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Neununddreißigstes Kapitel. Gerettet.

»Jetzt, jetzt sind's zwei Schläge nacheinander!« rief Lenz. »Ich will ein Zeichen geben, ich lasse die Uhren zusammenspielen.«

Er brachte die beiden Musikwerke in Gang; aber nun merkte er, daß ihn das entsetzliche Tongewirre fast sinnlos machte; noch in der Todesangst war ihm der Mißklang unerträglich. Er stellte die Musikwerke, und als ob ihm eine Herzader risse, so war's, da er merkte, daß beim ungeschickten Einhalt im großen Werke etwas riß.

Wieder horchten sie mit angehaltenem Atem, man vernahm nichts mehr.

»Ihr habt zu früh gejubelt,« brachte Petrowitsch kaum vor Zähneklappern hervor; »noch sind wir dem Tode näher als dem Leben.«

Es klopfte wieder von oben. »Bum! bum!« ahmte das Kind nach, und Petrowitsch klagte, daß das Hämmern über dem Haupte ihn töte, ihm gehe jeder Schlag durchs Hirn.

Lenz mußte die Musikwerke nicht gut gestellt haben, denn plötzlich begann das eine die Melodie des großen Halleluja, und Lenz sang laut: »Halleluja! Lobt Gott den Herrn!« Annele sang mit und hielt dabei die eine Hand auf der Schulter des Lenz und die andere auf dem Kopfe des Kindes. Und von oben rief jetzt eine Stimme: »Halleluja! Halleluja!«

»Mein Pilgrim! mein Herzbruder!« schrie Lenz. Das war jener markerschütternde Schrei, den er schon einmal gethan hatte.

Die Kammerthür wurde mit einem Beil zerschlagen.

»Seid ihr alle noch am Leben?« rief Pilgrim.

»Gott Lob und Dank, alle!«

Pilgrim umarmte zuerst den Petrowitsch, den er für Lenz hielt, und Petrowitsch küßte ihn nach russischer Manier auf beide Backen.

Gleich nach Pilgrim kam der Techniker, ihm folgten Faller, Don Bastian und die Kameraden vom Liederkranz.

»Ist mein Wilhelm gesund?« fragte Lenz.

»Jawohl, er ist bei mir im Hause,« sagte Don Bastian.

Jetzt wurde draußen der Schnee von den Fenstern weggeschaufelt.

»Sonne, Sonne, du bist da!« rief Annele und sank in die Kniee.

Das Musikwerk spielte fort: Halleluja, der Duzlehrer stimmte ein und der ganze Liederkranz sang mit, volltönend und stark. Und es war, als ob die Schneemassen von dem mächtigen Gesang niederrollten, denn jetzt wälzte sich die ganze Lawine von der vorderen Seite des Hauses thalwärts.

Das Haus stand frei.

Die Stubenthür war offen geblieben, und als man nun die Fenster öffnete, schoß der Rabe über das Haupt des Kindes hinweg, hinaus ins Freie.

»Rab' fort!« rief das Kind. Draußen aber harrte des Raben ein anderer und flog mit ihm, bald sich höher, bald sich tiefer schwingend, hinüber über das Thal.

Die erste Frau, die bei Annele eingetreten, war die Krämerin Ernestine, sie hatte das Unglück vernommen und noch dazu den Tod der Löwenwirtin und war Annele zu Hilfe geeilt. Sie kniete neben ihr. Lenz lehnte an der Brust Pilgrims.

Petrowitsch wollte schon grimmig werden, daß sich niemand um ihn kümmerte, als noch zu rechter Zeit der Techniker auf ihn zukam, ihm Glück wünschte zu seiner Errettung und sich eifrig um ihn bemühte. Das ist gut. Das ist doch der Vornehmste von der ganzen Bande. Auch Pilgrim that freundlich und sagte laut: »Bitt' um Verzeihung für die Umarmung. Jetzt gebt mir aber Eure Hand.«

Petrowitsch reichte sie ihm dar.

»Ich hab eine Schrift deiner Mutter im Schnee gefunden,« sagte Faller mit heiserer Stimme. »Alles andre ist verwischt, aber da steht noch: Dies Pflänzchen ist genennet Edelweiß. Marie Lenzin.«

»Das Blatt gehört mir!« rief Annele, sich aufrichtend. Alle sahen sie staunend an, und Ernestine schrie: »Annele, um Gottes willen, was hast du auf dem Kopf? Du hast ja weiße Haare!«

Annele ging vor den Spiegel, sie stieß einen Jammerruf aus und schlug die Hände überm Kopf zusammen.

»Eine alte Frau! Eine alte Frau!« jammerte sie und sank an die Brust des Lenz. Nach einer Weile erhob sie sich schluchzend, trocknete die Thränen und sagte Lenz leise ins Ohr: »Das ist mein Edelweiß, das mir unterm Schnee gewachsen ist.«


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