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Neununddreißigster Brief

 

Paris, Donnerstag, den 3. März 1831

Die Romane des Paul de Kock, die man Ihnen empfohlen und von welchen Sie mir neulich geschrieben, habe ich seitdem kennen gelernt. Ein prächtiger Mann! Trotz den vielen Sorgen und Mühen, die mir jetzt Europa macht, habe ich in vier Tagen, in meinen kurzen Friedensstunden, acht von seinen funfzig Bänden gelesen. Aber das ist genug für uns beide. Nur in Paris kann man Kocks Romane mit Lust lesen, draußen verlieren sie ihren Wert. Mir haben sie viele Freude gemacht. Man lernt darin die Sitten der Pariser Kleinbürger kennen, mit welchen ein Fremder, sowenig als die eingebornen Pariser der höhern Stände selbst, im Leben in gar keine Berührung kommt. Wenn Jouy in seinem Hermite de la Chaussée-d'Antin Szenen aus der Pariser kleinen Welt schildert, scheint er dabei so weit hergekommen, holt er dabei so weit aus, als beschreibe er Sitten und Gebräuche der Hottentotten. Eine ganze Reisebeschreibung schickt er voraus, erzählt, wie er in früher Jugend – Jugend hat keine Tugend – aus Übermut und Zufall in das ferne wilde Land geraten; kurz, gibt sich die größte Mühe, zu erklären und zu entschuldigen, daß er, ein feiner Mann der großen Welt, einige Male ein grobes Bürgerhaus besucht. In Paris sind die Straßen Provinzen, und man lernt viel Geographie und Statistik aus Kocks Romanen. Es gehen an uns vorüber: un riche passementier de la rue St.-Martin – un riche épicier de la rue aux ours – un tabletier de la rue St.-Denis – un parfumeur de la rue St.-Avoie – mit Weibern, Töchtern, Kindermädchen, Kommis. Und ihre Sonntagspartien auf das Land und ihre Hochzeiten, ihre Galanterien, ihre Intrigen. Die Liebe spielt natürlich eine Hauptrolle, wie in allen Romanen. Aber es ist keine deutsche Liebe, keine Liebe unseres Lafontaines, die noch heißer ist als der Kochbrunnen zu Wiesbaden; sondern es ist eine angenehme warme Liebe, welche die natürliche Blutwärme des Herzens nie übersteigt. Monsieur Paul de Kock sagt: C'est une bien jolie chose d'aimer et d'être aimé. – dabei kann man sich nicht verbrennen. Und Philosophie hat er auch, Lebensphilosophie! Zwar gibt er uns nicht wie Goethe im »Wilhelm Meister« Lehrbriefe mit Trüffeln; aber es ist eine recht kräftige Philosophie, bürgerlich zubereitet. Man kann von ihm lernen. So sagt er einmal, die Ehen wären tausendmal besser und schöner, als sie sind, wenn nicht Mann und Frau einen großen Teil des Tages in so nachlässiger Kleidung vor einander erschienen. Das Kind Amor fürchte sich vor baumwollenen Nachtmützen und ungewaschenen Morgenhauben; bei den Weibern nehme mit der Liebe die Sorge für ihren Putz ab. Er gibt uns jungen Leuten die Lehre: Jeunes gens, méfiez-vous de votre maîtresse, lorsque vous la verrez venir en papilottes au rendez-vous que vous lui auriez donné. Kock ist die Wonne der Pariser Nähmädchen; auch ist das Papier ganz weich von den vielen Händen und Tränen, und kein Band in der Leihbibliothek, in dem nicht einige Blätter fehlten. Was der Mann aber auch schlau ist, und wie er sich bei allen beliebt zu machen weiß! Den Liebenden und jungen Leuten überhaupt gibt er immer recht gegen die Eltern und Alten! aber mit den letztern verdirbt er es darum doch nicht. Jungen Mädchen gibt er, was sie verlangen, und wiegt ihnen gut; aber wenn er die Ware abliefert, wickelt er sie in ein Blatt Moral, das die Kinder mit nach Hause nehmen, und woran sich die Mütter erquicken. In Zeichnung komischer Charaktere hat Kock viele Fertigkeit. Welche himmlische Späße! und man kann, ohne Furcht zu ersticken, nach Herzenslust dabei lachen. Denn sie gleichen nicht Scribes und Jouys Epigrammen, bei welchen man nur lächeln darf, weil sie einem leicht wie Fischgräten im Halse steckenbleiben. Kurz, mein Paul de Kock ist ein prächtiger Mann – aber lesen Sie ihn nicht.

 

Samstag, den 5. März

Die armen Polen werden wohl jetzt gestorben sein. Sie sind glücklicher als ich. Dem entsetzlichen Schauplatz näher, wissen Sie schon das Schlimmste. Seit vorgestern habe ich keine Kraft, eine Feder zu führen, ich konnte nicht lesen, nicht denken, ich konnte nicht einmal weinen und beten; nur fluchen konnte ich. Gesiegt haben die Polen schon vier Tage lang, aber entschieden ist noch nichts, und gestern sind gar keine Nachrichten gekommen. Man sprach von einem Kuriere, den der russische Gesandte erhalten; die Russen wären in Warschau eingerückt. Aber wenn das wahr wäre, hätte man schon den Jubel der besoffenen Knechte gehört an den Festtagen ihrer Herren, und die deutschen Blätter von gestern erzählen nichts. Nicht wie Menschen, wie Kriegsgötter selbst haben die Polen gekämpft. Sie jagten singend den Feind, wie Knaben nach Schmetterlingen jagen; sie stürzten sich auf die Kanonen und nahmen sie, wie man Blumen bricht. Männer, Kinder, Greise, drei Geschlechter, drei Zeiten waren in der Schlacht, und die Russen, wie feige Meuchelmörder, schossen aus dem Dickicht der Wälder heraus. Was wird es helfen? Jeder Sieg bringt die Polen ihrem Untergange näher. Sie sind zu schwach, zu arm an Menschen. Der reiche Kaiser Nikolaus haut immer neue Soldaten heraus, wie Steine aus Brüchen, und das geht so immer unerschöpflich fort; was sind einem Despoten die Menschen? Seine Wälder schont er mehr. Nicht Gottes Weisheit, nur die Dummheit des Teufels allein kann noch die Polen retten. Ach! gibt es denn einen Gott? Mein Herz zweifelt noch nicht, aber der Kopf darf einem wohl davon schwach werden, und wenn – was nützt dem vergänglichen Menschen ein ewiger Gott? Wenn Gott sterblich wäre wie der Mensch, dann wäre ihm ein Tag ein Tag, ein Jahr ein Jahr, und der Tod das Ende aller Dinge. Dann würde er rechnen mit der Zeit und mit dem Leben, würde nicht so späte Gerechtigkeit üben und erst den entferntesten Enkeln bezahlen, was ihre Ahnen zu fordern hatten. Die Freiheit kann, sie wird siegen, früher oder später; warum siegt sie nicht gleich? Sie kann siegen, einen Tag nach dem Untergange der Polen; soll einem das Herz nicht darüber brechen? Die Polen im Grabe, fühlen sie es denn, haben sie Freude davon, wenn ihre Kinder glücklich sind? Die Tyrannei wird untergehen, die Kinder der Tyrannei werden gezüchtigt werden für die Verbrechen ihrer Väter; aber die Knochen der begrabenen Könige, haben sie Schmerzen davon? Gibt es einen Gott? heißt das Gerechtigkeit üben? Wir verabscheuen die Menschenfresser, dumme Wilde, die doch nur das Fleisch ihrer Feinde verzehren; aber wenn die ganze Gegenwart, mit Leib und Seele, mit Freude und Glück, mit allen ihren Wünschen und Hoffnungen gemartert, geschlachtet und zerfetzt wird, um damit die Zukunft zu mästen – diese Menschenfresserei ertragen wir! was ist Hoffnung, was Glaube? durch die Augen wird kein Hunger gestillt, gemalte Früchte haben noch keinen satt gemacht ... Ich las etwas in den englischen Blättern – es ist, sich tot darüber zu schämen, wenn man ein Deutscher ist; es ist, sich die Hände im Dunkeln vor die Augen zu halten. Der Londoner Kurier sagte: »Wenn Polen wird besiegt sein, wenn, was die Schlacht verschont, auf dem Schafotte bluten wird, dann werden die deutschen Zeitungen die weise Gerechtigkeit des russischen Kaisers rühmen, und wenn der Tyrann nur einem einzigen Besiegten das armselige Leben schenkt, werden die deutschen Blätter die Milde des hochherzigen Nikolaus bis in die Wolken erheben«. Unter allen Völkern der Erde erwartet man solche feige hündische Kriecherei nur von uns! Ja, es schwebt schon vor meinen Augen, ich lese es und höre es, wie das viehische Federvieh in Berlin von jedem Misthaufen, von jedem Dache herab den großen erhabenen Nikolaus ankräht. Wie hat dieser Despot in seinen Proklamationen gesprochen! Vielleicht glaubt es die Nachwelt, was die Despoten unserer Tage getan; aber was sie geredet, das kann sie nicht glauben. Vielleicht glaubt die Nachwelt, was die alten Völker geduldet, aber was sie angehört und dazu geschwiegen, das kann sie nicht glauben. Das Schwert zerstört bloß den Besitz und mordet den Leib; aber das Wort zerstört das Recht und mordet die Seele. Zu solchen Reden, solches Schweigen! Und wenn die Polen vertilgt sind, dann voran die deutschen Hunde, gegen den Sitz der Freiheit, gegen Frankreich! dann stellt man sie zwischen das Schwert der Franzosen und die Peitsche der Russen, zwischen Tod und Schande!... Ist es nicht schmachvoll für uns, daß der Kaiser von Rußland, Herr über sechzig Millionen Sklaven, keinen derselben knechtisch genug gefunden hat, die Freiheit der Polen zu ermorden als den Diebitsch allein, einen Deutschen?

Ihr heutiger Brief kann mir spätere Nachrichten bringen als die hiesigen, wenn sie schlimm sind; ich meine, das Siegel müßte davon schwarz werden. O! ich kann nicht mehr, ich muß weinen.


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