Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreißigstes Kapitel. Es taut auf, auch bei Petrowitsch, und es gefriert wieder.

»Ich weiß, was Sie wollen,« sagte Petrowitsch zu dem eintretenden Doktor, »aber setzen Sie sich.« Er rückte ihm einen Stuhl an den Ofen, wo ein offenes Kaminfeuer hell loderte, dahinter aber ein wohlgeheizter Ofen war.

»Nun, was wünsche ich, Herr Prophet?« fragte der Doktor und nahm all seinen Humor zusammen.

»Geld, Geld wollen Sie, für meinen Neffen.«

»Sie sind nur ein halber Prophet, ich wünsche auch ein gutes Herz.«

»Geld, Geld ist doch die Hauptsache; ich will aber nur kurz und rund sagen: ich gehöre nicht zu denen, die einen Betrunkenen am Wege mitleidig aufheben, und wenn er sich auch ein Bein gebrochen hat, er hat's selbst verschuldet. Das sage ich Ihnen, weil Sie einer der wenigen sind, die ich respektiere.«

»Danke für die Ehre; aber ein rechtschaffener Arzt muß verschuldete und unverschuldete Wunden heilen.«

»Sie sind ein Doktor und sind doch auch krank, wie unsere ganze Gegend, wie unser ganzes Geschlecht jetzt.«

Der Doktor äußerte seine Verwunderung, ihn ganz neu kennen zu lernen; er habe bis jetzt geglaubt, seine Menschverachtung sei bloß Bequemlichkeit, nun sehe er, daß sie auf Grundsätze gestellt sei.

»Wollen Sie eine Stunde bei mir bleiben? Es ist heute mein siebzigster Geburtstag.«

»Gratuliere.«

»Danke.«

Petrowitsch schickte die Magd zu Ibrahim, sie solle sagen, daß er erst in einer Stunde zum Spiel käme, dann setzte er sich wieder zum Doktor und sagte: »Ich hin heute gelaunt, einmal auszupacken. Ich mache mir nichts daraus, was die Welt von mir denkt; das Scheit Holz, das ich da ins Feuer lege, kann sich nicht weniger darum kümmern, wer es verbrennt.«

»Mich würde es aber sehr interessieren, wenn Sie mir erzählten, wie Sie zu so hartem Holze gewachsen sind.«

Petrowitsch lachte, und der Doktor, obgleich er wußte, wie peinlich Lenz auf ihn warte, hoffte doch noch durch tieferes Erkennen des knorrigen Alten ihn zu biegen. Sein Plan war, daß Petrowitsch eine namhafte Summe vorschieße, damit Lenz sofort als Teilhaber in die Fabrik eintrete.

»Sie waren acht Jahre alt, als ich in die Fremde zog,« begann Petrowitsch, »und wissen also nichts von mir.«

»Doch, doch, man erzählte viele lose Streiche vom –«

»Vom Geißhirtle, nicht wahr? Gut, da liegt eine Hauptsache darin. Ich bin zweiundvierzig Jahr' in der Fremde gewesen, zu Wasser und zu Land, in allen Hitz- und Kältegraden, die der Mensch und der Hund aushalten kann, und das Wort ist mir auch nachgegangen wie ein Hund, und ich war dumm genug, ihm nicht einen Tritt zu geben für immer.

»Wir waren unser drei Brüder, sonst keine Geschwister. Unser Vater war stolz, wenn wir so daher gekommen sind, aber damals hat man den Kindern noch nicht so viel gute Worte gegeben wie heutigen Tages, und das war besser; das hat Kraft gegeben, und ein einzig Wort, ein gutes oder böses, hat mehr gegolten als jetzt hundert. Mein Bruder Lorenz, man hat ihn auch nur Lenz geheißen bei unserm Familiennamen, der Vater von dem jetzigen Lenz, war der älteste, ich der jüngste, der zwischen uns – unser Mathes – das war ein wunderschöner Mensch; er ist von dem großen Menschenmetzger Napoleon mit fortgenommen worden und hat in Spanien den Tod gefunden. Ich bin auf dem Schlachtfeld gewesen, wo er gefallen ist. Es ist ein großer Berg, da unter dem Berg sollen lauter Soldaten drunter liegen, da findet man keinen Bruder heraus. Doch wozu erzähl' ich das? Nicht lang nachdem unser Mathes zu den Soldaten gekommen, ist mein Bruder Lorenz in die Fremde, in die Schweiz, nur auf ein Vierteljahr, und hat mich mitgenommen. Wer war glücklicher als ich? Mein Bruder war ein ruhiger, bedachtsamer Mann, das kann man nicht anders sagen. Er ist immer gewesen wie eine gut gehende Uhr, ordentlich und streng, grausam streng. Ich bin ein wilder Bub gewesen, unbändig, zu gar nichts nutz, und hinter dem Werktisch sitzen, dazu hab' ich eben gar kein Geschick. Was thut nun mein Bruder? Er bringt mich kurz nach Lichtmeß auf den Bubenmarkt bei St. Gallen. Da war damals noch alle Jahre Bubenmarkt; da kommen die großen Schweizer Bauern und holen sich Hirtenbuben aus dem Schwabenland.

»Wie ich nun da bei meinem Bruder auf dem Markt stehe, kommt ein vierschrötiger Appenzeller daher, stellt sich mit gespreizten Beinen vor uns hin und fragt meinen Bruder: was kostet der Bua?

»Ich gebe keck zur Antwort: eine Klafter Schweizer Verstand, sechs Schuh breit und sechs Schuh hoch.

»Der dicke Appenzeller lacht und sagt zu meinem Bruder: Der Bua ist nicht dumm; das gefällt mir. – Ich gebe auf alles Antwort, so gut ich's eben vermag.

»Mein Bruder und der Appenzeller werden handelseins, und die ganze Lehre, die mir mein Bruder beim Abschied gegeben hat, war: Wenn du vor dem Winter heim kommst, kriegst du Schläge.

»Ich bin nun einen ganzen Sommer lang Geißhirt gewesen. Es war eigentlich ein lustiges Leben, und ich habe viel gesungen, aber manchmal hat mir's doch wie vom Himmel herunter gerufen: was kostet der Bua? Und ich bin mir verkauft vorgekommen wie Joseph in Aegypten; mich hat auch mein Bruder verkauft, aber ich werde nicht König.

»Zum Winter bin ich wieder heim; ich hab's nicht gut gehabt daheim, ich hab' aber auch nicht gut gethan. Im Frühling sage ich zu meinem Vater: Gebt mir für hundert Gulden Uhren, ich will mit auf die Handelschaft gehen. Hundert Ohrfeigen kannst du kriegen, sagt mein Bruder Lorenz darauf; er hat damals schon das ganze Geschäft in der Hand gehabt und das ganze Hauswesen; der Vater war krank, und die Mutter hat es nicht gewagt, ein Wort drein zu reden. Damals haben die Weiber noch nicht so viel gegolten wie heutigen Tages, und ich meine, sie haben's besser dabei gehabt und ihre Männer auch. Ich mach' nun, daß mich ein Händler mitnimmt; ich trag' ihm die Uhren. Ich hab' mich fast krumm schleppen müssen und hab' Hunger dabei gelitten zum Erbarmen, und kann meinem Peiniger nicht davon. Ich bin ärger angespannt als ein Pferd in Riemen, und das läßt man doch nicht von Kräften kommen, weil's was wert ist. Ich habe oftmals stehlen und davon laufen wollen, aber dann habe ich mir's wieder als Buße für meine bösen Gedanken ausgelegt, bei meinem Peiniger zu bleiben. Es hat alles nichts geschadet, ich bin gesund und ehrlich geblieben. Eines muß ich gleich hier erzählen, weil es später wieder kommt; es hat mir viel zu schaffen gemacht. Ich bin mit dem Anton Striegler in Spanien; wir sind in einem großen Dorf, sechs Stunden von Valencia, es war ein schöner Sommermittag, wir sitzen vor der Posada – so heißt man in Spanien das Wirtshaus – und plaudern miteinander. Da geht ein schöner Bursch vorüber mit großen schwarzen Augen, bleibt plötzlich stehen und horcht uns zu und fuchtelt mit den Händen, wie wenn er besessen wäre. Ich stoße den Striegler an, er sieht es auch, und der Bursch springt auf uns zu und packt den Striegler: Was habt Ihr da geredet? fragt er den Striegler auf spanisch. Das geht niemand was an, sagt der Striegler auch auf spanisch. Welche Sprache ist das? fragt der Spanier wieder. Deutsch, sagt der Striegler. Der Bursch faßt das Heiligenbild, das er um den Hals hangen hat, und küßt es, wie wenn er's fressen wollte, und endlich sagt er uns, in solcher Sprache rede sein Vater daheim, und er bittet uns, doch mit ihm zu kommen. Unterwegs erzählt er uns, sein Vater sei vor mehr als vierzig Jahren ins Dorf gekommen, er sei auch aus Deutschland, sei Hufschmied und habe sich hier verheiratet. Jetzt läge er schon seit Wochen auf den Tod krank und könne nicht sterben, und seit mehreren Tagen rede er in einer Sprache, von der sie kein Wort verstehen, und er verstehe die Mutter nicht und die Kinder nicht und die Enkel nicht. Das sei zum Verzweifeln. – Wir gehen nun ins Haus und treffen einen alten Mann mit schneeweißen Haaren und schneeweißem langem Bart im Bett aufrecht sitzend, und er ruft: Gebt mir ein Sträußlein Rosmarin! und dann singt er: und pflanzt es auf mein Grab! – Mir ist es durch Mark und Bein gefahren, wie ich das sehe und höre; der Striegler ist aber keck und geht auf ihn zu und sagt: Grüß Gott, Landsmann! Die Augen, die da der Alte gemacht hat, wie er das hört, wenn ich hundert Jahre alt werde, ich sehe die Augen immer offen, und er hat die Arme ausgestreckt und die Hände auf der Brust übereinander gelegt, wie wenn er die Worte an die Brust drücke. Der Striegler spricht weiter, und der Alte gibt auf alles ordentlich Antwort, manchmal ein bißle verwirrt, aber im ganzen doch deutlich. Er ist aus dem Hessischen gebürtig, hat Reuter geheißen und hat sich Caballero umgetauft; seit fünfzig Jahren hat er nichts als spanisch gesprochen, und jetzt, da es ans Sterben geht, bringt er kein spanisch Wort mehr heraus, es ist wie weggeblasen, und ich glaube, ich weiß es aber nicht gewiß, er versteht kein Spanisch mehr. Die ganze Familie ist nun glücklich, wie wir ihr alles dolmetschen, was der Alte will. Der Striegler hat das benutzt, daß er so viel gilt im Dorf, und hat gute Geschäfte gemacht, und ich hab' derweil beim Alten gesessen, und solang ich beim Striegler war, ist das meine beste Zeit gewesen. Ich habe zu essen und zu trinken bekommen genug. Die Leute haben mich gefüttert, wie wenn's dem Alten zu gute käme. Er ist nicht gestorben und wir sind nach drei Tagen fort; aber kaum sind wir ein paar Stunden davon, kommt uns der Sohn nachgeritten, der Vater jammert nach uns, wir müssen zurück. Wir kommen noch und hören ihn reden, deutsch, aber es war nicht zu verstehen, was er will, und mit dem Rufe: Jetzt will ich fort, jetzt will ich heim! ist er gestorben.«

Petrowitsch machte eine Pause, dann fuhr er wieder fort: »Die ganze Sache ist mir ins Herz gegangen, ich hab' damals nicht so gewußt, erst später ist es wieder gekommen. Der Striegler ist nachderhand wieder nach Spanien und hat, wie ich höre, eine Tochter von dem Caballero geheiratet. Wie wir in Frankreich sind, treffe ich in Marseille Ihren Vater, Herr Doktor, und der hat gesehen, daß ich doch nicht so bin, wie man meint, zu gar nichts nutz. Der hat mir Kredit gegeben, und nun bin ich auf eigene Hand weiter. Sparen und hungern habe ich gelernt für andere, jetzt hab' ich's erst für mich recht angewendet. Ich habe Ihrem Vater sein Geld ordentlich geschickt, und er mir immer mehr Waren. Ich bin in der halben Welt herumgekommen. Ich kann fünf Sprachen sprechen; wenn ich aber wo ein deutsches Wort gehört habe, und nun gar Schwarzwäldisch, da hab' ich gemeint, das Herz im Leib müßte mir springen. Ich habe einen großen Fehler, ich habe das Heimweh nie überwinden können. Es schleicht mir nach, hinter mir drein, wie wenn's ein Geist wäre, und bei manchem fröhlichen Trunk war mir's, wie wenn mir jemand das Salz auf dem Tisch in den Wein geschüttet hätte.«

Petrowitsch hielt abermals inne und stocherte im Feuer, daß es hell aufprasselte, dann sich mit der Hand übers Gesicht fahrend und die Falten auf- und abschiebend begann er wieder: »Ich überspringe zehn Jahre. Ich bin in Odessa und bin ein gemachter Mann. Das ist eine prächtige Stadt, dort sind alle Nationen daheim, und ich habe einen Freund, den werde ich nie vergessen. Es sind auch Dörfer in der Nähe, Lustdorf und Kleinliebenthal und noch viele andere, wo lauter Deutsche sind, aber nicht aus unserer Gegend, sie sind aus dem Württembergischen. Von allen Seiten von daheim bekomme ich Anträge. Ich bleibe aber bei Ihrem Vater bis zu seinem Tod. Ich habe ein hübsches Vermögen, ich könnte jetzt fahren, aber ich wandere zu Fuß durch ganz Rußland. Von Strapazen habe ich gar nichts gewußt. Da sehen Sie meinen Arm, da ist jeder Muskel wie von Stahl, und gar erst vor dreißig Jahren. Da war's noch ganz anders.

»Ich setze mich wieder in Moskau und bleibe da vier Jahre. Ich kann eigentlich nicht sagen: gesetzt, denn ich habe mich nie niedergesetzt bloß zur Ruhe, ich habe mir' s nie, auch nur eine Stunde, so was man sagt, daheim gemacht, und das hat mir geholfen sparen und erwerben. Ich habe mich mein Lebenlang nie aus dem Schlaf wecken lassen, habe mich aber auch, solang ich lebe, nie nochmals auf die andere Seite gelegt, wenn ich am Morgen aufgewacht bin. – Es kommen Landsleute genug; ich hab' ihnen geholfen. Es ist mehr als einer draußen in der Welt, der durch mich sein Glück gemacht hat. Ich frage, wie's daheim geht. Mein Vater ist gestorben, meine Mutter ist gestorben, und mein Bruder hat geheiratet. Ich frage, ob er sich gar nie nach mir erkundige, die Leute haben mir aber keinen guten Bericht gegeben: mein Bruder sage, ich käme doch noch als Bettler heim. Und wissen Sie, was mir am wehesten gethan hat? Daß mich alle Landsleute den Geißhirtle heißen. Daran ist mein Bruder schuld, daß ich den Schimpfnamen mein Lebenlang tragen muß. Ich bin immer drauf und dran gewesen, ich will ihm ein paar tausend Gulden schicken und ihm dabei schreiben: das schickt dir der Geißhirtle für die hundert Ohrfeigen, die du ihm noch schuldig bist, und für alles Gute, was du ihm gethan hast, und daß du so treulich für ihn gesorgt. Ich nehme mir immer vor, ich will das thun, aber weiß der Teufel, ich komme nicht dazu. Es ist meines Bleibens in Moskau auch nicht, ich will heim. Aber statt heim, gehe ich nach Tiflis und bleibe da elf Jahre. Und wie ich anfange, älter zu werden, denk' ich: nein, du machst's ganz anders, du kommst heim und bringst einen ganzen Sack voll Gold mit. Und alle Menschen sollen's sehen und dein Bruder nicht, mit ihm redest du kein Wort und – wie das so ist, mir ist's immer fester, immer deutlicher geworden, daß er mich eigentlich unterdrückt hat, daß er mich am liebsten aus dem Leben geschafft hätt'. Gut, du sollst es büßen. Ich habe ihn gehaßt und ihn oft ausgeschimpft in Gedanken und hab's doch nicht los werden können, an ihn zu denken. Und daneben habe ich doch immer ein Heimweh gehabt, ich kann's gar nicht sagen; kein Wasser auf der Welt schmeckt so gut, wie das beim Brunnen an der Kirche, und an Sommerabenden, was ist das für eine Luft daheim, wie lauter Balsam! Ich gäbe hundert Gulden, wenn mir einer eine Stube voll Luft bringen könnte von daheim; das ist mir tausend- und tausendmal durch den Kopf gegangen. Und dann hab' ich mich gefreut, wie alle Leute vom obern und vom untern Dorf zusammenlaufen werden, und da wird's heißen: da ist der Peter oder der Petrowitsch, wie sie mich jetzt einmal geheißen haben, und drei Tage sollen sie alle essen und trinken bis genug. Und auf der großen Wiese, da vor unserm Haus lasse ich lange Tafeln aufschlagen, und da sollen sie alle kommen, wer da will; alle sollen sie kommen, nur mein Bruder nicht. Und zwischen hinein hab' ich's doch gespürt, daß er eigentlich der einzige Mensch auf der Welt ist, den ich lieb haben möchte. Aber ich hab' mir's nicht eingestehen wollen. Und jedes Jahr hab' ich mir gesagt: beim nächsten Abschluß gehst du; aber ich hab' immer nicht fortgekonnt; denn wenn man so ein Geschäft hat, wo alles, was man anrührt, zu Gold wird, man kann nicht davon weg. Ich bin grau geworden und alt und habe gar nicht gewußt, wie. Da bin ich krank geworden, zum erstenmal in meinem Leben, recht krank. Ich habe wochenlang nichts von mir gewußt, und wie ich wieder bei Besinnung bin, sagen sie mir, ich hätte im Fieber in einer Sprache gesprochen, die kein Mensch verstanden hätte, nur der Doktor habe ein paar Worte verstanden, er habe gesagt, es sei deutsch, aber er verstehe es doch nicht recht; ich hätte oft Kain! gerufen und ›was kostet der Bua?‹ Da ist mir der Caballero eingefallen, der da in dem Dorf bei Valencia. Wenn du auch so daliegst und du verschmachtest und willst Wasser, und es versteht dich kein Mensch – –. Jetzt ist's fertig, heim, heim, heim! Ich bin schnell gesund geworden, ich hab' eine gute Natur; da hab' ich mir's fest vorgesetzt und einen Strich über alles gemacht, heim gehst du. Und wenn er zu Kreuz kriecht, wenn er sagt: ich habe schlecht an dir gethan – dann bleib ich bei ihm bis zu meinem Tod. Wie lang haben wir denn noch?! Was hat man denn auf der Welt, wenn man den Menschen nicht hat, der einem angehört! Auf der Reise – ich habe mich doch endlich dazu gebracht – da bin ich gewesen wie ein Kind, das flennend heimspringt, wenn es in den Wald entlaufen ist. Ich habe mich oft besinnen müssen, wie alt ich bin; und der Haß auf meinen Bruder hat mich doch wieder geplagt, und wenn man so etwas nicht verwinden kann, da ist es, wie wenn man einem eine Ader geschlagen hat; sobald man dran rührt, ja, wenn man nur dran denkt, so blutet's wieder, böses, schwarzes Blut.

»Ich bin heim gekommen.

»Wie ich ins Thal komme, da ist mir's, wie wenn die Berge aufständen und mir entgegen laufen.

»Ich fahre an Dörfern vorbei, da wohnt der und der, aber ich weiß nicht mehr, wie die Dörfer heißen, erst als ich vorüber bin, fällt mir's ein. Die Straße ist jetzt breiter und gemächlicher. Man fährt nicht mehr über den Woltendinger Berg, man fährt dem Thal nach. Ich bin in der Fremde und doch daheim. Berge, die vordem dicht bestanden waren, sehen jetzt aus wie glattrasierte Türkenköpfe. Sie haben grausam mit dem Wald gewirtschaftet. Ich komme in unser Dorf, es war ein schöner Sommerabend. man hat eben geheuet, die Glocke läutet, das war, wie wenn ich auf einmal Stimmen hörte, wie es keine auf der Welt mehr gibt. Ich habe viel Glocken gehört in den zweiundvierzig Jahren in der Fremde, aber so hat keine einen Klang. Ich ziehe den Hut ab, ich weiß nicht, warum; aber es hat mir so wohl, so selig wohl gethan, wie mir die Luft der Heimat um den Kopf weht; da grüßt was drin – ich kann's nicht sagen. Ich meine, das graue Haar auf meinem Kopf muß wieder jung werden, die Menschen, die am Weg gehen, ich habe wenige mehr erkannt, Sie, Herr Doktor, habe ich erkannt, Sie sehen Ihrem Vater ähnlich. Mich hat niemand gekannt. Ich halte beim Löwen an, ich frage: Ist der Lorenz Lenz auf der Morgenhalde daheim? Was daheim? der ist schon vor sieben Jahren gestorben. Das war, wie wenn mich ein Blitz in den Boden schlüge; ich fasse mich aber, es hat mir nie jemand angemerkt, was in mir vorgeht.

»Ich gehe auf mein Zimmer und spät in der Nacht durchs Dorf, da haben mich hunderterlei Dinge angeheimelt. Ich gehe nach meinem Elternhaus, es ist alles still. Die Tannen im Wald hinter meinem Elternhaus, die damals kaum zweimal so groß waren als ich, sind jetzt mächtig und schlagbar. Ich nehme mir vor, ehe es tagt, wieder abzureisen. Was soll ich hier? Und es hat mich niemand erkannt.

»Ich komme aber nicht fort.

»Jetzt sind sie gekommen von überall her und haben die Hand aufgemacht, ich soll schenken. Aber, Herr Doktor, ich habe einmal aus Langerweile die Sperlinge auf meinem Fenstersims gefüttert, und da sind die zudringlichen Bettler wie besessen jeden Morgen da und machen mir den Kopf toll, ich kann sie nicht mehr verscheuchen. Ja, das ist leicht hergewöhnt, aber schwer fortgebracht. Ich frage nach keinem Menschen mehr, denn wo ich gefragt habe, höre ich nichts als gestorben und verdorben und bekomme siebzehnmal im Tag einen Schreck in den Leib. Wer mir begegnet, ist recht; wer mir nicht begegnet, ist nicht da. Alle sind sie gekommen, nur meine Schwägerin und ihr Prinz nicht. Meine Schwägerin hat gesagt: Mein Schwager weiß, wo seiner Eltern Haus ist, wir laufen ihm nicht nach. Wie ich den jungen Lenz zum erstenmal gesehen habe, war er mir zuwider; er sieht nicht in unsre Familie, er artet seiner Mutter nach. Und jetzt, wie ich mir das Dorf ansehe und die ganze Gegend, hätte ich mir meine alten Haare ausreißen mögen, daß ich heim bin. Da ist ja alles verhockt und verdorben und verbuttet, und wo ist die alte Lustigkeit, der alte Uebermut? Nichts ist mehr da. Und die Jugend, die ist gar nichts nutz. Muß ich nicht die Kirschen von der Allee unreif herunter thun, damit sie mir die jungen Bäume nicht zerstören? Mein Singneffe, das ist ein Stubenhocker, und ich bin in der Welt draußen gewesen; mich ficht nichts an, dem thut aber jeder rauhe Wind und jedes rauhe Wort weh und macht ihn krank. Noch ein einziges Mal habe ich etwas auf ihn gesetzt und habe gedacht: der macht mir noch das Leben schön. Wenn er Ihre Tochter Amanda geheiratet hätte, da wäre ich zu den jungen Leuten gezogen oder sie zu mir. Mein Vermögen wäre in Ihre Familie gekommen, und das wäre mir recht gewesen; ich verdanke Ihrem Vater den Grund meines Glückes, wenn es ein Glück ist. Der verdammte Pilgrim hat meine Gedanken erraten und hat mich zum Vermittler machen wollen, aber ich thue nichts, nie. Ich rede nie jemand zu etwas zu und lasse mir auch zu nichts zureden. Jeder muß aus ihm selber leben. Und das ist die Hauptsache, was ich sagen will, ich gebe keinen roten Heller; lieber hab' ich . . . lieber werfe ich mein Geld in den Abgrund. Jetzt habe ich aber genug erzählt, ich bin ganz heiß.«

»Wie hat Ihnen denn das Wasser am Kirchbrunnen geschmeckt, nach dem Sie sich so sehr sehnten?« fragte der Doktor.

»Schlecht, ganz schlecht, es ist zu kalt und zu hart, ich vertrag' es nicht.«

An dieses Wort knüpfte der Doktor an und suchte Petrowitsch zu bekehren und ihm zu zeigen, daß die Welt nicht anders, nicht schlechter geworden sei, so wenig als bis vor kurzem der Brunnen; nur sein Magen sei kein junger mehr, und so auch seine Augen, seine Gedanken. Er erklärte Petrowitsch. daß er allerdings und mit Recht draußen in der Welt wetterhart und eroberungsfähig geworden, daß es aber auch zur Bethätigung des häuslichen Fleißes und zur Genügsamkeit nötig sei, daß viele daheim still und emsig arbeiten und an die Werkbank angeschraubt seien wie ihre Schraubstöcke; er legte einen besonderen Nachdruck darauf, daß, wer Musikwerke mache, eine Feinheit haben müsse, die sich zur Empfindlichkeit steigere, und dazwischen zeigte er ihm, wie er doch auch weichherzig sei, ähnlich wie sein Neffe. Mit eindringlichen Worten legte er ihm ans Herz, daß er helfen müsse, aber Petrowitsch war wieder der Alte, Starre und schloß mit den Worten: »Ich bleibe dabei. Ich rede niemand zu und lasse mir nicht zureden. Ich thue nichts. Noch ein Wort, Herr Doktor, und ich weiß nicht, was ich thue.«

Dabei blieb's. Als jetzt ein Bote von Ibrahim kam, verließ Petrowitsch mit dem Doktor das Haus. Der Doktor ging nach der Morgenhalde. Er mußte seinen Mantel fest an sich ziehen, es ging ein heftiger, aber seltsam lauer Wind.


 << zurück weiter >>