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Die drei Herren und das junge Mädchen kehrten ins Haus zurück, aber Maddens Redefluß war versiegt und alle Heiterkeit gewichen.
»Armer Tony!« trauerte der Millionär. »Mir ist's beinahe, als sei mir ein wertvoller Freund gestorben. An die fünf Jähre war er unser Hausgenosse.« Er sann eine Weile vor sich hin.
Das junge Mädchen erhob sich. »Ich muß in die Stadt zurück. Es war sehr nett von Ihnen, Mr. Madden, mich zum Essen dazubehalten, und ich danke Ihnen sehr dafür. Ich darf nun auf Donnerstag rechnen?«
»Ja, wenn nichts dazwischenkommt. Wo kann ich Sie eventuell erreichen?«
»Im Wüstensaumhotel. Aber es darf nichts dazwischenkommen. Ich verlasse mich auf P. J. Maddens Wort!«
Bob Eden näherte sich. »Ich möchte heute gern noch einen kleinen Besuch in der Stadt erledigen. Vielleicht könnten Sie mich mit nach Eldorado kutschieren?«
»Von Herzen gern!« antwortete Paula. »Nur weiß ich nicht, ob ich Sie zurückbringen kann.«
»Wird auch gar nicht verlangt! Ich gehe zu Fuß.«
»Das brauchen Sie nicht«, mischte Madden sich ein. »Ah Kim wird ja wohl ein Auto steuern können – tüchtig und gewandt, wie er ist. Er soll sowieso im Lauf des Nachmittags in die Stadt fahren, um Einkäufe zu machen. Unsere Vorräte gehen zur Neige.« Der Chinese erschien, um abzuräumen. »Ah Kim, du wirst heute abend Mr. Eden mit zurückbringen!«
»Gut so. Ich ihn blingen«, erwiderte Ah Kim gleichgültig.
»Sie können mich zu einer bestimmten Zeit vor dem Hotel abholen«, schlug Eden vor.
Ah Kim blinzelte ihn mürrisch an. »Fünf Uhl vielleicht?«
»Schön; also um fünf!«
»Wenn spätel kommen, Sie nicht fahlen können!« warnte er.
»Ich werde pünktlich sein!«
Bob holte sich einen Mantel aus seinem Zimmer. An der Haustür wartete Madden auf ihn. »Falls Ihr Vater nachmittags telefoniert, werde ich ihm sagen, es sei Ihr Wunsch, die Angelegenheit schleunigst zu erledigen.«
Bob erschrak. Daran hatte er nicht gedacht! Wenn nun sein Vater wider Erwarten ins Büro zurückkehrte – aber nein, das war unwahrscheinlich. Und es wäre zwecklos, sich jetzt beunruhigt zu zeigen und den Plan zu ändern. »Natürlich!« warf er nachlässig hin. »Wenn er mich durchaus selbst sprechen will, so bitten Sie ihn, gegen sechs wieder anzurufen.«
Als er auf den Hof trat, war das junge Mädchen eben dabei, ihr Auto zu wenden. Er öffnete und schloß das Tor und stieg auf dem sandigen Weg zu ihr in den Wagen. Das Auto setzte sich in Fahrt, und Bob konnte ungehindert die seltsame Welt betrachten. Viele Meilen unermeßlichen Sandes, hatte Charlie Chan es genannt. In weiter Ferne leuchtete ein Schimmer von Schönheit: eine kobaltfarbene Wolke über schneebedeckten Bergen. Aber sonst ringsum nur Wüste, grau und grenzenlos, übersät mit Dorngestrüpp. Spukhafte Lichter und Schatten schienen über die endlose Öde zu geistern – und aus der Höhe glühte die Sonne wie eine Flamme, klar und erbarmungslos.
»Nun, wie behagt Ihnen das?« fragte Paula.
Bob zuckte die Achseln. »Eine ausgebrannte Hölle, von der nur Asche übrigblieb.«
»Die Wüste kann man erst nach und nach begreifen und schätzen lernen; niemals auf den ersten Blick. Ich erinnere mich jenes Abends vor langer Zeit, als ich mit meinem Vater in Eldorado aus dem Zug stieg. Ein kleines Mädchen aus einem Vorort von Philadelphia, der alten, gediegenen Stadt der Zivilisation. Da stand ich nun inmitten dieser Wildnis. Und mir wurde ziemlich bange.«
»Armes Kind! Aber jetzt schätzen Sie die Wüste?«
»Nun ja – es liegt ein geheimnisvoller Reiz über diesem sonnenflimmernden Land. Nach und nach geht einem das Verständnis dafür auf. Im Frühling, nach der Regenperiode, möcht' ich Sie mal mitnehmen nach den Palmenquellen. Dort blühen dann die Verbenen wie ein tiefrosa Teppich, und die häßlichsten Bäume stehen in zartestem Flor. Und in den anderen Jahreszeiten bleiben uns immer noch die Wüstennächte mit ihrer märchenhaften Stille.«
»Ja, zum Ausruhen mag es wundervoll sein. Aber dazu bin ich wohl noch nicht müde genug …«
»Wer weiß? Vielleicht kann ich Sie, eh' wir uns trennen, für die altehrwürdige ›Vereinigung der Wüstenfreunde‹ gewinnen. Die Bedingungen der Mitgliedschaft sind streng: eine empfindsame Seele, ein scharfes Auge für die Wunder der Natur – oh, es ist eine erlesene Gesellschaft, davon können Sie überzeugt sein! Krethi und Plethi führen wir nicht in unseren Listen.«
Ein schreiendes Plakat zog ihre Aufmerksamkeit auf sich: ›Halt! Haben Sie schon Ihre Parzelle in Dattel City gekauft?‹ Auf den Stufen eines kleinen Maklerbüros erwachte ein ziemlich schäbiger Jüngling zu fieberhaftem Leben. Er rannte an den Wegrand und reckte beschwörend die Hand hoch. Paula Wendell stoppte.
»Wie wär's denn, meine Herrschaften?« krähte der junge Mann. »Hier bietet sich die große Chance Ihres Daseins! Gehen Sie nicht vorüber! Gestatten Sie mir, Ihnen eine Parzelle in Dattel City zu zeigen – der künftigen Metropole der Wüste.«
Bobs Blick schweifte über die trostlose Öde. »Kein Interesse!« murmelte er ablehnend.
»Nicht? Dann denken Sie mal an die kurzsichtigen Besserwisser, die das von Los Angeles auch gesagt haben. Kein Interesse! – Und. Sie hätten die Grundstücke für ein Butterbrot kaufen können. Schauen Sie in die Zukunft! Können Sie sich vorstellen, wie diese Straße in zehn Jahren aussehen wird?«
»Vermutlich genauso wie heute!«
»Welch bedauernswerte Blindheit!« tadelte der Grundstücksmakler. »Hier wird nicht ewig Wüste sein!« Er deutete auf ein dünnes Bleirohr, das, von Felsen umgeben, eine Art Springbrunnen darzustellen versuchte. Aus seiner Spitze gurgelte ein kraftloses Rinnsal. »Was ist das? Wasser, mein Herr! Wasser, das lebenspendende Naß, das aus dem Sandboden sprudelt. Was das bedeutet? Ich sehe eine große Stadt sich hier erheben, sehe Wolkenkratzer und Kinopaläste, sehe Grundstücke, die mit Unsummen bezahlt werden – Land, das Sie heute und jetzt für lumpige zwei Dollar kaufen können!«
»Meinetwegen – ich will einen Dollar riskieren.«
»Ich wende mich an die junge Dame«, fuhr der geschäftstüchtige Agent fort. »Der Ring an Ihrem Finger spricht von Verlöbnis.« Verdutzt entdeckte Bob an der schlanken Mädchenhand einen großen, in Platin gefaßten Smaragd. »Sie, gnädiges Fräulein, haben einen praktischen Blick. Wie wäre es, wenn Sie beide eine Parzelle kauften und sie – hm – für die künftige Generation aufbewahrten? Reichtum, unermeßlicher Reichtum … Ich habe doch recht, gnädiges Fräulein?«
Paula Wendell war rot geworden. »Vielleicht. Aber Sie sind im Irrtum: Dieser Herr ist nicht mein Bräutigam.«
»Oh!« bedauerte der Jüngling verlegen.
»Ich bin nur auf der Durchreise«, erklärte Bob.
Der Verkäufer raffte sich zu erneutem Angriff auf. »Ach so – ein Fremder. Daher das mangelnde Verständnis. Und nicht Ihr Bräutigam, gnädiges Fräulein?«
Bob amüsierte sich. »Leider nicht!«
»Wirklich schade«, meinte der Makler mit strafendem Blick. »Schade um Sie, wenn ich bedenke, was Ihnen entgeht! Aber vielleicht bekehren Sie sich eines Tages doch noch, und dann vergessen Sie mich nicht! Samstags und sonntags bin ich immer hier. Wir haben auch in Eldorado ein Büro. Die Gelegenheit ist günstig! Jedenfalls freut es mich aufrichtig, Sie kennengelernt zu haben!«
Sie ließen ihn bei seinem kümmerlichen Springquell zurück, eine traurige Gestalt.
»Armer Kerl!« sagte das junge Mädchen, als das Auto weiterrollte.
Bob blieb eine Weile schweigsam und in sich gekehrt. »Ich bin ein wenig aufmerksamer Beobachter, wie?« brummte er schließlich.
»Was meinen Sie?«
»Ihr Ring war mir noch gar nicht aufgefallen. Sie sind also verlobt?«
»Es sieht so aus, nicht wahr?«
»Erzählen Sie mir um Gottes willen nicht, daß Sie einen eingebildeten Filmschauspieler heiraten werden!«
»Sie sollten mich besser kennen.«
»Natürlich. Aber beschreiben Sie mir den Glücklichen! Was macht er?«
»Er liebt mich!«
»Versteht sich!« Bob versank wieder in stummes Brüten.
»Sie sind doch nicht böse?« fragte das Mädchen leise.
»Das nicht – aber sehr gekränkt. Sie scheinen nicht darüber sprechen zu wollen?«
»Nun – gewisse Ereignisse meines Lebens möchte ich lieber für mich behalten – bei so kurzer Bekanntschaft.«
»Wie Sie wünschen!« knurrte Bob verdrießlich. Das Auto fuhr mit Vollgas. »Gnädiges Fräulein, ich kenne die Wüste und ihre Bewohner jetzt seit vierundzwanzig Stunden, aber glauben Sie mir: Es ist ein grausames Land!«
Zwischen den braunen Felsen vor ihnen tauchte, um das kleine rote Bahnhofsgebäude gekauert, Eldorado auf. Als sie vor dem Wüstensaumhotel ausstiegen, fragte Bob: »Wann seh' ich Sie wieder?«
»Vielleicht am Dienstag.«
»Dann bin ich wahrscheinlich schon abgereist. Also früher, bitte!«
»Morgen vormittag komm' ich in Ihre Gegend. Wenn Sie wollen, kann ich Sie abholen.«
»Sehr lieb von Ihnen, aber bis morgen ist eine so lange Zeit! Ich werde heute abend an Sie denken, wenn Sie im Oasencafé beim Imbiß sitzen. Grüßen Sie unser Beefsteak von mir, wenn Sie ihm begegnen! Bis morgen also – darf ich Ihnen nicht einen Wecker kaufen?«
»Ich werd' es schon nicht verschlafen!« lachte sie. »Leben Sie wohl!«
»Auf Wiederschauen! Und Dank für die Fahrt!«
Bob Eden ging zum Bahnhof, wo sich auch das Telegrafenamt befand. In dem kleinen Schalterraum stand Will Holley mit einem Blatt Papier in der Hand. »Guten Tag! Ich gebe eben mein Interview auf. Suchen Sie mich?«
»Das auch. Aber zunächst möchte ich ebenfalls telegrafieren.«
Der Beamte blickte auf. »Das ist nicht möglich, Sir! Mr. Holley hat das Vorrecht.«
»Das macht nichts. Sie können Mr. Edens Telegramm ruhig zwischenschieben.«
Mit gerunzelter Stirn überlegte Bob den Wortlaut. Wie sollte er seinen Vater von der Sachlage in Kenntnis setzen, ohne zugleich alle Welt einzuweihen? Endlich schrieb er:
Käufer da, aber Umstände lassen ratsam erscheinen, ihn ein wenig hu malimali. Mrs. Jordan wird übersetzen. Wenn ich telefonisch mit dir rede, versprich, wertvolles Päckchen sofort zu senden. Dann vergessen. Jede vertrauliche Mitteilung für mich an Will Holley, Eldorado Times. Schöne Wüste hier, aber zu geheimnisvoll für rechtschaffenen Geschäftsmann wie deinen treuen Sohn Bob.
Er übergab dem Beamten das Formular und zahlte. Holley erteilte noch einige Anordnungen hinsichtlich des Interviews, dann kehrten beide nach der Hauptstraße zurück.
»Wir wollen auf die Redaktion gehen«, schlug der Journalist vor. »Jetzt ist niemand dort, und ich bin doch so gespannt, was auf Maddens Ranch vor sich geht.«
In dem kahlen Zeitungsbüro nahm Bob neben dem Schreibtisch Platz. Holley vertauschte den Hut mit einem Augenschirm und setzte sich an seine Schreibmaschine.
»Mein Freund in New York hat mit beiden Händen zugegriffen«, sagte er. »Es war sehr liebenswürdig von Madden, mir das Interview zu gewähren. So wird endlich der Name Will Holley wieder mal in den großen Blättern stehen. Aber wissen Sie, Ihre Andeutung heute früh hat mich überrascht. Und was ist nun eigentlich mit den Perlen? Die sind wohl noch in San Franzisko?«
»Nein. Mein Mitarbeiter hat sie.«
»Ihr – was?«
»Holley, wenn Harry Fladgate sagt, daß man sich auf Sie verlassen könne, so weiß ich, daß es stimmt. Außerdem habe ich das Gefühl, daß wir Ihre Hilfe brauchen werden!« Und nun verbreitete sich Bob über die merkwürdige Persönlichkeit des Dieners Ah Kim.
»Sehr drollig!« lachte Holley. »Aber erzählen Sie weiter. Es scheint doch, daß etwas nicht stimmt, obwohl nach außen alles beruhigend ausschaut.«
»Charlie hatte sofort den Eindruck, daß etwas faul sei. Er spürte es sozusagen. Sie wissen sicher, daß die Chinesen eine äußerst feinfühlige Rasse sind. Ich habe ihn zunächst ausgelacht und war entschlossen, die Perlen abzuliefern. Da erschreckte mich nachts ein grauenvoller Hilfeschrei …«
»Von wem?«
»Von Tony, dem Chinesen-Papagei. Vielleicht war ich ein Idiot – aber ich schob daraufhin nun doch die Übergabe der Perlen hinaus.« Und Bob schilderte weiter, wie er am Morgen eingewilligt habe, bis zwei Uhr zu warten, während Chan mit Tony schwatzen wollte; er schloß mit dem Bericht über den jähen Tod des Vogels.
Holley blinzelte ihm zu. »Seien Sie versichert, daß es mir eine Wonne wäre, wenn sich auf Maddens Ranch ein Kriminaldrama abspielte. Gott weiß, wie wenig hier in der Gegend los ist, und so etwas wäre ein Geschenk des Himmels. Aber mir scheint, Sie haben sich von einem übereifrigen Chinesen nervös machen lassen.«
»Charlie ist absolut ehrlich!«
»Zweifellos. Aber er ist Ostasiate und Kriminalbeamter, und da muß er argwöhnisch sein. Auf Maddens Farm liegt nichts Verdächtiges vor. Und wenn Tony unheimliche Rufe ausstieß, so war das nur aus alter Gewohnheit.«
»Sie haben das also auch schon von ihm gehört?«
»Daß er Zetermordio schrie, freilich nicht. Aber als er hierherkam, wohnte ich bei Doktor Whitcomb und war viel auf Maddens Ranch. Tonys Wortschatz war stets höchst sonderbar. Es schien, als habe er seine Tage unter Verbrechern verbracht.«
»Und sein plötzliches Ende?«
»Du lieber Gott – das Tier war steinalt. Selbst ein Papagei lebt nicht ewig. Ein merkwürdiges Zusammentreffen allerdings – aber ich fürchte, Ihr Vater wird nicht sehr entzückt sein über Ihre Skrupel. Sie kennen Maddens Jähzorn. Er wird Sie hinauswerfen und den Handel annullieren. Und Sie werden daheim nichts anderes vorbringen können, als daß Sie den Kauf nicht perfekt gemacht haben, weil ein alter Papagei starb.«
»Aber der fehlende Revolver an der Wand?«
»Etwas Seltsames läßt sich überall finden, wenn man danach sucht. Vielleicht hat Madden die Waffe verschenkt oder auf sein Zimmer genommen!«
Bob Eden lehnte sich zurück. »Wahrscheinlich haben Sie recht. Ja, je mehr ich jetzt darüber nachdenke, um so törichter komme ich mir vor.« Durch ein Fenster sah er Charlie Chans Auto vor dem Kolonialwarenladen nebenan vorfahren. Er ging zur Tür. »Ah Kim!« rief er.
Der korpulente Chinese betrat wortlos das Büro.
»Charlie, dies ist mein Freund, Redakteur Will Holley. Und hier also haben wir Mr. Chan, Kriminalbeamter aus Honolulu.«
Als Bob diesen Namen und Titel nannte, zogen sich Chans Brauen zusammen. »Sehr erfreut!« sagte er kühl.
»Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen!« versicherte Bob. »Freund Holley ist zuverlässig. Ich hab' ihm alles erzählt.«
»Ich allein bin in Fremde«, gab Chan zurück. »Vielleicht ich würde mich lieber auf niemand verlassen. Aber das natürlich plumpe Ungeschliffenheit. Mr. Holley mag mir verzeihen!«
»Es ist ja auch einerlei«, bemerkte Bob, »denn, Charlie, ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß wir Gespenster sahen. Sie werden nachgerade selber zugeben müssen, daß wir uns wie ein paar alte Weiber benommen haben.«
Ein Ausdruck tief gekränkter Würde erschien auf dem gelben Vollmondgesicht. »Erlauben Sie altem Weib, noch ein bißchen mehr Unsinn zu faseln! Vor paar Stunden ist Papagei von seiner Stange in die Ewigkeit gesunken. Tot, wie Cäsar.«
»Nun, und?« murrte Bob gelangweilt. »Er starb an Altersschwäche. Wir wollen darüber nicht streiten, Charlie …«
»Wer streitet denn? Ein friedliches altes Weib bleibt ruhig. Aber dieses Weib kommt jetzt mit Tatsachen, mit unwiderlegbaren Tatsachen.« Bedachtsam breitete Chan ein weißes Blatt auf Holleys Schreibtisch, zog eine Tüte aus der Tasche und schüttete ihren Inhalt auf das Papier. »Hier ein Teil des Futters aus Tonys Freßnapf neben seiner Stange. Untersuchen Sie gütigst, was Sie da sehen!«
»Hanfsamen – die übliche Papageiennahrung.«
»Sehr wohl, Hanfsamen. Aber das andere – das feine grauweiße Pulver dazwischen …«
»Gerechter Himmel!« rief Holley bestürzt.
»Der Apotheker drüben an der Ecke hat sorgfältige Prüfung vorgenommen. Und er sagt, er hat viel Arsenik an die Farmer verkauft, als Rattengift. Tötet auch Papageien.«
Bob und Holley sahen einander verblüfft an.
»Der arme Tony war sehr krank, ehe er antrat seine lange Reise«, fuhr Chan fort. »Sehr schweigsam und leidend. Ich schon bin manchem Mörder auf Fährte gewesen, aber ich mußte kommen in dies seltsame Land, um Papageienmord zu entdecken. Man hat mir ja auch immer von den Wundern Amerikas erzählt!«
»Man hat ihn vergiftet! Aber warum?«
»Ein sehr wahres Sprichwort sagt: Die Toten reden nicht! Tony sprach Chinesisch wie ich. Tony und ich werden nun wohl nie wieder miteinander sprechen.«
Bob schüttelte den Kopf. »Mir brummt der Schädel. Was mag das alles zu bedeuten haben?«
»Wie früher ich sagte, ist Papagei nicht imstande, eigene Bemerkungen zu machen. Er wiederholt. Wenn Tony durch die Nacht schreit: ›Hilfe, Mörder, tu den Revolver weg!‹, so kann man es selbst einem alten Weib verzeihen, wenn es annimmt, daß der Papagei kürzlich Gehörtes nachschwatzt. Er plappert es, weil ihm wieder die Worte ins Gedächtnis gerufen werden … Wodurch?«
»Weiter, Charlie!« drängte Bob.
»… durch ein Ereignis, das dem Schrei voranging. Was für ein Ereignis? Vielleicht plötzliches Aufflammen von Licht im Schlafzimmer des Sekretärs Thorn.«
»Was wissen Sie sonst noch, Charlie?«
»Heute früh ich versehe meine Altweiberpflichten in diesem Schlafzimmer. Ich sehe, daß ein Bild kürzlich umgehängt wurde. Ich es nehme von Wand – finde darunter kleines Loch, das nur von Geschoß herrühren kann.«
Bob hielt den Atem an. »Von einem Geschoß?«
»Ganz recht! Von Geschoß, das tief in Wand drang – das abirrte und keinen Ruheplatz fand im Körper des Unglücklichen, den Tony hörte um Hilfe schreien.«
»Aha«, erinnerte sich der Redakteur, »Bill Harts Revolver, der aus der Sammlung entfernt ist. Wir müssen Mr. Chan davon erzählen.«
»Wird nicht nötig sein! Ich schon gestern abend habe Fehlen der Waffe bemerkt. Und das hier lag im Papierkorb!« Chan zog eine kleine, zerknitterte Karte hervor, mit dem Schreibmaschinenvermerk: ›Geschenk von William S. Hart‹. »Den ganzen Tag schon ich suche nach verschwundenem Revolver. Einstweilen vergeblich.«
Holley erhob sich und schüttelte dem Chinesen herzlich die Hand. »Mr. Chan, ich spreche Ihnen meine allergrößte Hochachtung aus! Sie sind ein Meister Ihres Fachs. Und Mr. Eden wird der gleichen Ansicht sein.«
Charlie strahlte. »Danke bestens! Dann also ist alles abgemacht? Wir liefern die Perlen heute abend nicht ab?«
»Keinesfalls!« stimmte Bob zu. »Wir sind auf irgendeiner Spur – der Himmel mag wissen, was wir entdecken! Von jetzt ab haben Sie die Führung, Charlie. Ich richte mich nach Ihnen.«
Chan verstaute das Beweismaterial über den toten Papagei wieder in seiner Tasche. »Armer Tony – noch heute früh er mir hat so viel erzählt. Aber jetzt ich habe noch beim Kaufmann zu tun. Sie mich erwarten vor Hoteltür in fünfzehn Minuten.«
Als er gegangen war, schwiegen Holley und Bob eine Weile.
»Da hab' ich doch Unrecht gehabt«, meinte der Redakteur nachdenklich. »Irgend etwas geht auf Maddens Ranch vor. Aber halten Sie sich nur an Ihren chinesischen Kameraden! Der wird es schon schaffen. Und wenn Sie Hilfe brauchen, dann vergessen Sie Will Holley nicht.«
»Bestimmt nicht!« versicherte Bob. »Einstweilen also Gott befohlen! Vielleicht sehe ich Sie morgen.«
Er ging hinaus und wartete vor dem Wüstensaumhotel. Es war Samstag abend. Eldorado wimmelte von Farmern, ausgemergelten, bronzefarbenen Männern in Khaki-Reithosen und bunten Hemden, einfachen Leuten, denen dieses Nest die Großstadt bedeutete. Durch das Fenster eines Raumes, der Barbierladen und Spielsaal zugleich war, bemerkte er eine Gruppe dieser Männer beim Würfeln. Andere lehnten an den Baumwollbäumen und schwätzten über die Ernte und über die Politik.
Charlie Chans Auto bog um die Straßenecke. Beim Einsteigen sah Eden den scharfen Blick des Chinesen auf die Hoteltür gerichtet: Ein Fremder trat heraus, der sich unter den einfach gekleideten Farmern recht seltsam ausnahm. Er trug einen zugeknöpften Mantel und einen Filzhut, der tief über die von einer dunklen Brille verdeckten Augen gezogen war und sein Gesicht nicht erkennen ließ.
»Nanu, wen haben wir denn da?« staunte Bob. »Es scheint, als ob das Killarney-Hotel in Frisko einen interessanten Gast verloren habe. Vielleicht für uns ein Gewinn – wer kann es ahnen?«
Sie hatten die kurze gepflasterte Straße hinter sich, und etwas wie Befriedigung prägte sich in Charlies Mienen aus. »Viel Arbeit noch zu leisten, tiefe Geheimnisse zu lösen. Wie schön, sich so fern der Heimat in Gesellschaft eines alten Freundes zu wissen!«
»Eines alten Freundes?«
Der Chinese lächelte. »Ein Auto wie dieses wartet daheim auf mich! In diesem Wagen ich mich fühle ganz, als wär' ich auf vertrauten Straßen von Honolulu.«
Sie fuhren die felsige Höhe hinauf, und vor ihnen leuchtete der sanfte Glanz des Sonnenuntergangs. Ohne des holprigen Wegs zu achten, gab Chan mehr Gas.
»Heda, Charlie!« rief Bob, der mit dem Kopf hart gegen die Decke stieß. »Warum das Teufelstempo?«
»Verzeihung!« Der Chinese mäßigte die Geschwindigkeit. »Das nicht gut so, fürchte ich. Einen Augenblick denke ich, vielleicht dies kleine Auto könnte das Heimweh aus meinem Herzen stoßen!«