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Drittes Kapitel. Arbeit und Wohlthat.

Der nächste Nachbar – er war aber eine gute Strecke entfernt –, der Vogtsbauer, hatte Essen geschickt; denn es ist hier zu Lande Brauch, daß der nächste Nachbar, in der Voraussicht, daß man bei einem Todesfall nicht daran denkt, Essen zu bereiten, solches nach einem Begräbnis den Trauernden schickt. Auch darf man ja während eines Leichenbegängnisses und die nächsten drei Stunden darauf kein Feuer auf dem Herde anzünden.

Des Vogtsbauern Tochter brachte selber das Essen in die Stube.

»Ich dank' dir, Kathrine, und sag auch deinen Eltern schönen Dank. Stell ab. Wenn ich wieder Hunger kriege, werde ich essen; jetzt kann ich noch nicht,« beteuerte Lenz.

»Nein, versuchen mußt du's, das ist der Brauch,« sagte Franzl, »man muß es dem Mund anbieten. Setz dich, Kathrine, bei einem Trauernden muß man sitzen, da darf man nicht stehen bleiben. Die junge Welt weiß doch gar nicht mehr, was der Brauch ist. Und reden mußt auch was, Kathrine. Bei einem Trauernden muß man reden, da darf man nicht still sein. Sag doch was.«

Das stämmige, vollwangige Mädchen wurde flammrot im Gesichte, stieß die Worte hervor: »Ich kann nicht!« und brach in heftiges Weinen aus.

Lenz sah sie starr an, sie mochte das spüren und verhüllte sich das Gesicht mit der Schürze.

»Sei nur ruhig,« tröstete er, »dank Gott jeden Tag, daß du deine Eltern noch hast. So, jetzt habe ich die Suppe versucht.«

»Du mußt vom andern auch versuchen,« drängte Franzl.

Auch das that Lenz, es ward ihm schwer; er stand auf, auch das Mädchen erhob sich und sagte: »Nimm mir's nicht für ungut, Lenz, ich hätt' dich trösten sollen, aber ich . . . ich . . .«

»Ich weiß schon, ich danke dir. Ich kann jetzt auch nicht viel reden.«

»Behüt dich Gott! Und der Vater läßt dir sagen, du sollest zu uns kommen; er kann nicht zu dir, er hat einen bösen Fuß.«

»Will sehen, wenn ich kann, komme ich.«

Das Mädchen verließ die Stube, und Lenz wandelte in derselben auf und ab und streckte die Hände aus, als müßte sie jemand fassen. Es faßte sie niemand. Da blieb sein Blick starr auf dem Handwerkszeug haften und vornehmlich auf einer Feile, die abgesondert hing. Es überrieselte ihn heiß, indem er die Hand danach ausstreckte; jetzt faßte ihn etwas.

Diese Feile war das edelste Erbstück, das er besaß. Hier im Ahorngriff war eine Vertiefung, die hatte des Vaters Daumen eingedrückt; siebenundvierzig volle Jahre hat der Vater damit gearbeitet, und er hatte selbst seine Freude daran und sagte oft: »Man sollte es kaum glauben, daß durch die langen Jahre der Holzgriff mit der Hand zusammengedrückt werden kann.« Wenn ein Fremder auf Besuch kam, zeigte die Mutter das Wunderwerk.

Der Doktor drunten im Thal, der eine Sammlung von heimischen Wanduhren und Werkzeugen aus alter Zeit hat, wollte die Feile oft haben, um sie auch in sein Kabinett zu hängen, aber der Vater gab sie nicht her, und die Mutter und der Sohn hielten nach seinem Tode das Erbstück hoch. Damals, als man den Vater begrub und der Sohn mit der Mutter wieder still daheim saß, sagte sie: »Lenz, jetzt ist genug geklagt; wir müssen's still tragen. Nimm die Feile des Vaters und arbeite. Betet und arbeitet, solang es Tag ist, heißt es. Sei froh, daß du dein ehrliches Handwerk hast und dich nicht zu hintersinnen brauchst. Tausendmal hat's dein Vater gesagt: so morgens aufstehen, und da ist eine Arbeit, die wartet, das thut wohl und hilft auf, und wenn ich feile, da feile ich mir alle nichtsnutzigen Späne aus dem Kopf, und wenn ich hämmere, gebe ich allen schweren Gedanken einen Schlag, und – fort sind sie.«

»So hat damals die Mutter gesagt, und jetzt sind ihre Worte noch einmal auferweckt, sie sagt's wieder. Wenn ich nur immer so bei allem ihre Worte noch wüßte!« . . .

Lenz begann emsig zu arbeiten.

Draußen stand Franzl bei des Vogtsbauern Kathrine und beteuerte ihr: »Das ist mir lieb, daß du zuerst das Essen gebracht hast, das hat Gutes zu bedeuten. Von wem man nach so einem Fall den ersten Bissen genießt, dem – ich will nichts gesagt haben, man darf das nicht berufen. Komm du nur abends, und du mußt es sein, die ihm heut gut' Nacht sagt, und dreimal mußt: du gut' Nacht sagen, da wird noch mehr draus. – Was ist das? Still! Ja, himmlischer Vater im siebenten Himmel! Es ist so, er arbeitet, jetzt, an dem Tag! Das ist ein Mensch, den kennt niemand aus, und ich kenne ihn doch von Kindheit an, der hat Sachen, auf die gar kein andrer kommt, aber herzensgut ist er. Sag aber niemand was davon, daß er arbeitet; es könnt' ihm üble Nachrede bringen. Hörst du? Auf den Abend holst du das Geschirr, und dann faß dich, daß du auch ordentlich reden kannst; du kannst's doch sonst.«

Franzl unterbrach sich, denn Lenz rief unter der Thür: »Franzl, wenn Besuch kommt, ich kann jetzt mit niemand sprechen, außer wenn der Pilgrim kommt. So? Du bist noch da, Kathrine?«

»Ich geh' schon,« sagte diese und rannte schnell den Berg hinab.

Lenz ging wieder in die Stube, arbeitete unausgesetzt, und Franzl zerbrach sich draußen unausgesetzt den Kopf über den seltsamen Menschen, der just vergehen wollte vor Weinen und jetzt arbeitet. Es kann doch nicht Hartherzigkeit sein und nicht Geiz, aber was ist es denn?

»Mein alter Kopf ist nicht gescheit genug,« sagte Franzl und wandte sich nach der Thür, um die alte Lenzin zu fragen, was sie davon denken solle; aber sie schlug sich an die Stirn, da sie sich besann, daß die Mutter ja tot sei.

Franzl erschrak ins Herz hinein, da jetzt Besuche kamen, der Lehrer und andre vom Liederkranz, und auch ältere Leute. Sie wies mit bekümmerter Miene alle ab und redete dabei so laut, als ob alle Menschen taub wären; sie hätte allen gern die Ohren verstopft, daß sie Lenz nicht arbeiten hörten. Sie wartete immer auf Pilgrim, der vermag alles über ihn, der wird ihm die Feile aus der Hand nehmen. Aber Pilgrim kam nicht; und jetzt hatte Franzl einen glücklichen Gedanken: sie braucht ja nicht daheim zu bleiben. Sie stellte sich auf den Weg, so weit, daß man Feilen und Hämmern nicht hören konnte, und wer nun des Wegs kam, den wies sie ab.

Lenz aber fand in der That Fassung und Beruhigung bei der Arbeit, und erst gegen Abend hörte er auf. Er ging ins Thal hinab, hinter den Häusern vorbei zu seinem Kameraden, dem Schildmaler Pilgrim, aber halbwegs kehrte er wieder um, so plötzlich, als hätte ihn jemand gerufen, und doch war alles still ringsum. Nur die Bachamsel – hier zu Lande Heckegecks genannt – zwitscherte unaufhörlich im Gebüsch, und die Goldammer, auf dem frischen Jahresschoß des Tannenwipfels sitzend, pfiff ihre wenigen Töne und schaute hin und her. Lerchen gibt es hier im Thale und an den Wiesengeländen nicht, sie schwirren nur oben über der Hochebene, wo sich die Kornfelder ausbreiten.

Die Wiesen dampften, aber immer nur vorwärts und rückwärts sieht man den leichten Nebel und nie in dem nächsten Umkreis, in dem man steht und geht.

Lenz ging thalaufwärts in raschem Schritt, nur als die Sonne hinter der Spannreute unterging und die Nebel im Thale wie feurige Wolken durchglüht standen, hielt er an und sagte: »Sie geht zum erstenmal unter über ihrem Grabe.« Die Abendglocke läutete, er zog den Hut ab und schritt fürbaß. An einer Biegung des Thales stand er still und schaute, von einem Strauche verdeckt, hinauf nach einem einsamen Häuschen. Auf der Bank vor dem Hause saß ein Mann – wir kennen ihn schon, es ist der Uhrmacher Faller – er hielt ein Kind auf dem Schoß und ließ es tanzen, und neben ihm saß seine Schwester, deren Mann in der Fremde ist, und hielt den Säugling an der Brust, ihm das Händchen küssend.

»Guten Abend, Faller!« rief Lenz jetzt wieder mit seiner hellen Tenorstimme hinaus.

»Ei, du bist's?« tönte es im Baß zurück. »Gerade eben reden wir von dir. Die Lisabeth meint, du wirst jetzt in deiner Trauer uns vergessen, und ich sag': im Gegenteil, er denkt gewiß daran.«

»Ja, ich komme eben deswegen. Es ist mir eingefallen, daß ja morgen des Hurgels Haus verkauft wird. Ich will für dich Bürge sein, wenn du es kaufen willst. Ich hab' dich dann auch besser in der Nähe.«

»Das ist gut, das ist prächtig! Also du bleibst da?«

»Warum nicht?«

»Sagen ja die Leute, du gingest jetzt noch auf ein Jahr oder wie lang in die Fremde.«

»Wer hat das gesagt?«

»Ich glaub', dein Ohm hat's gesagt; ich weiß es aber nicht gewiß.«

»So? Kann sein. Wenn ich fortgehe, mußt du in mein Haus ziehen.«

»Bleib lieber daheim. Es ist zu spät.«

»Und heirat bald,« setzte die junge Frau hinzu.

»Ja, dann vergeht einem das Wandern, da ist man angebunden. Schau, Lenz, dir muß es noch gut gehen auf der Welt. Daß du jetzt in deinem Kummer an mich denkst; deine Mutter im Himmel wird dich dafür segnen. Es vergeht keine Minute, wo ich nicht an sie denke. Das hast du von ihr, sie hat auch in allem nur an andre gedacht. Das lohnt Gott!«

»Er lohnt's schon. Der Gang zu dir, und was wir miteinander vorhaben, hat mich viel erleichtert. Lisabeth, hast du nichts zu essen? Ich spüre jetzt heut zum erstenmal Hunger.«

»Ich will dir ein paar Eier einschlagen.«

»Auch recht.«

Lenz aß mit großem Appetit, und die Gastfreunde waren ganz glückselig, daß es ihm so schmeckte.

Die Mutter Fallers bat, so sehr auch der Sohn abwehrte, Lenz möge ihr etwas Kleider von seiner Mutter schenken.

Lenz versprach's.

Faller ließ sich's nicht nehmen, er gab ihm ein gut Stück Weges heimwärts das Geleite; aber kaum waren sie zwanzig Schritte vom Hause, als er einen gellenden Pfiff that. Die Schwester fragte, was es gäbe. Er rief ihr zu, daß er diese Nacht nicht heim käme.

»Wo willst du bleiben?« fragte Lenz.

»Bei dir.«

Die beiden Freunde schritten wortlos die Straße dahin, der Mond schien hell, die Eulen im Walde krächzten, aber aus dem Dorf herauf drang fröhlicher Gesang.

»Es wäre nicht gut, wenn alles um einen trauerte,« sagte Lenz. »Gottlob, daß jeder für sich lustig und traurig ist.«

»Das hat wieder deine Mutter aus dir gesagt,« entgegnete Faller.

»Aber halt,« rief jetzt Lenz, »willst du nicht deiner Braut Bescheid sagen, daß du das Häusle kaufen kannst?«

»Ja. das möcht' ich. Komm mit. Du wirst eine Freude sehen, wie sie nicht schöner auf der Welt ist.«

»Spring du nur allein den Berg hinauf, ich passe jetzt nicht zur Freude, und ich bin grausam müde. Ich warte hier. Jetzt geh schnell und komm schnell wieder.«

Faller eilte den Berg hinan, und Lenz saß am Wege auf einem Steinhaufen, und wie sich der Tau jetzt niedersenkte auf Baum und Strauch und Halm, daß alles wieder frisch auflebe, so senkte sich etwas wie reiner Himmelstau auf die Seele des Einsamen. Dort in jenem Berghäuschen, wo es dunkel war, blinkt jetzt ein Licht auf, und Licht und Freude geht auf in den Herzen der Menschen, sie haben so lange gezagt, nun geht die Freude auf.

Es gibt keine größere Seligkeit auf Erden als Wohlthun.

Faller kam hochatmend wieder und berichtete, wie alles aufgejubelt habe; der alte Vater der Braut habe das Fenster aufgerissen und ins Thal hinausgerufen: »Sei tausendmal gesegnet, du guter Mensch!« und die Braut habe bald geweint, bald hellauf gejauchzt.

Die beiden Freunde schritten nun geraume Zeit, jeder still seinen Gedanken folgend, des Weges dahin. Faller hatte einen festen Schritt, in seinem ganzen Behaben war etwas Strammes, Geschlossenes, und indem jetzt Lenz den Gleichschritt mit ihm hielt, richtete er sich unwillkürlich straffer auf.

Da, wo es den Berg wieder hinangeht, schaute Lenz einmal um nach dem Kirchhof und seufzte tief.

»Mein Vater liegt auch dort, und ich hab' ihn nicht so lang gehabt wie du,« sagte Faller.

Lenz ging voraus, den Berg hinan. Was ist denn das Weiße, das sich da oben am Berge bewegt? Wer ist denn noch da? Ist's denn möglich? . . . Es ist nicht wahr, daß die Mutter tot ist! Ja, sie hält's nicht aus, sie kommt gewiß wieder . . .

Innerlich bebend starrte der Trauernde drein.

»Guten Abend, Lenz!« rief eine Stimme; es ist des Vogtsbauern Kathrine.

»Was thust denn du noch da?«

»Ich bin bei der Franzl gewesen, sie hat sich unsre Magd geholt, damit sie nicht so allein ist. Sie ist eben alt und fürchtet sich. Ich thät' mich aber gar nicht fürchten, wenn deine Mutter wieder käme. Gut' Nacht, Lenz! Gut' Nacht! Gut' Nacht!«

Dreimal sagte Kathrine gut' Nacht, so hatte es Franzl befohlen, denn das hat was zu bedeuten; wer weiß, was daraus wird!


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