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Hunderterster Brief

 

Paris, Freitag, den 25. Januar 1833

Wenn ich nur den bösen Zauber begreifen könnte, der die Italiener hier verhindert, den »Don Juan« gehörig zustande zu bringen. Man spielte ihn vor einigen Tagen wieder, und ich habe mich gelangweilt wie immer. Es ist Mozarts Musik; aber ohne ihren Geist. Es ist die nämliche Gestalt, Haltung, Farbe; aber ohne Leben. Es ist eine Wachsfigur, es ist gemaltes Feuer. Ich wollte, unser Guhr käme einmal hierher und suchte dem ungläubigen Orchester etwas Religion beizubringen.

Als ich gestern über den Boulevard St.-Antoine, der jetzt Boulevard Beaumarchais heißt, spazierenging, sah ich mir genau drei Häuser an, die nicht weit voneinander liegen. Ich sah hinein, hinauf, und da es alle drei Eckhäuser sind, machte ich die Runde um sie, ganz wie ein Dieb, der kundschaften will, auf welche beste Art er in der Nacht einsteigen könnte. In diesen Häusern wohnten einst berühmte Menschen. Solche verödete Wohnstätten rühren mich mehr als die Gräber auf dem Kirchhofe. Dort war früher nichts, und jetzt lebt da der Tod, es ist eine Art Geburt. Hier aber war früher alles, und jetzt ist das Leben tot, da ist die wahre Vernichtung. Und welches Leben war in diesen Häusern! Alle Lust und aller Schmerz des Daseins; alle Weisheit und alle Torheit des Lebens; Reichtum, Armut, die Freuden der Jugend, die Leiden des Alters, Witz, Geist, Aberglaube, Philosophie, Edelmut, Gaunerei, Freundschaft, Treue und Verrat, aristokratische Verderbnis und demokratische Wut, zwei Jahrhunderte und beide verraucht, und das ganze Paradies und die ganze Hölle, die zwischen der glücklichen und unglücklichen Liebe liegen. Jetzt wird in allen drei gemeine Krämerei getrieben!

In dem ersten Hause hat Cagliostro gewohnt. Es sieht etwas labyrinthisch und theatralisch aus und ist ganz geeignet zu einem Schauplatze für Geisterbeschwörungen, Goldmacherei, somnambulistischen Spuk und andere Täuschungen. Goethes aristokratische Verstocktheit und beispiellos enge Hofbeschränkung wurden mir durch nichts klarer als durch die falsche Ansicht, unter welcher er das Leben des Cagliostro und die Halsbandgeschichte betrachtete. Er sah sie als revolutionäre Erscheinungen, als die ersten Blitze an, mit welchen das Weltgewitter begann. Und sie waren gerade das Gegenteil: das helle Aufflackern einer verlöschenden Zeit. Cagliostros Treiben war eine Parodie der monarchischen Taschenschauspielerkunst. Ganz wie er, zu gleichen Zwecken und mit gleichen Mitteln, haben die Fürsten aller Zeiten die Völker aller Länder betrogen, sooft wegen unzureichender Macht die List nötig geworden. Die Halsbandgeschichte war die Sittenverderbnis aller Höfe, nur daß sie hier zum ersten Male öffentlich geworden. Freilich wenn wahr ist, was neulich die Monteskikelchen an der Ilm und der Saale, die edlen Ritter des Thüringer Waldes, die Großherzoglich-Sachsen-Weimar-Eisenach-Moskowitsche Adelskammer behauptet: Daß Öffentlichkeit der Anfang aller Revolutionen gewesen – dann war die Halsbandgeschichte wohl eine revolutionäre Erscheinung. Aber an wem die Schuld, wenn keine Monarchie die Öffentlichkeit ertragen kann?

Das andere Haus gehörte einst der Ninon de l'Enclos, der schönen Magdalene – ohne Reue –, die alle die unendliche Barmherzigkeit Gottes erschöpfen muß, wenn er ihr so viel vergeben will, als sie geliebt hat. Ihre Zeitgenossen wunderten sich, daß sie noch im höchsten Alter Bewunderer gefunden. Wie würden diese erst erstaunen, wenn sie heute lebten und sähen, daß noch jetzt, nachdem Ninon länger als hundert Jahre tot ist, noch jeder Mann von Gefühl sie liebt? Es ist ein großer Streit unter den Gelehrten, in welchem Alter Ninon zum letzten Male glücklich gewesen, ob in ihrem siebenzigsten oder in ihrem achtzigsten Jahre. Ich glaube aber weder das eine noch das andere; denn sie war neunzig Jahre alt, als sie starb. Chesterfield fragte einmal eine Dame von vierundsiebzig Jahren, in welchem Alter die Frauen zu lieben aufhörten; diese erwiderte: »Mylord, das weiß ich nicht, Sie müssen eine ältere fragen.« Ninons Haus hat drei Seiten, die nach drei verschiedenen Straßen gehen. Vorn nach dem Boulevard ist eine Hofmauer, vielleicht früher eine Gartenmauer, die zwei Pavillons verbindet. Den einen, garstig rot angestrichen, verunziert eine Weinschenke der gemeinsten Art. Zu dem andern, höher auf einer Terrasse gelegen, der einen Balkon hat, davon herunterzuspringen, führt von der Straße aus eine kleine, holde, anliebelnde Treppe, so eng, daß in dunkler Nacht ein gehender und ein kommender Liebhaber sich unmöglich hätten ausweichen können. Doch für solche Fälle war gesorgt. Auf der entgegengesetzten Seite, nach einer anderen Straße, hat das Haus noch eine Türe. Da ist der Haupteingang, das Tor. Jetzt hängt eine Tafel davor: Appartement à louer. Wie würde Ninon darüber lachen, wenn sie das läse. Ein nichtmöbliertes Appartement, also nur jahrweise zu vermieten. Sie hat ihr Haus oft genug vermietet; aber die längste Mietzeit war nicht länger als ein Tag unserer Antipoden. Das Haus hat ungewöhnlich viele Fenster, welche die ganze Höhe der Zimmer einnehmen und von denen jetzt mehr als die Hälfte vermauert sind. Diese vielen Fenster gehören zu dem Nachruhme der Ninon. Sie heuchelte nicht; in welchem Zimmer, in welchem Winkel sie auch war, es konnte ihr jeder Nachbar in das Herz sehen. Sie war so edel, daß, sobald ein Mann ihre Gunst erhielt, er das Recht, ihr ein Geschenk zu machen, auf immer verlor. Edel und doch gestorben – wie traurig! Aber es sterben auch gewöhnliche Menschen, die nichts haben als das Leben, und das ist noch trauriger.

Das dritte Haus war das von Beaumarchais. Dieses suchte ich eigentlich auf, die andern sah ich nur im Vorübergehen. Ich hatte eine Wallfahrt dahin gelobt, als ich einige Tage vorher im Théâtre Français »Figaros Hochzeit« aufführen gesehen. Das Haus liegt oder lag vielmehr am Ende des Boulevards und am Eingang der Vorstadt St.-Antoine, sehr bezeichnend als Grenze zwischen Monarchie und Republik, wie Beaumarchais selbst eine war. Das Haus, der Garten, einst zu den Merkwürdigkeiten von Paris gehörend, die jeder Fremde zu sehen eilte, sind verschwunden. Nur die Gartenmauern stehen noch, hoch, mit Fratzenmäulern zum Abflusse des Wassers versehen; es scheint, der Garten lag auf einer Terrasse. Auch noch ein Lusthäuschen hat sich erhalten, von launischer Bauart, einen reichen Besitzer verratend. Ich trat in den geräumigen Hof. Dieser umschließt jetzt ein neues Gebäude, zur Salzniederlage bestimmt. Salz – Beaumarchais – es ist ein Erbe, der seiner nicht ganz unwürdig ist. Beaumarchais gehörte zum Salze seiner Zeit. Unser heutiges Leben hat kein Gewürz mehr, es ist wie ein Kinderbrei. Auch ist jetzt die Menschheit ein Kind, das in die Schule geht. Nichts trauriger als eine solche Zeit der Entwicklung und der Lehre wie die unsere und die schon ein halbes Jahrhundert dauert. Man ist da immer entweder zu jung oder zu alt. Ist man zu jung, ist man gedankenlos, und die Zeit geht einem verloren; ist man zu alt, ist man sorgenvoll, und man geht selbst verloren. In der ganzen französischen Geschichte war das achtzehnte Jahrhundert gewiß das glücklichste für alle genußliebenden Menschen, Philosophen und Müßiggänger. Wer aber von jenen Menschen, beim Ausbruche der Revolution, sich und die Freiheit verstanden, hätte sich unter den Trümmern der Bastille müssen begraben lassen. Auch unter den Ehen, welche die Liebe geschlossen, gibt es glückliche, wenn auch selten; aber wer die Freiheit geheiratet, nachdem er sie als Jungfrau geliebt, ist immer unglücklich. Natürlich. Die Wehen der Zeiten kommen nach den Geburten, und man erkauft die Vater- und Mutterfreuden nicht mit Angst und Schmerzen, sondern man bezahlt sie damit, nachdem man sie schon genossen. Beaumarchais war nicht so glücklich, einen Tag nach der Monarchie zu sterben. Er lebte lange in die Revolution hinein, hörte ihre Versprechungen, erfuhr ihre Täuschungen, dann starb er und sah ihre Erfüllungen nicht mehr.

Es ist merkwürdig, wie aller Geist der Menschen nichts hilft, wenn der Geist der Zeiten sich ändert, In einer Nacht war Beaumarchais ein Dummkopf geworden; in einer Nacht hatte er allen seinen schönen Mut, seine Klugheit, seine Gewandtheit, seine sonst unerschütterliche Festigkeit verloren.

Mit dem Kriege des Lebens hatten sich die Rüstungen des Lebens geändert, und die Revolution fand Beaumarchais wie im Schlafrocke. Wie wäre es erst Voltaire ergangen, der, so viel waffenreicher als Beaumarchais, sich so viel wehrloser gefühlt hätte! Sie kennen Beaumarchais als Schriftsteller, aber wissen vielleicht nicht, daß er einer der größten und tätigsten Geschäftsmänner, einer der unternehmendsten Köpfe, einer der feinsten Hofleute und gewandtsten Weltleute gewesen, und daß er in allen Verlegenheiten, in allen Gefahren des geselligen und bürgerlichen Lebens immer den größten Mut und eine bewunderungswürdige Geistesgegenwart gezeigt. Sein Abenteuer mit Clavigo in Spanien ist durch Goethe bekannt geworden; aber erst gestern habe ich aus seinen hinterlassenen Briefen erfahren, wie er einst ganz allein in einem Walde bei Nürnberg von Räubern angefallen worden und, obzwar schwer verwundet, sich durch seine Unerschrockenheit und Tapferkeit gerettet hatte, nachdem er einen der Räuber niedergestoßen, die andern verjagt. Er war zugleich ein Ouvrard und ein Voltaire. Durch seine kühnen und glücklichen Handelsunternehmungen ward er einer der reichsten Männer von Frankreich. Im amerikanischen Freiheitskriege machte er den Insurgenten, im Einverständnisse mit der französischen Regierung, große Waffenlieferungen. Da gab es nun, wie immer bei solchen Unternehmungen, Kapereien, Schiffbrüche, verzögerte oder verweigerte Bezahlungen. Beaumarchais, durch seine Gewandtheit, wußte aus allen diesen Verwickelungen sich zu seinem Vorteile zu ziehen. Nun, dieser nämliche Beaumarchais zeigte sich in der Revolution unerfahren wie ein Kind, feige wie ein deutscher Stubengelehrter. Er unternahm auch für die revolutionäre Regierung Gewehrlieferungen, verlor aber nicht allein sein Geld, sondern fast auch seinen Kopf darüber. Früher hatte er es mit Ministern einer absoluten Monarchie zu tun. Die Kabinettstüren solcher Großen schließen und öffnen sich jedem leicht und sanft, der Schlösser und Angeln zu ölen versteht. Später hatte es Beaumarchais mit ehrlichen, das heißt mit gefährlichen Leuten zu tun; das wußte er nicht zu unterscheiden und ging zugrunde darüber.

Man hörte, daß er im Auslande Waffen aufkaufte, und er kam in Verdacht, dieses für Rechnung der Feinde zu tun; das Gerücht verbreitete sich im Volke. In einer Nacht stürmten die Vorstädter, racheglühend, sein Haus. Sie schrien, es wären Waffen darin versteckt. Beaumarchais flüchtete sich in Todesfurcht. Das ganze Haus wurde umgekehrt, die Erde des Gartens wurde tief aufgewühlt; man fand nichts. Besonders die Weiber des heiligen Antonius waren wie rasend. Man hat sie oft die Furien der Revolution genannt; aber nein, sie waren die Rachefurien der Monarchie, sie kamen hinter der Sünde. Die Feinde der Freiheit möchten gern die Strafe für das Verbrechen erscheinen lassen. Die angstzitternden Diener Beaumarchais' waren im Hause zurückgeblieben und konnten später ihrem Herrn von dem Hergange erzählen. In dem reichen und vollen Hause wurde nichts entwendet, auch nicht von dem Werte eines Pfennigs. Kein Glas Wein wurde angenommen, die Wutentbrannten löschten ihren Durst mit Wasser. Der zerlumpte Kerl, der die Rotte anführte, erklärte, es würde jeder niedergestochen, der nur etwas anrühre.

Eine Frau hatte im Garten eine Nelke abgebrochen; sie bekam dreißig Ohrfeigen und wäre beinahe im Springbrunnen ersäuft worden. Als Beaumarchais den andern Morgen in sein Haus zurückkehrte, war er erstaunt, alle seine Schätze wiederzufinden. Er war erstaunt – so wenig verstand er die Revolution, er, der doch selbst dreißig Jahre daran gearbeitet! Er starb 1799 in seinem siebenzigsten Jahre, bei ungeschwächter Kraft des Körpers und des Geistes; nur seine Heiterkeit hatte er verloren. Ein Freund, der ihn noch wenige Stunden vor seinem Tode ohne das geringste Zeichen von Übelbefinden gesehen, äußerte die Vermutung, er möchte sich freiwillig das Leben geraubt haben. Beaumarchais sagte ihm beim Scheiden: »Ich bin nicht neugierig mehr« ... Und wo sich dieses alles begab, wo solch eine Welt von Leben lebte, wird jetzt Kochsalz verkauft! Ich bin gestört worden, sonst hätte ich Ihnen noch von der Aufführung des »Figaro« gesprochen. Aber ich tue es in meinem nächsten.

 

Samstag, den 26. Januar

... Nun, das ist schön, daß Sie mir nachkommen und von meiner Weisheit zu erfahren wünschen, was von den türkischen Angelegenheiten zu halten sei. Seit acht Tagen suche ich das mit aller Macht zurückzustoßen. Ich habe schon an Europa schwer zu tragen, und jetzt soll ich gar noch den Orient auf mich laden! Das halte ich nicht aus. Und daß Sie es nur wissen: mir hat der Zorn der Götter, das böse Geschick, oder wie man es nennen will, jetzt eine Herkulesarbeit zugeworfen, die alle meine Kraft verzehrt. Ich schreibe Ihnen ein andermal davon; die Geschichte ist merkwürdig, aber weitläufig. Nur so viel in der Kürze: Die eilfte Plage Ägyptens ist über mich gekommen; ich habe seit einiger Zeit die Pflicht, eine junge schöne Frau, fast noch ein Kind, die vor einigen Monaten geheiratet hat, in ihrer schrecklichen Eifersucht über eine erträumte Geliebte ihres Mannes zu beruhigen, und sie nennt mich alle fünf Minuten ihren respectable ami. Augen, rot und naß vor Liebe, und ich bin ihr ein respectable ami, ein Schneemann, an dem sie ihren heißen Schmerz abkühlen will! Braucht es da noch des halben Mondes, um mich rasend zu machen? Ich verwünsche Sonne, Mond und Sterne und die ganze dumme Astronomie, die mich zum respectable ami gemacht. Doch genug heute!


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