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Der dritte Stand.

Erstes Kapitel.
Sieg der Unthätigkeit.

Man kann nicht leugnen, daß das erregte Frankreich mit seiner Nationalversammlung etwas erreicht hat, ja sogar etwas Großes, Bedeutendes, Unentbehrliches, doch blieb immer noch die Frage: Was hat es eigentlich erreicht? Eine schwer lösbare Frage, selbst für den ruhigen Beobachter unserer Tage, ganz unlösbar für die damals im Mittelpunkt der Handlung stehenden Personen. Die Generalstände, das Werk geeinter leidenschaftlicher Anstrengung der ganzen Nation, stehen als etwas Hohes, Hochgehaltenes da. Lautjubelnd ruft die Hoffnung, sie würden sich als die wunderwirkende, eherne Schlange in der Wüste bewähren, die jeden, der vertrauensvoll und gehorsam zu ihr emporblicke, von allen Schmerzen und Wunden heilen werde.

Wir dürfen antworten: sie werden sich wenigstens als symbolisches Banner bewähren, um das sich die erbitterten, klagenden fünfundzwanzig Millionen, die sonst isoliert und ohnmächtig wären, scharen und vereint wirken können, – was sie eben zu wirken vermögen. Muß, wie es wohl zu erwarten steht, die Arbeit im Kampfe bestehen, dann werden sie ein Schlachtenbanner sein (sozusagen, ein italienisches Gonfalone auf seinem alten republikanischen Carroccio), das hochragend auf dem Wagen im Winde weithin sichtbar flattern und mit seiner ehernen Zunge gar manches Zeichen ertönen lassen wird; ein notwendiges, ja durchaus unentbehrliches Banner, das, mag es nun in den vordersten Reihen oder im Centrum stehen, mag es beim Angriff als Führer voranflattern oder auf der Flucht verteidigt werden, den kämpfenden Scharen stets von unberechenbarem Nutzen sein muß. Gerade zu der Zeit, da es in den vordersten Reihen flattert, ja beinahe allein dasteht und auf die Streitkräfte wartet, die sich ringsum zusammenscharen werden, bildet eben dieses Nationalcarroccio 154 mit den Signalen, die es ertönen läßt, den Gegenstand unseres Hauptinteresses.

Das Omen der »aufgesetzten Schlapphüte« beweist, daß die Deputierten des dritten Standes fest entschlossen sind, weder dem Adel noch dem Klerus, ja kaum der Majestät selbst ein Vorrecht einzuräumen. So weit hat uns der Contrat social und die Macht der öffentlichen Meinung gebracht; denn was ist die Majestät anderes als der Bevollmächtigte der Nation, mit dem man auch feilscht (und zwar sehr genau), – zumal in gewissen besonderen Lagen, deren Zeitpunkt Jean Jacques nicht näher bestimmt hat.

Wie unsere Gemeindeputierten am nächsten Tage als eine noch unorganisierte Masse von sechshundert Männern ihren Saal betreten, bemerken sie, ohne zu erschrecken, daß sie ihn für sich allein haben. Ihr Saal ist auch der große oder allgemeine Saal für alle drei Stände. Der Adel und der Klerus haben sich aber, wie es scheint, in ihre zwei besonderen Räume oder Säle zurückgezogen und prüfen dort ihre Vollmachten nicht auf Grund gemeinsamer, sondern besonderer Befugnis. Wollen sie sich also als zwei getrennte, vielleicht getrennt abstimmende Stände konstituieren? Es ist, als ob es beide, Adel und Klerus, stillschweigend für ausgemacht betrachteten, daß sie es schon seien. Zwei Stände gegen einen; so wäre ja der dritte in dauernder Minorität?

Vieles mag noch unentschieden sein, aber ganz entschieden ist es in den Köpfen unter den Schlapphüten und im Kopf der ganzen Nation, daß man dies nicht zugeben dürfe; sonst wäre ja die doppelte Vertretung und alles bisher Gewonnene null und nichtig. Zweifellos müssen »die Vollmachten geprüft werden,« zweifellos muß die Kommission, müssen die Wahldokumente eures Deputierten von einem anderen Deputierten geprüft und richtig befunden werden; das sind ja die Vorarbeiten. Auch ist es keine Lebensfrage, ob man dies getrennt oder vereint vornimmt; doch wie, wenn es zu einer Lebensfrage führte? Man muß Widerstand leisten; denn es ist eine weise Lebensregel: Widersetze dich am Anfang! Und sollte offener Widerstand nicht rätlich, ja vielleicht sogar gefährlich sein, so ist doch ein überlegendes Einhalten ganz natürlich, und ein Verharren in Unthätigkeit, zumal wenn man fünfundzwanzig Millionen hinter sich weiß, kann Widerstand genug werden. Die unorganisierte Masse der Gemeindeputierten beschränkt sich daher auf »ein System der Unthätigkeit« und bleibt für den Augenblick unorganisiert.

155 Diese Methode, die ebenso der Klugheit wie der Zaghaftigkeit entspricht, wenden die Gemeindeputierten an und verharren bei ihr Tag für Tag, Woche für Woche – nicht ohne Geschicklichkeit und mit immer zunehmender Hartnäckigkeit. Sechs Wochen lang ist ihre Geschichte von der sogenannten »uninteressanten Art,« die oft, wie die Philosophie weiß, die fruchtbarste ist. Es waren ihre stillen Schöpfungstage, da sie saßen und brüteten! Was sie thaten, war in der That nichts anderes als ein vernünftiges Nichtsthun. Täglich versammelt sich die unorganisierte Körperschaft und bedauert, daß sie sich nicht organisieren, daß sie die »Vollmachten nicht gemeinsam prüfen,« daß sie nicht anfangen könne, Frankreich zu regenerieren. Voreilige Schritte sind leicht gemacht, daher unterlaßt lieber jeden Schritt; Unthätigkeit allein ist unstrafbar und unbesiegbar zugleich.

Der List muß man mit List begegnen, der stolzen Anmaßung mit Unthätigkeit, mit einem leisen Ton patriotischen Schmerzes; man muß sanft, aber unverbesserlich, unbeugsam bleiben. Klug wie die Schlangen, sanft wie die Tauben: welch ein Schauspiel für Frankreich! Sechshundert unorganisierte Individuen, die zu seiner Wiedergeburt und Rettung durchaus notwendig sind, sitzen da auf ihren elliptischen Bänken und sehnen sich in ihrer peinvollen Haft leidenschaftlich nach Leben, wie Seelen, die ihrer Geburt harren. Man hält Reden voll Beredsamkeit, die man drinnen und draußen vernimmt. Ein Gedanke entfacht den anderen; die Nation sieht mit stets wachsendem Interesse zu. So sitzen die Deputierten beisammen und brüten.

Es giebt Privatkonferenzen, Abendgesellschaften, Beratungen, es giebt einen bretonischen Klub, einen Klub von Viroflay; Keime zu vielen anderen Klubs; eine Atmosphäre, voll verworrenen Lärms, voll Schwüle und zornglühender Hitze, – in der das Erosei in der richtigen Temperatur wohlbehalten und unzerbrochen liegen mag, bis es ausgebrütet ist. Euere Mouniers, Malonets und Lechapeliers bringen die nötige Erfahrung, eure Barnaves und Rabauts die richtige Hitze dazu mit; manchmal giebt ihnen der königliche Mirabeau einen guten Gedanken ein. Noch ist er keineswegs als König anerkannt, ja, man murrte, als sein Name zuerst genannt wurde: aber er ringt sich zur Anerkennung durch.

Nachdem die Gemeinen im Laufe der Woche ihren Ältesten zum Vorsitzenden gewählt und ihn mit jungen lungenstarken Hilfskräften umgeben haben, – können sie klar und deutlich 156 aussprechen und mit vernehmlichen Worten klagend erklären, sie seien eine unorganisierte Körperschaft, die nach Organisierung verlange. Es laufen Briefe ein; aber eine unorganisierte Körperschaft darf keine Briefe öffnen; daher bleiben sie uneröffnet auf dem Tische liegen. Der Älteste darf sich höchstens zu eigenem Gebrauch eine Art Liste oder Musterrolle verschaffen, um danach die Stimmen zu sammeln; im übrigen muß man warten, was die Zeit bringen werde. Adel und Klerus sind zwar ganz anderswo; aber das Publikum drängt sich voll Spannung auf den Galerien und leeren Plätzen, und das ist einigermaßen ein Trost. Mit Mühe beschließt man, eine Deputation sei nicht zu senden, – denn wie könne eine unorganisierte Körperschaft Deputationen entsenden? – sondern bestimmte Gemeindeputierte sollen nur wie zufällig in den Saal des Klerus und dann in den Saal des Adels eintreten; dort sollen sie als gelegentliche Bemerkung die Worte fallen lassen, es scheine ihnen, die Gemeinen seien versammelt und warteten auf sie zur Prüfung ihrer Vollmachten. Das ist die klügere Methode.

Der Klerus, unter dessen Mitgliedern sich sehr viele ohne Titel und Würden, eigentlich Gemeine im Pfarrersrock, befinden, schickt sofort die respektvolle Antwort, auch er studiere eifrig denselben Gegenstand und werde dies jetzt noch eifriger als früher thun. Der Adel dagegen antwortet erst nach vier Tagen in hochfahrendem Tone, er für seinen Teil habe bereits die Prüfung vollzogen und sei konstituiert; dasselbe habe er von den Gemeinen angenommen, da eine derartige getrennte Prüfung offenbar dem verfassungsmäßigen, althergebrachten Vorgehen entspreche; das wolle er ihnen mit Vergnügen durch eine Kommission aus seiner Mitte beweisen, wenn die Gemeinen auch ihrerseits eine Kommission wählen wollten: Kommission gegen Kommission. Gleich darauf erscheint aber eine Deputation des Klerus, die in ihrer hinterhältigen, versöhnlichen Weise denselben Vorschlag wiederholt. Hier liegt die Schwierigkeit: was werden die klugen Gemeinen dazu sagen?

Nachdem die klugen Gemeinen fünf Tage lang darüber beraten haben, fassen sie, in Anbetracht dessen, daß sie, wenn auch kein dritter französischer Stand, doch ein Aggregat von Individuen seien, das auf einen solchen Titel Anspruch habe, nach reiflicher Überlegung den Beschluß, eine solche Kommission zu ernennen, – allerdings mit dem Vorbehalte, sich nicht überzeugen zu lassen. Der sechste Tag vergeht mit 157 der Ernennung der Kommission, der siebente und achte mit der Feststellung der Formalitäten der Zusammenkunft, des Ortes, der Stunde und dergleichen, so daß die Kommission des Adels mit der Kommission der Gemeinen nicht vor dem Abend des 23. Mai zum erstenmal zusammentrifft, wobei der Klerus die Vermittlerrolle übernimmt, und nun macht er sich an die unmögliche Aufgabe, sie zu überzeugen. Eine zweite Zusammenkunft beweist zur Genüge: die Gemeinen sind nicht zu überzeugen, der Adel und der Klerus glauben unwiderleglich überzeugend zu sein; die Kommissionen gehen auseinander, und jeder Stand besteht auf seinen ersten Forderungen. Verhandlungsberichte vom 6. Mai bis 1. Juni 1789 (in der Hist. parl., I, 379-422).

So sind drei Wochen verstrichen. Drei Wochen lang ist der Carroccio des dritten Standes mit seinem weithin sichtbaren Gonfalone, dem Winde trotzend, ganz unbeweglich dagestanden, in Erwartung der Streitkräfte, die sich darum scharen würden.

Von der Stimmung bei Hofe kann man sich leicht eine Vorstellung machen: ein Vorschlag jagt den anderen, und die laute Unfähigkeit dreht sich in dem trostlosesten Wirbel, in dem es für die Weisheit keinen Raum giebt. Die klugerdachte Besteuerungsmaschine hat man zu stande gebracht und mit unglaublicher Mühe aufgestellt; nun steht sie fertig da, und ihre drei Bestandteile: die beiden Schwungräder, der Adel und Klerus, und das ungeheuere Triebrad, der dritte Stand, sind in Verbindung gebracht. Die beiden Schwungräder drehen sich ganz ruhig und manierlich, aber das ungeheuere Triebrad hängt – es ist erstaunlich – regungslos da und will sich nicht in Bewegung setzen lassen. Die geschicktesten Techniker wissen keinen Rat; und selbst wenn es endlich in Gang kommt, wie wird es dann arbeiten? Furchtbar, meine Freunde, und für gar viele Zwecke, doch sicherlich niemals, um Steuern hereinzubringen oder Hofmehl zu mahlen. Hätten wir nur fortfahren können, die Steuern mit der Hand zu sammeln! Haben nicht Messeigneurs d'Artois, Conti, Condé (das Hoftriumvirat genannt) in ihrem antidemokratischen » Mémoire au roi« richtig prophezeit? Mögen sie auch ihre hohen Häupter vorwurfsvoll schütteln und ihre armen Gehirne martern – hier können die geschicktesten Techniker nichts thun. Selbst Necker, wenn man auch auf ihn hören wollte, fängt an, eine besorgte Miene zu zeigen. 158 Das Einzige, was rätlich erscheint, ist, Soldaten aufzubringen. Zwei neue Regimenter und ein Bataillon eines dritten haben Paris beinahe erreicht; andere sollen sich in Marsch setzen. Es wäre für alle Fälle gut, Truppen bei der Hand zu haben und das Kommando in sicheren Händen zu wissen. Betraut damit Broglie! Der alte Marschall Herzog von Broglie, ein Veteran in der militärischen Disziplin und Drillmeistermoral, das wäre ein Mann, auf den man sich verlassen könnte.

Denn leider ist auch nicht der Klerus, ja nicht einmal der Adel das, was beide sein sollten, ja was sie jetzt, da sie von außen so bedroht sind, sein müßten: ein einiges, ungeteiltes Ganze. Der Adel hat zwar seinen düsterglühenden Catilina oder Crispin d'Espréménil, der als Renegat ganz Feuer und Flamme ist, er hat seinen lärmenden Tonnen-Mirabeau; aber er hat auch seine Lafayettes, seine Liancourts und Lameths, vor allen seinen Orléans, der sich jetzt für immer von seinen Hofvertäuungen freigemacht hat und auf seiner Reise in das Chaos schlaftrunken von hohen und höchsten Prisen träumt; denn ist nicht auch er ein Nachkomme Heinrichs IV. und ein immerhin möglicher, rechtmäßiger Erbe? Vom Klerus, – so zahlreich sind die Pfarrer – sind schon zwei Häuflein desertiert, im zweiten auch Pfarrer Grégoire. Ja, man spricht davon, es stünden ihrer 149 im Begriffe, auf einmal fahnenflüchtig zu werden, und nur der Erzbischof von Paris halte sie noch zurück. Das Spiel scheint verloren.

Urteilt aber, ob Frankreich, ob Paris unterdessen müßig geblieben? Adressen strömen von nah und fern herein; denn unsere Gemeinen sind jetzt organisiert genug, um Briefe zu öffnen, ja sogar zu bekritteln. So erblickt der arme Monsieur de Brézé, der erste Obersthof- und Ceremonienmeister (oder wie sein Titel lauten mag), der in diesen Tagen wegen einer Etikettefrage eine schriftliche Mitteilung zu machen hat, kein Unrecht darin, mit den Worten zu schließen: »Monsieur, in aufrichtiger Ergebenheit der Ihrige.« – »Auf wen bezieht sich diese aufrichtige Ergebenheit?« fragt Mirabeau. »Auf den Vorsitzenden des dritten Standes.« »Es giebt keinen Menschen in Frankreich, der berechtigt wäre, das zu schreiben,« entgegnet er, und weder die Galerien noch die Welt lassen sich abhalten, dazu Beifall zu klatschen. Moniteur (in der Histoire Parlementaire, I, 405). Armer de Brézé! Die Gemeinen hegen einen noch älteren Groll gegen ihn und sind mit ihm noch lange nicht fertig.

159 In anderer Weise mußte Mirabeau gegen die rasche Unterdrückung seiner Zeitung, des »Journal der Generalstände,« protestieren und sie unter einem neuen Namen fortsetzen. Bei diesem Akt des Mutes konnten die Wähler von Paris, die noch immer mit der Abfassung ihres Cahiers beschäftigt sind, nicht umhin, ihn durch eine Adresse an Seine Majestät zu unterstützen: sie fordern die weitgehendste »provisorische Freiheit der Presse;« sie haben sogar davon gesprochen, die Bastille niederzureißen und an ihrer Stelle das broncene Standbild eines Königs der Patrioten zu errichten. Das sind die reichen Bürger; nun bedenkt aber, wessen man sich zu versehen hatte von seiten der bunt zusammengewürfelten, jetzt freiheitstollen Menge von Müßiggängern, Gaunern und Ausgestoßenen der Gesellschaft (und des destillierten Hallunkentums unseres Planeten), die sich fortwährend im Palais Royal herumtreiben; – oder denkt an das leise, endlose, rasch in Wutgeheul übergehende Wehklagen, das von St. Antoine und den fünfundzwanzig Millionen kommt, die in Gefahr sind zu verhungern!

Kornmangel besteht ja ganz unleugbar, mag er nun durch Aristokratenränke oder Orléansanschläge dieses Jahres oder durch Dürre und Hagelschlag des vergangenen Jahres entstanden sein: der Arme in Stadt und Land sieht trostlos einem namenlosen Elend entgegen. Und diese Generalstände, die uns ein goldenes Zeitalter bringen könnten, sind zur Unthätigkeit verurteilt, können nicht einmal die Prüfung und Beglaubigung ihrer Vollmachten erreichen! Alle Thätigkeit ist notwendigerweise gelähmt oder beschränkt sich darauf, Anträge zu stellen!

Im Palais Royal hat man, wie es scheint durch Subskription, eine Art Bretterbude ( en planches de bois) errichtet Histoire Parlementaire, I, 429. – wie bequem! – dort kann jetzt der auserwählte Patriotismus in aller Bequemlichkeit und bei jedem Wetter Reden halten und Resolutionen fassen. Das Satansheim ist voll Leben. In jedem Café steht auf einem Tisch oder Stuhl ein patriotischer Redner, den drinnen eine dichte Menge umdrängt, während draußen eine andere durch die geöffneten Thüren und Fenster mit offenem Munde zuhört und jedes Schlagwort von mehr als gewöhnlicher Kühnheit »mit donnerndem Beifall« begleitet. Gleich nebenan in Monsieur Desseins Flugschriftenladen muß man sich mit dem Ellbogen 160 Platz schaffen, um zum Verkaufstisch zu gelangen; jede Stunde bringt eine neue Flugschrift, ja einen ganzen Stoß von Flugschriften; »heute gab es dreizehn, gestern sechzehn, vergangene Woche zweiundneunzig Flugschriften.« Arthur Young, Travels, I, 104. Erinnert euch nun der Tyrannei und Teuerung, denkt an glühende Beredsamkeit, Gerüchte, Flugschriften, Société publicole, an den bretonischen Klub, an den Klub der Enragierten: – mußte da nicht jedes Schenk- und Kaffeezimmer, jeder Geselligkeitsverein, ja jede zufällige Straßengruppe im ganzen weiten Frankreich ein Enragierten-Klub sein?

Auf all dies können die Volksdeputierten in ihrer erhabenen Unthätigkeit nur mit Bedauern hören, da sie darauf beschränkt sind, sich »mit ihrer inneren Politik« zu beschäftigen. Wohl noch nie haben Deputierte eine sicherere Stellung gehabt; wenn sie nur diese klug zu behaupten verstehen. Laßt die Temperatur nicht zu hoch steigen, zerbrecht nicht das Erosei, bevor es ausgebrütet ist und sich von selbst öffnet. Auf den Galerien und allen leeren Plätzen drängt sich erwartungsvoll ein aufmerksames Publikum und »läßt sich nicht abhalten zu applaudieren.« Mögen die beiden privilegierten Stände, von denen der Adel seine Vollmachten bereits geprüft und sich konstituiert hat, mit was immer für Gesichtern sie wollen, zusehen: im Geheimen klopft ihr Herz doch bange. Der Klerus, der noch immer die Rolle des Vermittlers spielt, sucht mit einem Griff die Galerien und ihre Gunst zu erhaschen, greift aber fehl. Er entsendet eine Deputation mit dem schmerzlichen Hinweis auf die »Teuerung der Brotfrüchte« und die Notwendigkeit, sich über nichtige Förmlichkeiten hinwegzusetzen und über diesen Gegenstand zu beraten; – ein verfänglicher Vorschlag, den die Gemeinen (auf Antrag des meergrünen Robespierre) schlau als Wink oder selbst als Zusage aufnehmen, daß der Klerus von nun an unverzüglich auf ihre Seite treten, die Generalstände konstituieren und so das Korn billiger machen wolle. Bailly, Mémoires, I, 114. – Am 27. Mai stellt endlich Mirabeau, der die Zeit für gekommen hält, den Antrag, man möge der Unthätigkeit ein Ende machen, den starrsinnigen Adel seine eigenen Wege gehen lassen, den Klerus hingegen »im Namen des Gottes des Friedens« auffordern, sich mit den Gemeinen zu verbinden und ans Werk zu gehen. Finde diese Aufforderung kein Gehör – nun, so wollen wir dann 161 weiter sehen. Sind nicht ihrer hundertneunundvierzig zur Desertion bereit?

O Prinzentriumvirat, neuer Großsiegelbewahrer Barentin, Minister des Inneren Breteuil, Herzogin von Polignac und du, Königin, die du stets bereit bist, Gehör zu schenken, was ist jetzt zu thun? Der dritte Stand, mit der Kraft von ganz Frankreich in sich, wird nunmehr in Bewegung geraten. Die Klerusmaschinerie samt der Adelsmaschinerie, die uns so gut als Hemmschuh und Gegengewicht hätte dienen sollen, wird schmählich nachgezogen werden und mit ihm zugleich Feuer fangen. Was ist also zu thun? Das Oeil de Boeuf ist ratloser denn je; welch ein Geflüster und Gegengeflüster! es ist ein wahrer Sturm von Geflüster! Beruft des Nachts leitende Männer aller drei Stände ins Oeil de Boeuf! Viele von ihnen können Geister beschwören; vermögen sie aber auch dies zu beschwören? Sogar Necker wäre jetzt willkommen, wenn er mit Erfolg vermitteln könnte.

So laßt denn Necker und zwar im Namen des Königs eingreifen! Glücklicherweise ist jener »Gott des Friedens«-Brandbrief noch nicht beantwortet. Die drei Stände sollen wieder Konferenzen halten; unter diesem ihren Patriotenminister ließe sich vielleicht noch etwas zusammenflicken und heilen; mittlerweile setzen wir Schweizer-Regimenter und »hundert Stück Feldgeschütze« in Bereitschaft. Das also beschließt für seinen Teil das Oeil de Boeuf.

Was aber Necker betrifft, – ach, armer Necker, deines starrköpfigen dritten Standes erstes und letztes Wort heißt: Gemeinsame Prüfung als Bürgschaft gemeinsamer Abstimmung und Beratung. Die halb entgegenkommenden Vorschläge eines so bewährten Freundes beantwortet man nur mit verwunderten Blicken. Die verspäteten Konferenzen werden bald abgebrochen: der jetzt vorbereitete, entschlossene und von aller Welt unterstützte dritte Stand kehrt in den Ständesaal und Necker als ein seiner Zauberkraft entkleideter Geisterbeschwörer, reif für die Entlassung, ins Oeil de Boeuf zurück. Verhandlungen vom 1. bis 17. Juni 1789 ( Hist. Parlementaire, I, 422-478.)

So machen sich die Volksdeputierten aus eigener Kraft auf den Weg. Jawohl; statt eines Vorsitzenden oder Alterspräsidenten haben sie nun einen wirklichen Präsidenten, den Astronomen Bailly, erhalten, und schon ihre ersten Schritte bedeuten eine That der Wiedervergeltung. Unter endlosen, 162 laut lärmenden, leidenschaftlichen und ruhigeren Reden, die aus den Flügeln der Presse in alle Lande hinausgetragen werden, erklären sie heute am 17. Juni: ihr Name laute von nun an nicht mehr Dritter Stand, sondern – Nationalversammlung. Sie sind also die Nation? Prinzentriumvirat, Königin, starrsinniger Adel und Klerus, was seid dann ihr? Eine sehr ernste Frage, die kaum in einer lebenden Sprache der Politik zu beantworten sein dürfte.

Ohne sich darum zu bekümmern, geht unsere neue Nationalversammlung daran, ein » Comité de Subsistances« einzusetzen, das Frankreich lieb und teuer ist, obwohl es wenig oder gar kein Korn schaffen kann. Und als stünde unsere Nationalversammlung schon ganz fest auf ihren eigenen Füßen, setzt sie »vier andere ständige Komitees« ein, regelt die Sicherstellung der Nationalschuld und setzt die jährlichen Steuern fest: dies alles in achtundvierzig Stunden. Mit einer solchen Raschheit geht sie vor, daß die Geisterbeschwörer des Oeil de Boeuf sich wohl fragen mögen: Wohin?

 


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