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Siebenunddreißigstes Kapitel. Eine Phalanx.

Um dieselbe Stunde, es war Mittag, ging Faller nach dem Hause des Lenz, er wollte ihm sagen, daß er nun seiner Bürgschaft entledigt sei. Es regnete und schneite durcheinander, und ein heftiger Wind peitschte Regen und Schnee, daß man nicht durchschauen konnte. Faller schritt, den Blick zur Erde geheftet, immer vorwärts. Plötzlich schaute er auf und rieb sich die Augen: Wo bist du denn? Bist du verirrt? Wo ist das Haus des Lenz? Er drehte sich im Kreise umher und konnte sich nicht zurechtfinden. Halt! Da sind die Tannen, die stehen beim Hause des Lenz; aber das Haus! das Haus! In der Angst war Faller ausgeglitten und in eine Schneewehe gesunken, und je mehr er sich herausarbeiten wollte, um so tiefer sank er ein. Er betete, er schrie um Hilfe, niemand hörte ihn. Er arbeitete sich glücklich nach einem Baume durch, aber er konnte nicht weiter, er hielt sich an den Aesten; da kam eine frische Lawine den Berg herabgerollt, sie nahm den Schnee unter ihm mit, er war frei. In der Höhlung, welche die Lawine gemacht hatte, eilte er zu Thal. Schon blinkten ihm Lichter entgegen, es war Nacht geworden, und mit einem Zetergeschrei, das die Schlafenden erweckt hätte, schrie Faller durch das Dorf: »Hilfe! Hilfe!«

Alles eilte ans Fenster, auf die Straße, und Faller erklärte, daß das Haus des Lenz auf der Morgenhalde verschüttet sei.

Faller eilte in die Kirche und läutete Sturm. Es kamen nur wenige aus der Ferne, das Wetter war zu unbarmherzig, und der Wind trug das Sturmgeläute nicht weit.

Pilgrim und der Techniker waren die ersten, die auf dem Platze bei der Kirche waren.

Alles klagte über das entsetzliche Unglück, jetzt in der Nacht, bei diesem Sturm. Pilgrim konnte kein Wort reden, er war wie erstarrt.

Der Techniker bewährte sich als umsichtiger und tapferer junger Mann. »Leitern und Stricke so viel als möglich herbei und Schaufeln und Hacken!« rief er.

Fackeln wurden angezündet, die der Sturm mächtig anblies.

Die Frauen kamen herbei, sie hatten vor dem Regen und Schnee ihre Oberkleider über den Kopf gestülpt, und es war ein grausiger Anblick, wie die gespensterhaft verhüllten Frauen beim Fackelschein an ihren Männern und Söhnen zerrten und sie nicht ziehen lassen wollten, damit sie nicht auch im Schnee versinken.

Der Techniker band sich das Ende eines langen Strickes um den Leib und befahl – es ergab sich von selbst, daß er befahl – daß je sechs Männer in ziemlich weiten Zwischenräumen sich zusammenbinden sollten, damit man nicht einander zu suchen habe und damit man sich gegenseitig heraushelfen könne.

Pilgrim band sich zum Techniker in die Kette, und nach ihm wollte gleich Don Bastian eintreten, aber der Techniker bat ihn, daß er eine besondere Kette führe.

Man nahm dürres Holz mit zum Feueranzünden, und mit Hacken, Schaufeln und Leitern ging es bergan. Etwa fünfzig Schritte vom Hause – man konnte nicht näher heran – wurde an einer gedeckten Stelle ein Raum freigeschaufelt und ein Feuer angezündet. Man legte die Leitern auf den Schneeberg, sie sanken ein, sobald ein Mann sich darauf stellte, dazu verlöschte der Wind die Fackeln, da und dort schrie einer: »Ich versinke!« Es wurden allerlei Versuche gemacht. »In der Nacht ist nicht zu helfen!« hieß es zuletzt. Man zog heimwärts. Bei dem Feuer wurde eine Wache gelassen. Faller erbot sich sogleich, dabei zu bleiben, auch Pilgrim wollte ausharren; aber der Techniker sah, wie ihm die Zähne klapperten, und er zog ihn mit heimwärts, tröstend, daß, wenn die Verschütteten noch am Leben, ihnen am Tage die Hilfe noch zeitig genug käme.

Im Dorfe wurde es kund, daß auch Petrowitsch verschüttet sein müsse, er sei am Morgen nach dem Hause des Lenz gegangen und nicht wiedergekehrt; sein Spielkamerad, der Ibrahim, war beim Sturmläuten mit dem Spiel Karten in der Hand auf die Straße gekommen und sagte immer: »Ich warte auf den Petrowitsch.« Pilgrim sagte zu seinem neuen Freunde, dem Techniker: »Entsetzlich, wenn Petrowitsch endlich Hilfe bringen wollte und dabei zu Grunde ging!«

Pilgrim machte sich schwere Vorwürfe, daß er den ganzen Tag in kindischem Spiel verbracht; es hatte ihn immer wie eine Ahnung nach der Morgenhalde gezogen, es muß dort ein Unglück geschehen, er hatte sich's wieder ausgeredet und war wohlgemut mit seinem Paten. Jetzt saß er, bis ihm die Augen zusanken, am Bett des Kindes, das schlief ruhig und ahnte nicht, welch ein Schicksal diese Nacht ihm bringen konnte, ja, vielleicht schon gebracht hatte.

Faller blieb auf dem Posten wie ein Soldat im Feld, und er hatte einen Kriegskameraden, der mit ihm aushielt, es war ein Gestellmacher, der ehemals bei den Pionieren gestanden. Sie hielten Rat, wie die Schneefestung zu nehmen sei, sie fanden aber kein Mittel. Faller schürte indes das Feuer am Berge voll Zorn, daß er derweil nichts helfen konnte.

Ein Fremder gesellte sich zu denen am Wachtfeuer, es war ein Bote aus der Stadt, der Annele zu ihrer Mutter holen sollte, die im Sterben lag.

»Hol sie heraus!« sagte Faller in bitterem Grimm, »dort steckt sie.« Er erzählte, was geschehen sei, und der Bote ging durch die Nacht heimwärts.

Faller wagte sich auf einem Umwege den ausgerodeten Wald hinan. Wenn er nur zu den Tannen am Hause kommen konnte, dann war die Hilfe näher. In Gemeinschaft mit dem Gestellmacher rollte er viele abgezweigte Stämme, die am Berge lagen, hinab nach den Tannen, mehrere rollten darüber weg und blieben aufrecht im Schnee, während einer sich längs vom Berge aus auf die Tannen legte.

»O weh!« sagte der Kamerad, »die Stämme, die wir da hinuntergerollt haben, werden das Dach zusammendrücken und die Verschütteten zerquetschen.«

»Ich bin der dummste Kerl von der Welt, der dummste, der einfältigste. Jetzt bin ich's, der dich umgebracht hat, du guter Lenz!« jammerte Faller.

Nach einer Weile rutschte er aber doch hinaus nach der Brücke, die der eine Stamm gebildet hatte, und es gelang ihm, mehrere Stämme, die sich hier zusammengeschoben hatten, mit den Fackeln anzuzünden.

»Die werden den Schnee schmelzen!« rief er frohlockend.

»Ja, und jetzt kann das Strohdach anbrennen,« erwiderte der Kamerad.

Faller stand in stummer Verzweiflung. Er kugelte große Schneeballen und rollte sie in das Feuer, das Feuer erlosch eben, als der Tag anbrach.

Es war ein heller, fast frühlingswarmer Tag. Die Sonne schien warm auf die Morgenhalde, sie suchte das Haus, das sie schon so lange grüßte, sie fand es nicht; sie suchte den Meister, der still und emsig am Montagmorgen dort am Fenster arbeitete, wie einst sein Vater, wie einst sein Großvater; sie fand nicht Haus, nicht Meister, und gar seltsam blinzelten die Sonnenstrahlen und zitterten hin und her, wie wenn sie sich verirrt hätten; der tückische Schnee legte sich breit hin: thue mir was, wenn du kannst! Die Sonne schickte feurigere Strahlen nach gegen die ersten Feiglinge, die zurückwichen; es hilft nichts, eine Feste will tagelang belagert sein.

Die Kameraden alle waren da, der Techniker ihnen voran, und auch vom oberen Dorf und aus andern Gemeinden waren hilfbereite Menschen genug.

Die von Faller hinabgerollten Stämme boten nun doch einen festen Anhalt, es wurde bergmännisch ein Gang von unten angelegt, und auch von oben wurde fleißig und nach festem Plan gearbeitet.

Ein einzelner Rabe flog immer unter den Schaufelnden auf und nieder und ließ sich nicht verscheuchen. Die Kameraden in der Luft riefen ihn an, er kümmerte sich nichts darum und schaute die Schaufelnden an, wie wenn er ihnen was zu sagen hätte.


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