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Neuntes Kapitel. Freundesbesprechungen.

Der Gesell und der Lehrjunge, die Lenz über die Tage der häuslichen Störung zu ihren Eltern heimgeschickt hatte, arbeiteten bereits in der Werkstatt, als Lenz am andern Morgen erwachte. Das war auch noch nie vorgekommen, daß sie vor dem Meister an der Arbeit waren. Ja, als Lenz das Fenster öffnete, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und auf fünf oder sechs Uhren, die in der Stube waren, schlug es zu gleicher Zeit sieben. Es war Lenz, als ob sein Wunsch in Erfüllung gegangen wäre, daß er wochenlang schlafen könne. Zwischen gestern und heute schienen Wochen zu liegen, so lange kam es ihm vor, so vieles war mit ihm vorgegangen.

Franzl brachte ihm das Frühstück, setzte sich ungeheißen zu ihm und fragte: »Was soll ich dir heut mittag kochen?«

»Mir? Gar nichts, ich esse heute nicht daheim. Koch du für euch, wie du's gewohnt bist. Denk nur, Franzl, der gute Pilgrim . . .«

»Ja, er ist gestern abend dagewesen,« unterbrach Franzl, »und hat lang auf dich gewartet.«

»So? Und ich bin bei ihm gewesen. Denk' nur, der gute Kerl hat gestern in geheim meine Mutter abgemalt. Du wirst dich wundern, wie lebendig sie drein sieht. Man meint, sie muß zu reden anfangen.«

»Ich hab's gewußt, daß er's macht, ich hab' ihm ja heimlich die Sonntagsjacke, das rote Mieder, das feingefaltete Goller, das Halstuch und die Haube deiner Mutter geben müssen; die Granatenschnur hast du ja dort eingeschlossen bei den andern Sachen, die ich nicht weiß. Es geht mich nichts an. Ich brauche nicht alles zu wissen. Aber was ich weiß, wenn's geheimgehalten werden soll, da könnt' man mir alle Adern schlagen, ich red' kein Wort. Hab' ich mit einem Schnauferle verraten, daß ich das von dem Pilgrim weiß? Habe ich dir ein Wort gesagt, warum er nicht kommt? Mir kannst du alles anvertrauen!«

Da Lenz ihr indes nichts anvertraute, fragte sie: »Wo gehst du denn heute hin? Wo bist du denn gestern abend gewesen?«

Lenz sah sie staunend an und gab keine Antwort.

»Du wirst bei deinem Ohm Petrowitsch gewesen sein?« fragte Franzl.

Lenz schüttelte verneinend mit dem Kopf, gab aber immer noch keine andre Antwort, und Franzl half ihm und sich aus der Verlegenheit, indem sie sagte: »Ich hab' keine Zeit mehr, ich muß im Garten Bohnen schneiden für heut mittag. Ich hab' eine Taglöhnerin bestellt, die mir hilft; wir müssen heute unsre Kartoffeln häufeln. Es ist dir doch recht?«

»Ja, ja, mach du nur das, wie sich's gehört.«

Lenz ging auch an die Arbeit, aber der Kopf war ihm heute seltsam eingenommen. Er irrte sich mehrmals in der Wahl der Feilen, und die Feile des Vaters, die doch ein Heiligtum war, warf er unwillig beiseite.

Die Zauberflöte spielte. »Wer hat das Werk wieder in Gang gebracht?« fragte Lenz rasch und verwundert.

»Ich,« sagte der Lehrjunge. Lenz schwieg.

Es muß alles wieder in Gang kommen. Die Welt steht nicht still, wenn ein Herz auf ewig ausgeschlagen und wenn ein trauerndes freiwillig ewig stillstehen möchte. Lenz arbeitete ruhig weiter.

Der Gesell berichtete, daß in Triberg ein junger Meisterssohn aus der Fremde heimgekommen, der nun selbständig eine Spieluhrenwerkstatt errichten und sich in der hiesigen Gegend setzen wollte.

Dem könntest du dein ganzes Anwesen verkaufen, dachte Lenz, und dann könntest du einmal selber sehen, wie die Welt ausschaut. Aber dieser Gedanke des Fortgehens tauchte nur in ihm auf, wie eine Erinnerung an etwas, was er einmal vor Zeiten gewollt. Ein eigentlicher Trieb war nicht mehr darin, und gerade, daß der Ohm das Gerücht von seiner Wanderung verbreitet hatte und ihn dadurch zwingen wollte, machte ihn widerspenstig. Er nahm die Feile des Vaters nochmals zur Hand und betrachtete sie eine Weile, wie wenn er sagen wollte: Sein Leben lang hat der Mann, der diese Feile geführt – eine kurze, frühe Wanderzeit ausgenommen – hier auf der Stelle gesessen und ist glücklich gewesen; freilich – er hat jung geheiratet, das ist was andres.

Sonst schickte Lenz den Lehrjungen zum Gießer, der drüben jenseits am Berge wohnte, heute ging er selbst. Und als er wiederkam, saß er auch nur kurze Zeit an der Arbeit. Es ist unrecht, daß du nicht zum Pilgrim gehst. Mitten im halben Tage ging er den Berg hinab durch das Dorf, die Matte hinauf zu Pilgrim. Der brave Kamerad saß an der Staffelei und malte. Er stand auf, fuhr sich mit beiden Händen durch seine langen, schlichten, rötlich blonden Haare und reichte Lenz die Rechte. Dieser sagte nun, welch eine Freude ihm diese Ueberraschung mache und wie herzlich und treu es vom Freunde sei. »Pah,« lehnte Pilgrim ab und steckte beide Hände in seine weiten Pumphosen, »pah, ich thu' mir selber ein Bene damit. Es ist zum Verzweifeln, jahraus jahrein das liebe Dorf zu malen, die Kirche mit der Bischofsmütze als Kirchturm, der hat ein großes Loch, daß man das Zifferblatt hereinsetzen kann, und der Mäher da mit der Sense steht immer da und kommt nicht vom Fleck, und die Frau mit dem Kinde, die ihm entgegengeht, kommt nie zu ihm; das Kind streckt seine Händchen aus, aber es kriegt den Vater nie. Und der verfluchte Kerl steht immer mit dem Rücken da, ich weiß gar nicht, was er für ein Gesicht hat. Aber hundert und hundertmal muß ich dieses verdammte giftgrüne Zeug malen. Es ist einmal so, die Welt will immer dasselbe. Ich mein', ich könnte mit verbundenen Augen das Ding malen, und muß immer wieder dran. Nun hab' ich mir ein Bene gethan und deine Mutter gemalt. Ich male sonst keine Porträts mehr, ich mag die Gesichter hier herum nicht und will künftigen Jahrhunderten nicht den Possen spielen, daß sie sie auch noch ansehen müssen. Dein Ohm hat recht, daß er sich nicht will malen lassen. Wie vorlängst ein Durchreisender ihn drum angeht, sagt er: Nein, sonst sehe ich mich noch in künftigen Zeiten in einer Trödelbude hangen beim Napoleon und beim alten Fritz. – Der Kerl hat doch Gedanken, man möcht' ein Rad schlagen.«

»Was willst du jetzt vom Ohm? Nicht wahr, das Bild meiner Mutter hast du doch für mich gemalt?«

»Wenn du's haben willst, ja. Komm, stell dich gleich daher. Mit den Augen bin ich noch am wenigsten zufrieden, die krieg' ich noch nicht weg. Der Doktor war heut früh da, der sagt's auch. Er hat mir einen Fremden bringen wollen, der was von der Kunst versteht, er ist aber zu spät aufgestanden. Du hast ganz die Augen deiner Mutter. Komm, stell dich da her, so, da her. Jetzt halt dich ruhig, denk dir was Gutes von mir, oder wie du einem was schenken möchtest. Das ist brav, daß du dich für den Faller verbürgt hast. Daran denk, dann hast du den Blick deiner Mutter, der einem einheizt. Nicht lächeln. Aber so gut, so getreu, so . . . so . . . Jetzt, jetzt ist's recht. Blinzle nicht. Nein, so kann ich nicht malen, wenn du weinst!«

»Es sind mir nur die Augen übergegangen,« beschwichtigte Lenz, »ich hab' mir denken müssen, daß die Augen meiner Mutter . . .«

»Nun gut, so lassen wir's sein. Ich weiß jetzt schon. Komm, wir wollen Schicht machen. Es ist ohnedies bald Mittag. Du ißt doch heut mittag mit mir?«

»Nein, nimm mir's nicht übel, ich muß mit meinem Ohm Petrowitsch essen.«

»Ich nehm' dir nie was übel. Jetzt sag, wie geht dir's?«

Lenz legte nun den Plan dar, daß er halb und halb willens sei, noch ein paar Jahre auf die Wanderschaft zu gehen, und er beschwor den Freund, jetzt den damals verdorbenen Plan auszuführen und mit ihm gemeinschaftlich zu ziehen. Vielleicht könnten sie nun das Glück erringen, das sie damals erhofft.

»Thut's nicht, geht nicht,« widersprach Pilgrim. »Schau, Lenz, du und ich, wir sind nicht zu großen Reichtümern geboren, und es ist auch recht so. Mein Don Bastian, das war der rechte Weltmann, der zu Geld kommt; lauft der Kerl durch die halbe Welt und weiß so wenig davon, als die Kuh von der Kirchenlehr'. Wo er hinkommt, wo er geht und steht, ist sein einziges Denken: wie kriegt man hier Batzen? Wie spart man, und wie betrügt man? Und da versteht er sich mit der ganzen Welt. Der spanische Bauer ist gerad' so pfiffig dumm wie der deutsche, und ihr Hauptgaudium ist, einen andern übers Ohr hauen. Wie mein Don Bastian heimgekommen ist, hat er nichts abzulegen gehabt als sein Geld, und nur zu sehen, wie er's gut anlegt. Wer so ist, bringt's zu was.«

»Und wir?«

»Wer Vergnügen an Sachen hat, die man nicht für Geld haben kann, der braucht kein Geld. Schau, alles überzählige Klingende, was ich hab', ist meine Guitarre, und das ist genug. Ich hab' in diesen Tagen einmal dem jüngsten von meinem Don Bastian die zehn Gebote abgehört, und da ist mir auf einmal ein gescheiter Gedanke gekommen. Wie heißt's im ersten Gebot? Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keinen andern Gott neben mir haben. – Das ist viel. Jeder Mensch kann nur einen Gott haben. Du und ich, wir haben Freude an unsrer Kunst. Du bist glücklich, wenn du ein Werk gemacht hast, das gut zusammen stimmt, und ich auch, wenn mir's auch oftmals zuwider ist, daß ich das ewige Dörflein mit dem ewigen Mähderlein und dem ewigen Weiblein und Kindelein malen muß. Aber es freut mich doch, wenn's fertig ist, und wenn ich's mach', bin ich lustig wie ein Vogel, siehst du? wie der Fink, der da auf dem Kirchendach sitzt. Und wer an dem, was er thut, Freude hat, wer darauf sein ganzes Dichten und Trachten richtet, der kann nicht auch noch seine Gedanken drauf stellen, wie er reich wird, wie er spekuliert und die Welt hinterlistet. Und wer Freuden hat, die man nicht kaufen kann, was fragt der viel nach Geld und Gut. Ich sättige mich am Anblick einer schönen Baumgruppe, wie da die Lichter durch die Gezweige spielen, wie sie sich wiegen und ineinander huscheln, gar so heimelig und glückselig. Was braucht der Wald mein eigen sein? Du sollst keinen andern Gott neben mir haben. Das ist ein gutes Wort. Freilich, der andre Gott ist meistenteils der Teufel, das kannst du an deinem Ohm Petrowitsch sehen. Und richtig heißt es auch in der Parallelstelle, die ich dazu gefunden im Evangelium: Du kannst nicht den Kelch des Herrn und den des Teufels auf einmal trinken.«

»Zieh zu mir ins Haus,« war die ganze Antwort, die Lenz dem Freunde gab, »ich lass' dir unser Oberstüble ausbauen und noch eine Kammer daneben.«

»Du meinst's gut, aber es wär' nicht gut. Lenz, du bist ein Wunder. Du bist der geborne Ehemann und Hausvater. Du mußt heiraten, und ich freue mich schon darauf, wie ich deinen Kindern Geschichten von meinen Reisen erzähle. Und wenn ich alt bin und nichts mehr verdienen kann, da kannst du mich meinetwegen ins Haus nehmen und zu Tode füttern. Aber jetzt halt die Augen auf. Und ich nehm' dir's nicht übel, im Gegenteil, ich rate dir's, setz mich ein bißchen hinten an, damit dich dein Ohm Petrowitsch ins Testament setzt. Erben, das können wir. Ich habe das größte Talent zum Erben, ich habe aber leider Gottes lauter arme Verwandte, sie sind alle nur reich an Kindern. Ich bin der einzige, von dem's einmal was zu erben gibt. Ich bin auch ein Erbonkel, so gut wie der Petrowitsch.«

Der Freund erheiterte Lenz, wie ein eben schnell vorüberziehender Sonnenregen draußen die Natur erfrischte. Sie warteten, bis es ausgeregnet hatte, dann gingen sie miteinander nach dem Wirtshause; aber schon vor demselben trennten sie sich, denn Pilgrim sagte, er solle nicht mit ihm gemeinschaftlich beim Petrowitsch ankommen. Vor dem Wirtshause stand ein Fuhrwerk, der Löwenwirt begleitete einen jungen Mann bis vor das Haus und reichte ihm zwei Finger zum Abschied und schob dabei das Käppchen etwas in den Nacken.

Der junge Mann gab nochmals Grüße an Frau und Tochter auf und befahl dem Fuhrmann, voraus zu fahren und am Hause des Doktors zu warten.

Als er an den beiden Freunden vorüberging, grüßte er sie, indem er die Mütze abzog.

»Kennst du den jungen Mann?« fragte Lenz.

»Nein.«

»Und ich auch nicht,« sagte Pilgrim. »Sonderbar! Wer ist der Fremde?« fragte er den Löwenwirt.

»Der Bruder von meinem Schwiegersohn.«

»Oho!« raunte Pilgrim leise zu Lenz, »jetzt erinnere ich mich. Ich habe von ihm gehört, er ist ein Freier vom Annele.«

Lenz stieg schnell voraus die Treppe hinauf. Pilgrim sah nicht, was in seinem Gesichte vorging.


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