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Dreiundachtzigster Brief

 

Paris, Samstag, den 24. November 1832

Abends. Heute mittag ging das Ungeheuer von Briefträger an meinem Hause vorbei und brachte mir nichts. Darüber war ich sehr verdrießlich, ging früher als gewöhnlich aus und besuchte die ***. Aber es gelang mir nicht, Sie dort zu vergessen. Auch war es töricht, daß ich es versucht. Ist ein Frauenzimmer langweilig, kommen Sie mir zurück; ist sie liebenswürdig, noch mehr; es ist keine Rettung, als ich bleibe bei Ihnen. Gegen sieben kam ich nach Hause. Da lag der Brief auf meinem Pulte ...

Den Gedanken des ***, statt einer förmlichen französischen Revolutionsgeschichte französische Revolutionscharaktere zu beschreiben, hatte ich früher selbst schon gehabt. Er hat aber auch darin recht, daß dieses ebensoviel Arbeit als eine vollkommene Geschichte nötig machen würde. Robespierre war die höchste Spitze der Revolution, und da hinaufzukommen, müßte ich auch den ganzen Weg zurücklegen; nur brauchte ich freilich mich nirgends so lange aufzuhalten, als wenn ich die ganze Geschichte beschriebe. Aber *** hat unrecht, wenn er meint, ich wäre zuviel Patriot, nicht unbefangen genug. Ich bin es nur zu sehr, zu sehr Fatalist. Ich würde den Adel entschuldigen, wie es noch keiner getan; aber freilich auch Robespierre. Ich übernähme es, alle rein zu waschen von ihren Sünden, die Aristokraten von ihren Rostflecken, die Demokraten von ihren Blutflecken – nur nicht die, welche Geld genommen, wie Mirabeau. Diesen Schmutz nimmt keine Liebe weg.

Also mit dem Brückenhahn war es gelogen? Da sehen Sie, da sehen Sie, so sind die Liberalen! Mit Feuer und Schwert sollte man das Gesindel ausrotten. Nichts als Lug und Trug und Brand und Mord und Plünderung! So ist es auch vielleicht nicht wahr, was in einigen französischen Zeitungen steht: daß die Sachsenhäuser die Staatsgefangenen zu befreien gesucht, und daß darüber ein Aufruhr stattgefunden: warum schreiben Sie mir denn gar nichts davon? Sie glauben es nicht, welche lächerliche Lügen über Deutschland täglich in den hiesigen Blättern stehen. So las ich heute in der Tribüne: der bekannte Vidocq sei als Professor der Spitzbüberei nach Heidelberg berufen worden, mit dreitausend Gulden Gehalt und dem Titel als Geheimer Hofrat. Soviel ist gewiß, daß Vidocq von der Pariser Polizei seinen ehrenvollen Abschied bekommen, und daß er weggereist, man weiß nicht wohin? Nur geschwind von etwas anderem, sonst komme ich in die Fronderie hinein – und in die Effronterie.

Von Diderots Briefen an seine Freundin (Mademoiselle Volland hieß sie) habe ich Ihnen im vorletzten Winter geschrieben. In diesen Tagen las ich die Fortsetzung. Da wir – Diderot und ich – seitdem zwei Jahre älter geworden, bewunderte ich noch mehr die Jugendlichkeit dieses Mannes. Soviel Punkte, so viel Küsse sind in seinen Briefen. Und die unnachahmliche Kunst, daß man durch die zehen Jahre, die der Briefwechsel dauert, nie merkt, wie alt sie denn eigentlich ist. Anfänglich war ich ein dummer tugendhafter Deutscher und urteilte: weil er mit ihr von gewissen Dingen auf eine gewisse Art spricht, muß sie wohl ihre Jugendzeit hinter sich haben. Als ich aber den dritten Band las, sah ich ein, wie ich mich geirrt. Da spricht Diderot einmal von und mit seiner eigenen Tochter, die sechzehn Jahre alt ist. Nein, das Blut kann einem dabei gefrieren! Über Dinge, in welchen ein Frauenzimmer nicht eher Schülerin werden darf, als bis sie Meisterin geworden, und worin sie nur die Erfahrung belehren soll, wird Diderots Tochter von ihrem Vater wissenschaftlich unterrichtet. Und er erzählt seiner Freundin umständlich und mit väterlichem Entzücken, wie verständig sich seine Tochter dabei benommen. Gut – sagt sie zuletzt – wir wollen keine Vorurteile haben; aber der Anstand, die Übereinkunft, der Schein ist zu achten. Dann spricht sie von Geist und Materie wie Holbach und die andern. Der Satan von sechzehn Jahren erkennt keine Seele an. Sie trägt an dem Tage eine Art Haube, die man damals Kalesche nannte. Sie lächelt, sagt ihrem Vater, wie auf der Straße sie alle jungen Leute schön fänden, und wie ihr das Freude mache. »Ich will lieber vielen ein wenig gefallen, als einem viel.« Der Vater weint vor Freude. Gott! wenn ich eine solche Tochter hätte – es käme auf die Jahreszeit an – sommers würde ich sie in das Wasser, winters in den Kamin werfen. Doch genug moralisiert. » Ich bin des trocknen Tones satt, muß wieder einmal den Teufel zeigen.« Hören Sie. –

Damals kam ein König von Dänemark, blutjung, erst neunzehn Jahre alt, nach Paris. » Les deux rois se sont vus. Ils se sont dit tout plein des choses douces: – Vous êtes monté bien jeune sur le trône! – Sire, vos sujets ont encore été plus heureux que les miens. – Je n'ai point encore eu l'honneur de voir votre famille. – Cela ne se peut pas: vous ne nous restez pas assez de temps, ma famille est si nombreuse; ce sont mes sujets. – Et puis tous les crocodiles qui étaient là-présents se sont mis à pleurer.« – Über den Brutus! der König von Dänemark besuchte Diderot in seiner Wohnung im vierten Stocke und blieb zwei Stunden bei ihm. An dem nämlichen Tage traf er ihn abends bei Holbach. Dieser wußte nicht, daß Diderot den König schon gesehen, und hatte seine heimliche Freude daran, daß Diderot glaube, er spräche mit einem gewöhnlichen Menschen. Und Diderot lachte heimlich über Holbachs Täuschung. Und wie liebenswürdig dieser König sei (er war den größten Teil seines Lebens und starb 1808 wahnsinnig). Und was er Schönes während seines Aufenthalts in Paris gesprochen – über alle diese Erbärmlichkeiten zu sprechen, wird der Philosoph Diderot nicht müde. So sind die Liberalen!

Etwas, was ich früher nicht bemerkt, ist mir beim Lesen von Diderots Briefen plötzlich klar geworden. Es ist zum Erstaunen! Voltaire starb elf Jahre. Diderot fünf vor dem Ausbruche der Französischen Revolution. Andere berühmte Staatsphilosophen des achtzehnten Jahrhunderts haben noch länger herab gelebt. Und keiner dieser Schriftsteller (wenigstens soviel ich mich erinnere) hatte auch nur eine Ahndung von dem Herannahen einer sozialen Umwälzung Frankreichs. Ja man kann nicht einmal sagen, daß sie einen deutlichen systematischen Wunsch darnach ausgesprochen. Sie tadelten zwar viel und stark die bestehende Ordnung der Dinge; aber ihr Eifer war doch mehr gegen die Staatsverwaltung als gegen die Verfassung gerichtet. Rousseaus System machte auf praktische Wirkung gar keinen Anspruch. Voltaire schrieb nie auch nur ein einziges Wort gegen den Adel. Nur von Chamfort ist mir bekannt, daß er aufrührerische Wünsche und Hoffnungen ausgesprochen; aber das geschah sehr spät, nur in vertrauter mündlicher Unterhaltung, und seine Gleichgesinnten selbst haben ihn wie einen tollen Menschen angehört. Der Haß und der Kampf aller jener revolutionären Schriftsteller waren nur gegen die Geistlichkeit gerichtet. Es scheint also, daß die geistliche Macht, wenn auch nicht die stärkste, doch die vorderste und höchste Mauer bildete, welche als Befestigung die Tyrannei umzog, und daß man erst, nachdem diese Mauer durchbrochen war, dahinter Adel und Fürstentum, als Graben und Wall, gewahrte, ausfüllte und stürmte. Waren selbst damals die Philosophen so blind, darf man sich über die Verblendung des Adels und der Fürsten gewiß nicht wundern. Wie wurden die französischen Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts von allen Großen geliebkost! Freilich stellten sie sie nicht höher als gute Schauspieler und schöne Opertänzerinnen; aber sie wären gewiß nicht so freundlich gegen sie gewesen, hätten sie deren Gefährlichkeit eingesehen. – » Quand la raison vient aux hommes?« – wollte Diderots Freundin wissen. » Le lendemain des femmes, et ils attendent toujours ce lendemain« – antwortete er.


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