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Um halb elf Uhr trafen sie in Barstow ein, und Bob äußerte die Absicht, die Nacht im Bahnhofshotel zu verbringen. Nach kurzer Unterredung mit dem Beamten am Fahrkartenschalter gesellte sich Chan wieder zu ihm. »Ich nehme das Zimmer neben dem Ihren. Der nächste Zug nach Eldorado fährt um fünf morgen früh. Den ich benutze. Aber besser es ist, wenn Sie den zweiten Zug abwarten, um elf Uhr zehn. Es nicht gut, wenn wir wie siamesische Zwillinge zurückkehren auf Farm. Bald genug wird Bliß ohnehin ausposaunen unsere Beziehungen.«
»Tun Sie, was Sie für ratsam halten, Charlie! Wenn Sie tapfer genug sind, rechtzeitig zum Fünf-Uhr-Zug aufzustehen, so wünsche ich Ihnen alles Gute!«
Der Kriminalbeamte holte seine Reisetasche aus der Gepäckaufbewahrungsstelle, und sie gingen zum Hotel. Auf seinem Zimmer saß Bob noch eine Weile in tiefe Gedanken versunken. Die Tür vom Nachbarraum her öffnete sich, und auf der Schwelle stand Charlie Chan, eine schimmernde Perlenschnur zwischen den Fingern.
»Nur zur Beruhigung!« grinste er. »Noch ist Vermögen der Phillimores in Sicherheit!« Er legte den Schmuck auf den Tisch, ins helle Lampenlicht.
»Lauter Prachtexemplare!« sagte Bob nickend. »Aber jetzt, Freund Charlie, muß ich offen mit Ihnen reden! Haben Sie die leiseste Ahnung, was auf Maddens Ranch vorgeht?«
»Kürzlich noch ich dachte es. Doch ich mich habe getäuscht.«
»Ich weiß, wie schwer einem Kriminaler dies Eingeständnis ankommt. Also hören Sie: Morgen nachmittag treffe ich wieder auf der Farm ein. Madden nimmt an, ich hätte Draycott gesprochen – und ich müßte wieder lügen und Flausen machen. Schluß nun damit! Wir haben getan, was wir konnten. Wir müssen die Perlen endlich abgeben.«
Chans Mienen verdüsterten sich. »Bitte, sagen Sie nicht das!« flehte er. »Jeden Augenblick …«
»Ich weiß … Sie wollen Aufschub. Ihre Berufsehre ist gekränkt. Ich verstehe das, und es tut mir leid.«
»Nur noch paar Stunden!«
Bob blickte lange in das gütige Chinesengesicht. »Sie vergessen Bliß! Der wird dazwischenplatzen. Wir sind am Ende. Eine letzte Konzession: Ich will Ihnen Zeit lassen bis morgen abend um acht. Vorausgesetzt, daß der Polizeibonze uns keinen Strich durch die Rechnung macht. Sie haben also noch einen ganzen Tag zur Verfügung. Und falls bis acht Uhr nichts geschehen ist, werden wir Madden die Perlen aushändigen. Vor der Abreise können wir dann der zuständigen Amtsperson unsere Geschichte vortragen, und wenn man uns auslacht, so haben wir wenigstens unsere Pflicht getan.«
Finster nahm Chan die Perlen wieder an sich. Bob klopfte ihm auf den prallen Rücken. »Weiß Gott, ich wünsche Ihnen Glück! Gute Nacht, alter Freund!«
Als der junge Mann am nächsten Morgen aufwachte, spielte die Sonne auf den Gleisen vor seinem Fenster. Er fuhr um elf nach Eldorado und ging zu Holleys Büro,
»Endlich wieder da?« fragte der Redakteur. »Ihr gelber Kamerad kam schon in aller Frühe hier durch.«
»Ja, ihn treibt der Ehrgeiz! Sie haben ihn gesehen?«
Holley deutete auf eine Reisetasche in der Ecke. »Er hat seine Kleider dagelassen. In ein oder zwei Tagen will er sie wieder holen.«
»Wahrscheinlich wird er sie mit ins Gefängnis nehmen müssen. Er hat Ihnen doch bestimmt von der Begegnung mit Bliß erzählt? Und außerdem sind Sie sicher auch darüber im. Bilde, daß unsere Reise ziemlich erfolglos verlief?«
»Was Sie feststellen konnten, hat eigentlich meine Theorie von den Erpressern vollauf bestätigt. Und auch hier hat sich etwas ereignet, was meinen Vermutungen recht gibt: Das New Yorker Büro will Madden weitere fünfzigtausend Dollar durch die hiesige Bank überweisen. Ich sprach eben mit dem Direktor. Er kann so viel Bargeld nicht im Handumdrehen beschaffen, und der Millionär hat sich bereit erklärt, bis morgen zu warten.«
Bob überlegte. »Zweifellos hat Ihre Ansicht vieles für sich. Chan freilich meint, Madden scharre Hals über Kopf möglichst viel Geld zur Flucht zusammen …«
»Ich weiß – aber das erklärt Phil Maydorf und den Professor nicht. Nein, ich ziehe meine Auslegung vor.«
»Sei dem, wie ihm wolle! Heute abend bekommt Madden seine Perlen. Vermutlich hat Chan Ihnen das auch berichtet?«
»Ja, ihm bricht das Herz. Aber von Ihrem Standpunkt aus sind Sie im Recht. Es gibt für alles eine Grenze, und die scheint hier erreicht. Immerhin könnte sich bis zum Abend das Blättchen noch wenden. Ich wenigstens hoffe es inständig.«
»Ich auch. Doch jetzt muß ich zurück zur Farm! Haben Sie Miss Wendell heute gesehen?«
»Ich traf sie beim Frühstück im Oasencafé. Sie wollte gerade zu der Petticoat-Mine. Aber nun werde ich Sie zur Ranch kutschieren. Meine Zeitung ist fertig, und ich habe nichts zu versäumen. Kommen Sie!«
Unterwegs begann der Redakteur zu gähnen. »Hab' diese Nacht nur wenig geschlafen«, entschuldigte er sich.
»Zuviel über Jerry Delaney gegrübelt?«
»Nein, es handelt sich um eine Privatangelegenheit. Das bewußte Maddensche Interview hat meinen New Yorker Freund veranlaßt, mir dort einen Posten anzubieten – einen glänzenden Posten.«
»Großartig!« rief Bob. »Freut mich ungeheuer für Sie!«
Ein seltsamer Schimmer glomm in Holleys Augen. »Ja – jetzt öffnet sich das Gefängnistor nach all den vielen Jahren. Von diesem Augenblick habe ich immer geträumt – und jetzt …«
»Nun?«
»Der Gefangene zögert! Er erschrickt bei dem Gedanken, seine ruhige Zelle zu verlassen. Es ist nicht mehr jenes alte New York, das ich kannte. Soll ich mich noch einmal in die große Arena wagen?«
»Unsinn! Natürlich haben Sie das Zeug dazu!«
»Gut, ich will es versuchen! Warum soll ich auch hier draußen versauern? Auf in den Kampf, Torero!«
Er setzte Bob vor der Farm ab. Der junge Mann ging kurz auf sein Zimmer und schlenderte dann zur Veranda hinüber. Ah Kim streifte vorbei. »Etwas Neues?« flüsterte Bob.
»Thorn und Gamble waren den ganzen Tag im großen Wagen unterwegs. Sonst nichts.«
Im Wohnzimmer fand Bob den Millionär. »Nun, glücklich wieder zurück?« fragte Madden. »Und was haben Sie mit Draycott vereinbart? Sie können frei reden – wir sind ungestört.«
Bob nahm Platz. »Alles in Ordnung, Mr. Madden! Ich werde Ihnen die Perlen heute abend um acht Uhr hier aushändigen.«
Der Hausherr runzelte die Stirn. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn es in Eldorado geschähe. Falls aber Draycott darauf besteht, hierherzukommen …«
»Nein – nein! Ich selber, Mr. Madden, werde die Perlen um acht Uhr haben. Wenn Sie wünschen, daß die Übergabe im geheimen geschieht, so läßt sich das einrichten.«
»Gut. Aber wenn Sie etwa wieder Ausflüchte machen sollten, dann …«
»Sie wissen recht gut, wie ich das meine. Seit Sie auf meiner Farm sind, ersinnen Sie immer neue Winkelzüge, um mir die Perlen nicht geben zu müssen. Stimmt das etwa nicht?«
Bob zögerte. Jetzt schien der Augenblick da, um offen zu sein. »Es stimmt«, gab er zu.
»Und Ihre Beweggründe?«
»Ich hatte den Eindruck, Mr. Madden, daß hier irgend etwas nicht im richtigen Lot war. Zunächst: Warum änderten Sie Ihre erste Weisung? In San Franzisko gaben Sie die klare Weisung, die Perlen sollten nach New York gebracht werden. Weshalb entschieden Sie sich plötzlich für Südkalifornien?«
»Weil sich die Pläne meiner Tochter änderten. Sie wollte ursprünglich mit mir nach New York – geht aber nun für den Rest der Saison nach Pasadena. Und ich möchte die Perlen dort im Tresor deponieren, damit sie sie tragen kann, wenn sie Lust hat.«
»Ich lernte Ihre Tochter in Frisko kennen. Eine bezaubernde Erscheinung.«
Madden sah ihn scharf an. »Finden Sie?«
»O ja. Ich nehme an, sie befindet sich noch in Denver?«
»Nein«, – ein kurzes Zaudern – »sie ist jetzt in Los Angeles bei einer befreundeten Familie.«
Bei dieser überraschenden Antwort öffneten sich Bobs Augen weit. »Seit wann denn?«
»Seit vorigen Dienstag. Ein Telegramm meldete mir ihr Kommen. Aus bestimmten Gründen wollte ich sie jedoch nicht hier haben und schickte deshalb Thorn in die Stadt mit dem Auftrag, sie nach Barstow zurück und an den Zug nach Los Angeles zu bringen.«
Bobs Gedanken arbeiteten fieberhaft. Barstow – das konnte ungefähr stimmen mit der Entfernung, die das Auto zurückgelegt hatte. Aber die roten Klümpchen an Rädern und Trittbrett? »Sie haben Nachricht, daß sie wohlbehalten dort eingetroffen ist?«
»Natürlich! Hab' sie ja selber am Mittwoch in Los Angeles gesprochen. Aber jetzt sind Ihre Fragen zur Genüge beantwortet. Nun kommen Sie an die Reihe! Warum dachten Sie, daß hier etwas nicht in Ordnung sei?«
»Was ist aus Phil Maydorf geworden?«
»Aus wem?«
»Aus dem Burschen, der sich hier als McCallum einführte und mich beim Poker um siebenundvierzig Dollar erleichterte?«
»Sie meinen, daß er in Wirklichkeit Maydorf heißt?«
»Ich bin dessen sicher. Ich habe ihn nämlich schon in San Franzisko getroffen. Und bei dieser Gelegenheit benahm er sich, als wolle er die Phillimoreschen Perlen durch irgendeine Gaunerei an sich bringen.«
Maddens Gesicht wurde dunkelrot. »Wahrhaftig? Wollen Sie mich nicht darüber aufklären, wie das zusammenhing?«
»Gewiß!« Und Bob berichtete von Maydorfs verdächtigem Verhalten am Hafen.
»Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt?«
»Ich nahm an, Sie wüßten es. Und das glaube ich noch jetzt!«
»Sie sind wohl nicht bei Sinnen?«
»Das wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber als ich den Kerl nachts hier auftauchen sah, mußte ich natürlich argwöhnisch werden. Und dieses Gefühl der Unsicherheit habe ich auch heute noch. Wollen wir nicht lieber den ursprünglichen Plan einhalten und die Übergabe in New York bewerkstelligen?«
»Nein! Ich wünsche die Perlen hier in Empfang zu nehmen, und dabei bleibt es!«
»Dann sagen Sie mir wenigstens, welche Schwierigkeiten hier vorliegen.«
»Gar keine! Oder wenigstens keine, mit denen ich nicht fertig werden könnte. Ich habe das Kollier gekauft, und ich will es haben! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich prompt zahle. Weiter braucht Sie doch wahrhaftig nichts zu kümmern!«
»Mr. Madden, ich bin nicht blind. Sie stecken in irgendeiner Klemme, und ich würde Ihnen gern helfen.«
Madden wandte sich ab. Seine Verlegenheit war ein deutlicher Beweis für die Richtigkeit von Bobs Behauptung. »Ich werde mich schon selber herausziehen. Hab' schlimmere Situationen bewältigt. Besten Dank für Ihre freundliche Absicht aber machen Sie sich bitte nun kein Kopfzerbrechen mehr! Also um acht – ich verlasse mich darauf! Und jetzt entschuldigen Sie mich wohl – ich möchte ein Weilchen ruhen.«
Bob starrte verblüfft und unsicher hinter ihm drein. War er zu weit gegangen, hatte er dem Millionär zuviel gesagt? Und wie verhielt sich die Sache mit Evelyn Madden? War sie wirklich in Los Angeles? Es klang glaubwürdig, und ihr Vater schien, als er von ihr sprach, völlig aufrichtig. Bob fühlte sich matt und zerschlagen von all den Aufregungen. Er folgte deshalb Maddens Beispiel und schlief am Nachmittag. Als er wieder aufstand, war die Sonne im Untergehen. Im Badezimmer plantschte Gamble. Wer war Gamble? Was wollte er auf Maddens Farm?
Auf der Veranda flüsterte Bob kurz mit Ah Kim und teilte ihm die Neuigkeit betreffs Evelyn Madden mit.
»Thorn und der Professor sind zurück«, erklärte der Chinese. »Sie wieder fuhren die gleiche Entfernung wie neulich – über sechzig Kilometer. Und Bröckchen von rotem Ton liegen im Auto.«
Bei Tisch war Professor Gamble die Liebenswürdigkeit selbst. »Nun, Mr. Eden, wir freuen uns alle, Sie wieder bei uns zu sehen! Haben sich Ihre Geschäfte zur Zufriedenheit abgewickelt?«
»Danke!« lächelte Bob. »Und wie geht's Ihnen?«
Der Professor warf ihm einen raschen Blick zu. »Nun – zu meiner Genugtuung darf ich behaupten, daß ein äußerst befriedigender Tag hinter mir liegt. Ich habe die Ratte gefunden, nach der ich fahndete.«
»Sehr erfreulich für Sie, aber weniger angenehm für die Ratte!« sagte Bob, und das weitere Mahl verlief schweigsam.
Nach Tisch zündete Madden sich eine Zigarre an und ließ sich in seinem Lieblingssessel am Kaminfeuer nieder. Gamble setzte sich mit einer Zeitschrift in die Nähe der Lampe. Bob ging, eine Zigarette rauchend, auf und ab. Thorn nahm sich ein Buch vor. Die große Standuhr schlug sieben, und dann erfüllte eine fast unerträgliche Stille den Raum.
Bob trat an den Radioapparat. »Ich habe nie begreifen können, was diese Dinger für einen Sinn haben, bis ich hierherkam«, sagte er zu Madden. »Jetzt seh' ich ein, daß es Stunden gibt, in denen sogar eine Vorlesung über die Gewohnheiten des Regenwurms begeistern kann.«
Er stellte den Apparat an. Ah Kim trat ein und machte sich an der Tafel zu schaffen. Das scharfe Organ des Ansagers aus Los Angeles knarrte: »Als nächstes: Norma Fitzgerald, zur Zeit am Mason-Theater, wird ein paar Worte an Sie richten und uns dann durch den Vortrag einiger Lieder erfreuen.«
Madden reckte sich, so daß die Asche von seiner Zigarre fiel. Thorn und Gamble blickten interessiert auf.
»Guten Abend, meine Damen und Herren!« ertönte die Stimme der Frau, mit der Bob am Tag vorher gesprochen hatte. »Da bin ich wieder! Dank zunächst meinen vielen Bekannten für die netten Briefe, die ich erhielt! Noch hatte ich nicht Zeit, sie alle zu lesen, aber ich möchte Sadie French, wenn sie zufällig zuhören sollte, gern mitteilen, daß ich sie demnächst in Santa Monica besuchen werde. Ein anderes Schreiben, das mich beglückte, kam von meinem alten Freund Jerry Delaney …«
Bobs Herzschlag setzte aus. Madden beugte sich vor, Thorns Mund öffnete sich, und die Augen des Professors zogen sich zusammen. Ah Kim räumte lautlos den Tisch ab.
»Ich war in Sorge um Jerry«, sprach Norma Fitzgerald weiter, »erfuhr aber nun zu meiner Freude, daß es ihm gut geht. Ich hoffe, ihn bald zu sehen. Jetzt aber zu meinem Programm! Denn in einer halben Stunde muß ich im Theater sein. Hoffentlich, meine Damen und Herren, schenken auch Sie uns gelegentlich die Ehre Ihres Besuches! Wir –«
»So stellen Sie doch endlich den verfluchten Lärmkasten ab!« wetterte Madden. »Diese Radioprogramme bestehen zu neun Zehnteln aus Ankündigungen. Man wird ganz krank davon!«
Bob schaltete ab und wechselte einen verstohlenen Blick mit Ah Kim. Eine Stimme war zu ihnen gedrungen, von weither über kahle braune Berge und öde Sandstrecken – eine Stimme, die kundtat, daß es Jerry Delaney gut gehe. All die scharfsinnigen Theorien stürzten krachend zusammen: Der Mann, den Madden getötet hatte, war nicht Delaney! Wessen Hilfeschrei war es dann gewesen, der an jenem verhängnisvollen Abend über den Farmhof gellte?