschwänzige, schönfrisierte patriotische Incroyables; schwarze Kohlenträger neben mehlweißen Perückenmachern und Perücken trägern; denn auch Advokaten, Richter und die Vorsteher aller Distrikte finden sich ein; keusche Nonnen in schwesterlicher Eintracht mit Opernnymphen und Gefallenen; patriotische Lumpensammler neben parfümierten Bewohnern von Palästen; denn der Patriotismus macht wie Geburt und Tod alles gleich. Die Buchdrucker sind in Reih und Glied heranmarschiert, die Leute Prudhommes alle in Papiermützen, auf denen die » Révolutions de Paris« gedruckt sind. Camille spricht dabei den Wunsch aus, daß es doch in diesen großen Tagen auch einen Bund der Schriftsteller » Pacte des Écrivains« gäbe. Hist. Parl., VI, 381-406. Welch wunderbarer Anblick! Schneeweißes Linnen und zarte Pantalons wechseln mit schmutzigen, karrierten Hemden und Pumphosen ab; denn beide haben ihre Röcke abgelegt, und unter beiden sind vier Glieder mit ihrer Summe patriotischer Muskeln. Da hacken und graben sie oder ziehen vorgebeugt in langer Kette an Schuttwagen oder überladenen Karren, alle heiter, alle eines Sinnes und eines Herzens. Da sieht man Abbé Sieyès eifrig und geschickt an einem Karren ziehen, obgleich er zum Ziehen zu leicht ist; an seiner Seite ist Beauharnais, der Könige zeugen, wenn auch selbst kein König werden wird. Abbé Maury schiebt nicht mit; aber die Kohlenmänner haben eine Puppe mit seiner Maske 351 mitgebracht, und so muß er wenigstens in effigie mitkarren. Kein hoher Senator möge die Arbeit verschmähen: denn auch Maire Bailly und Generalissimus Lafayette sind hier; – ach, an einem anderen Tage werden sie wieder hier sein. Selbst der König kommt, um der Arbeit zuzuschauen; ein himmelerschütterndes Vive le Roi! erschallt, und »sofort bildet man mit geschulterten Spaten eine Ehrenwache um ihn.« Wer nur kommen kann, der kommt, um zu arbeiten oder zu schauen und die Arbeit mit Segenswünschen zu begleiten.

Auch ganze Familien sind gekommen. Da sehen wir unter anderen drei Generationen einer Familie: der Vater hackt, die Mutter schaufelt, die Kinder schieben fleißig den Karren; der alte Großvater, ein einundneunzigjähriger Greis, hält in seinen Armen das Jüngste; Mercier, II, 76 etc. der muntere Kleine kann den anderen zwar nicht helfen, aber er kann einmal seinen Enkelkindern erzählen, wie hier Vergangenheit und Zukunft zusahen und mit bereits schwindender oder noch nicht entwickelter Stimme ihr Ça-ira lallten. Ein Weinhändler hat auf dem Rollwagen eines Patrioten Wein herbeigeführt. »Trinkt, Brüder, aber nur wenn ihr durstig seid, damit das Faß länger vorhalte.« Und wirklich tranken nur Leute, die augenscheinlich erschöpft waren. Ein geschniegelter Abbé schaut spöttisch zu. »An den Karren!« rufen einige, und er gehorcht, um Schlimmerem zu entgehen; ein klügerer patriotischer Kärrner, der gerade ankommt, ruft sein: arrêtez! dazwischen, setzt seinen Karren nieder, ergreift den des Abbé, rollt ihn schnell wie etwas Verpestetes weit aus dem Umkreis des Marsfeldes hinaus und leert ihn dort um. Eine andere Person (anscheinend von Rang oder Vermögen) kommt auch rasch herbei, wirft Rock, Weste samt zwei Uhren ab und stürzt sich sofort auf die Arbeit. »Aber Ihre Uhren?« ruft man ihm von allen Seiten zu. »Mißtraut man seinen Brüdern?« entgegnet er; die Uhren wurden nicht gestohlen. Wie schön ist edles Fühlen und Empfinden, schön und billig wie ein dünner Schleier, nur verträgt er nicht das Ziehen und Zerren des täglichen Gebrauches. Du schöner, billiger Flor, du bist nur ein zarter Schatten, ein leichtes Spinnengewebe aus dem Rohmateriale der Tugend, nicht geschaffen, das starke, feste Gewebe der Pflicht zu sein, oder es je zu werden; du bist besser als nichts – und doch auch schlechter!

352 Schulknaben und Studenten rufen: Vive la Nation! und bedauern, »daß sie jetzt nichts anderes als ihren Schweiß bieten können.« Doch was sprechen wir von Knaben? Schöne Heben, die lieblichsten von Paris, sind hier, in leichten, luftigen Gewändern mit trikoloren Gürtelbändern; auch sie schaufeln und schieben mit den übrigen; die Begeisterung verleiht ihren Hebeaugen schöneren Glanz, die langen Haare lösen sich und fallen in anmutiger Unordnung herab; ihre kleinen Finger werden gedrückt, aber trotzdem setzen sie den patriotischen Karren in Bewegung und zwingen ihn (mit einiger Nachhilfe; denn welcher Mannesarm wäre nicht überglücklich, ihnen zu helfen) sogar bis zur Höhe der Böschung hinauf; dann eilen sie in ihren langen Haaren und flatternden Trikoloren anmutig wie die rosigen Horen mit ihm wieder herab, um noch mehr zu holen. Und wie die Abendsonne das Marsfeld beschien, das dichte Gebüsch, das hie und da schützenden Schatten spendete, feurig färbte, wie sie gerade auf die Kuppeln und die zweiundvierzig Fenster der École Militaire niederstrahlte und sie alle in goldigen Flammen erstrahlten, – sah sie auf ihrer weiten Bahn durch den Tierkreis je ein Bild, das diesem gliche? Ein lebender Garten ist es, mit lebenden Blumen in allen Farben des Regenbogens übersäet, das Schönste freundlich dem Nützlichsten gesellt; ein warmes Gefühl beseelt alle und macht sie zu Brüdern, die in brüderlicher Eintracht arbeiten, geschähe es auch nur Tage lang, einmal und nie wieder! Aber die Nacht sinkt herab; auch diese Nächte sinken hinab in die Ewigkeit. Selbst der hastigste Reisende, der nach Versailles eilt, hält auf den Höhen von Chaillot sein Pferd an, schaut einige Augenblicke über den Fluß hinüber und erzählt nicht ohne Thränen, was er gesehen hat. Mercier, II, 81.

Inzwischen langen schon aus allen Richtungen der Windrose die Föderierten an: heißblütige Kinder des Südens, »die stolz auf ihren Mirabeau sind;« bedächtige Bewohner des Juragebirges mit nordischer Kaltblütigkeit; hitzige Bretonen mit ihrem gaelischen Ungestüm; Normannen, die sich im Handel nicht übervorteilen lassen, alle vom reinsten Feuer des Patriotismus durchglüht. Die Pariser Brüder gehen ihnen entgegen und empfangen sie mit militärischen Feierlichkeiten, brüderlichen Umarmungen und einer Gastfreundschaft, die an 353 das heroische Zeitalter erinnert. Die Föderierten wohnen den Verhandlungen der Nationalversammlung auf den für sie reservierten Galerien bei; ebenso beteiligen sie sich an den Arbeiten auf dem Marsfelde; jeder neue Trupp will den Spaten in die Hand nehmen und eine Erdscholle zum Altar des Vaterlandes emporheben. Und welch üppige Blüten der Beredsamkeit entfalten sich, welch hehre Moral spricht aus den Adressen an die hohe Versammlung und den patriotischen Wiederhersteller! Der Kapitän der bretonischen Föderierten kniet sogar in einem Augenblick überquellender Begeisterung nieder und überreicht mit Thränen in den Augen sein Schwert dem Könige, dessen Augen sich auch mit Thränen füllen! Der arme Ludwig! Das waren Tage, die, wie er später selbst sagte, zu den schönsten seines Lebens zählten!

Auch Revuen müssen stattfinden, Revuen der Föderierten, denen der König und die Königin samt dem trikoloren Hof zusehen; zum mindesten werden, wenn es – wie leider nur zu oft – regnet, unsere Bundesfreiwilligen durch die inneren Thorwege marschieren, wo das Königtum im Trockenen steht. Ja, hier können dich während einer zufälligen Stockung die schönsten Finger Frankreichs sanft am Ärmelaufschlag fassen, und eine zarte Flötenstimme kann dich fragen: »Monsieur, aus welcher Provinz sind Sie?« Der Glückliche! der mit gesenkter Degenspitze ritterlich antworten kann: »Madame, aus der Provinz, über welche Ihre Vorfahren herrschten.« Ein sonniges Lächeln und die mit melodischer Stimme und lebhafter Freude an den König gerichteten Worte: »Sire, das sind Ihre treuen Lothringer« belohnen den glücklichen »Provinzial-Advokaten,« jetzt Provinzial-Föderierten. Das »Himmelblau mit roten Aufschlägen,« das der Nationalgardist während dieser Festtage trägt, bietet dem Auge freilich einen freundlicheren Anblick, als das düstere Schwarz und Grau, das der Provinzialadvokat an Werktagen zu tragen pflegt. Ebenderselbe überselige Lothringer wird heute abend als Schildwache vor der Thür der Königin stehen und fühlen, daß er tausend Tode für sie sterben könnte; dann wird sie ihn noch einmal am äußeren Thore und sogar ein drittes Mal sehen: Ja, er selbst wird ihren Blick auf sich lenken, indem er mit solchem Nachdruck präsentiert, daß »sein Gewehr laut rasselt,« und wieder wird sie mit einem sonnigen Lächeln grüßen und den kleinen, blondlockigen, allzu lebhaften Dauphin ermahnen: »Grüßen Sie doch, Monsieur, seien Sie artig.« und damit wird sie gleich einem leuchtenden Himmelswanderer 354 oder Wandelstern mit ihrem kleinen Mond ihre vorgezeichnete Bahn weitergehen. Erzählung eines lothringer Föderierten ( Hist. Parl. IV, 389-391).

Nun stellt euch aber vor, wie am Abend, wenn die patriotische Spatenarbeit gethan ist, der Gastfreundschaft geheiligte Bräuche in ihre Rechte treten. Lepelletier Saint-Fargeau, ein einfacher, aber reichbegüterter Senator, hat täglich seine »hundert Tischgäste;« die Tafel des Generalissimus vereinigt vielleicht die doppelte Zahl. In niedriger Stube, wie im hohen Saale kreist der Weinbecher, den die Schönheit in Gestalt der leichttrippelnden Grisette oder stolz einherschreitenden Dame lächelnd kredenzt; und beide erfreuen durch ihr Lächeln und ihre Schönheit das Herz der Tapferen.

 


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