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Dreiunddreißigstes Kapitel. Ein Freund in der Not.

Um dieselbe Stunde hatte Pilgrim zur Kirche gehen wollen, aber auf dem Wege kehrte er wieder um und ging mehrmals an dem Hause des Petrowitsch vorüber. Endlich blieb er vor dem Hause stehen und zog an der Klingel. Petrowitsch hatte ihn schon lange an seinem Fenster beobachtet, und als er jetzt klingelte, sagte Petrowitsch oben vor sich hin: »So, du willst zu mir? Du sollst dran denken, wie ich dich heimschicke.«

Petrowitsch war sehr übel gelaunt, so verdrießlich, als litte er an den Folgen eines nächtigen Rausches, und es war fast so. Er hatte sich verleiten lassen, in alten Erinnerungen zu schwelgen und einen andern davon trunken zu machen. Es ärgerte ihn, daß er dem Kitzel nicht widerstanden hatte, vor einem Menschen gut zu erscheinen. Er schämte sich, daß er dem Doktor nochmals am Tageslicht unter die Augen treten solle. Sein Stolz, daß er sich gar nicht darum kümmere, was die Welt von ihm denke, war dahin. Nun kam Pilgrim, der soll die volle Ladung des Aergers empfangen, der wird heute nicht mehr Guitarre spielen und pfeifen und singen.

Pilgrim trat ein und sagte: »Guten Morgen, Herr Lenz!«

»Ebensoviel, Herr Pilgrim!«

»Herr Lenz, ich komme zu Ihnen, statt in die Kirche zu gehen.«

»Hätte nicht geglaubt, daß ich für so heilig gelte.«

»Herr Lenz, ich komme zu Ihnen, nicht weil ich glaube, daß es was nützt, ich will nur meine Schuldigkeit gethan haben.«

»Schön, wenn jeder seine Schuldigkeit thut!«

»Ihr wißt, Euer Lenz . . .«

»Ich habe weiter keinen Lenz, als den da,« sagte Petrowitsch, sein wohlrasiertes Angesicht im Spiegel betrachtend.

»Ihr wisset, Euer Brudersohn steckt im Elend.«

»Nein, das Elend steckt n ihm; das kommt davon, wenn man sich etwas auf sein gutes Herz einbildet und Kameraden hat, die einen damit hätscheln, und was da nicht mit einstimmt, das sind lauter Launen von griesgrämigen, vertrockneten Alten.«

»Ihr mögt recht haben, mit Gescheitreden ist aber nichts geholfen. Das Elend von Eurem Lenz ist größer, als Ihr glaubt.«

»Ich hab's noch nie ausgemessen.«

»Mit einem Wort, ich fürchte, er bringt sich ums Leben.«

»Das hat er ja schon lang gethan. Wer so dumm heiratet, bringt sich ums Leben.«

»Ich weiß nichts mehr zu reden. Ich bin auf alles gefaßt gewesen, aber auf das nicht, Ihr seid noch viel mehr . . . und anders als ich geglaubt habe.«

»Danke fürs Kompliment. Nur schade, daß ich mir das nicht als Orden anhängen kann, wie die Liederkränzler.«

Der lustige, allezeit wohlgemute Pilgrim stand vor dem Alten verdutzt, wie ein Fechter, dem bei jedem Ausfall die Klinge aus der Hand gewunden wird.

Petrowitsch weidete sich an diesem Schauspiele und steckte ein großes Stück Zucker in den Mund. Dann sagte er schmatzend: »Der Sohn meines verstorbenen Bruders hat nach seinem eigenen Willen gehandelt, es wäre nicht recht von mir, ihn um den Ertrag seines Willens zu bringen. Er hat sein Leben verschleudert und sein Geld, ich kann's ihm nicht wieder holen.«

»O Gott, Herr Lenz, das können Sie! Sein Leben und das seiner ganzen Familie ist noch zu retten. Die Hässigkeit im Hause wird aufhören, wenn es da wieder aus dem Vollen geht, alles geordnet und ohne Sorge. Ueber der leeren Krippe zanken sich die Gäule, sagt man. Das Geld ist nicht der Friede, aber es kann Frieden bringen.«

»Schau einmal an, wie gescheit die junge Welt mit fremdem Geld ist! Aber selbst erwerben will sie's nicht. Kurz und gut, ich thue nichts für den Mann des Löwen-Annele der sich ihre guten Worte um Geld kaufen muß.«

»Und wenn Euer Neffe stirbt?«

»So wird er wahrscheinlich begraben.«

»Und was wird aus den Kindern?«

»Es weiß niemand, was aus Kindern wird.«

»Hat Euch Euer Neffe je etwas zuleide gethan?«

»Wüßte nicht, warum er das sollte.«

»Was könnt Ihr denn Besseres thun mit Eurem Gelde, als jetzt . . .«

»Wenn ich einmal einen Vormund brauche, werde ich mir den Herrn Pilgrim ausbitten.«

»Herr Lenz, ich sehe, ich bin für Euch nicht gescheit genug.«

»Ist mir eine große Ehre,« sagte Petrowitsch, einen Fuß über den andern legend und mit dem Klapppantoffel in der Luft spielend.

»Ich habe das Meinige gethan,« sagte Pilgrim wieder.

»Und billig, mit ein paar guten Worten; was kostet der Scheffel? Möchte mir auch kaufen.«

»Ich hab Euch zum ersten- und letztenmal um etwas gebeten.«

»Und ich Euch zum ersten- und letztenmal etwas abgeschlagen.«

»Guten Morgen, Herr Lenz!«

»Ebensoviel, Herr Pilgrim!«

An der Thür kehrte Pilgrim noch einmal um, sein Angesicht war rot, in seinen Augen flimmerte es, und er sagte: »Herr Lenz, wißt Ihr, was Ihr thut?«

»Bis jetzt hab' ich noch immer gewußt, was ich thue.«

»Eigentlich werft Ihr mich zur Thür hinaus.«

»So?« schmunzelte Petrowitsch. Er senkte aber doch den Blick, da er die Mienen Pilgrims sah, es zuckte etwas darin, war's Rauflust oder Weinen? Und Pilgrim fuhr fort: »Herr Lenz, ich lasse mir alles von Euch gefallen. Soweit es Menschen gibt, die Hecken und Bäume gesehen haben, woran Stöcke wachsen, gibt es keinen, keinen, der auftreten kann und sagen, man darf den Pilgrim ungestraft beleidigen. Ihr dürft's, und wißt Ihr warum? Weil ich mich für meinen Freund beleidigen lasse. Ich kann leider Gottes nichts andres für ihn thun. Ich sage Euch kein böses Wort, kein einziges. Ihr sollt nicht sagen können: der Pilgrim hat mich grob behandelt, drum thue ich nichts für seinen Herzbruder, den Lenz. Ich nehme um meines Freundes willen gern den Schimpf auf mich. Ihr könnt es überall erzählen, daß Ihr mir die Thür gewiesen.«

»Wird mir nicht viel Ehre einbringen.«

Pilgrim atmete tief auf, seine Lippen wurden blaß, und er verließ stumm die Stube.

Petrowitsch schaute dem Davongehenden nach mit einer Siegesmiene, wie sie der Fuchs machen muß, wenn er vollauf gesättigt einem Häschen zum Spaß ein bißchen Blut aussaugt und es dann wieder laufen läßt, so gut es kann.

Mit großem Behagen ging er in seiner Stube auf und ab und machte die Troddel an seinem Schlafrocke etwas weiter. Das Behagen schien ihn wahrhaft aufzublähen, er strich sich mit beiden Händen am Leibe herunter, und das sagte: so, jetzt bist du wieder der Petrowitsch; gestern abend warst du ein einfältiger Narr und hattest kein Recht dazu, auf der Waschlappenwelt hier herumzuschimpfen.

Unterdes ging Pilgrim still heimwärts, aber auch vor seinem Hause ging er vorüber und weit hinaus ins Feld, bis er endlich wieder umkehrte. Er fand zu Hause eine große Freude, den Sohn seines Freundes. So ist's, wenn Freunde einander in der Seele haben. Der gute Lenz hat in demselben Augenblick an dich gedacht, wie du an ihn. Vielleicht hat er sogar gewußt, geahnt, wie du zum Petrowitsch gingst. Er hat dir das Kind wie zur Beihilfe geschickt, aber es hätte nichts genügt; zu dem reden Menschen und Engel vergebens. Pilgrim war unerschöpflich in Spielen, die er für das Kind erfand, und in Zeichnungen, die er ihm vormachte. Und dann konnte er aus einem weißen Sacktuch und seinem schwarzen Halstuch mit seinen Fingern Hase und Hund machen, und wie die einander nachspringen. Der kleine Wilhelm war voll Juchzen, und Pilgrim mußte ihm immer dieselbe Geschichte dreimal wiederholen. Gut erzählen konnte Pilgrim, besonders von einem kastanienbraunen Türken Kulikali, mit der großen Nase, der den Rauch schlucken kann. Pilgrim verkleidete sich selber als Türke Kulikali, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf eine Decke am Boden und machte allerlei Schnickschnack. Pilgrim war gewiß heute ebensoviel Kind, wie sein junger Pate, und sie aßen miteinander unten bei Don Bastian. Nachmittags mußte Pilgrim, trotzdem es halb regnete, halb schneite, doch eine Stunde mit Wilhelm hinab an den Bach. Das war doch gar zu schön! Da schwammen die großem Eisschollen, und auf den Schollen saßen die Raben; sie wollten auch einmal zu Schiffe fahren, aber sobald eine Eisscholle zerschellte, flogen sie sehr geschickt auf und setzten sich auf eine andre. Es machte fast schwindelig, von der Anhöhe herab dem zuzusehen. Es war, als ob der Boden sich bewegte und das Eis stehen bliebe. Der Knabe hielt sich ängstlich an Pilgrim. Er kehrte mit ihm heim und ließ seinem Patchen ein Bett herrichten auf seinem zersessenen Sofa, und die beiden waren einig, daß der junge Lenz gar nicht mehr heimgehe. Und tief durch die Seele ging's Pilgrim, als das Kind sagte: »Der Vater schreit immer so und die Mutter auch, und die Mutter hat gesagt, der Vater ist ein böser Mann.«

O, armer Lenz, du mußt bald dazu thun, daß dein Kind anders wird! dachte Pilgrim.

Es regnete und schneite, daß man nicht vors Haus konnte, zumal da immer jetzt große Lawinen von den Dächern und den Wiesengeländen rollten. Es ward unversehens Abend, aber Lenz kam nicht; und Pilgrim horchte hoch auf, als ihm die Magd erzählte, Petrowitsch sei ihr auf dem Wege nach der Morgenhalde nicht weit vom Hause begegnet. Er habe sie gefragt: »Wem gehört das Kind?« Und als sie gesagt: »Das ist ja des Lenzen Wilhelm,« da habe er den Knaben gestreichelt und ihm ein Stückchen Zucker gegeben; aber kein ganzes, denn er habe die Hälfte abgebrochen und sich selber in den Mund gesteckt.

Ist's denn möglich? Kann denn der Petrowitsch wirklich erweicht werden? Wer kennt die Gedanken der Menschen?

Nachdem Petrowitsch das Behagen des Triumphes über den Doktor und über den Pilgrim sattsam genossen hatte, fühlte er sich sehr ruhig.

Er sah die Menschen truppweise zur Kirche gehen und zuletzt eine einzelne Frau, einen einzelnen Mann eilig und allein dahinrennen, um noch zur rechten Zeit zu kommen.

Petrowitsch ging sonst auch fast regelmäßig zur Kirche, ja, man sagte sogar, er werde in seinem Testamente eine große Summe zum Neubau aussetzen; heute blieb er daheim, er hatte genug mit sich selber zu thun, und unwillkürlich dachte er: Der Bursch hat doch gute Freunde in der Not. Pah! Wer weiß, ob sie's wären, wenn sie Geld hätten . . . Das von dem Pilgrim kann aber doch echt gewesen sein, es scheint fast; das Weinen hat ihm nahe gestanden, er hat an sich gehalten und hat sich alles gefallen lassen, um es für seinen Freund nicht zu verderben . . . Wer weiß, ob das nicht doch falsches Spiel ist? Nein, es gibt doch noch wirklich Freunde . . .

Von fern her dröhnte die Orgel, erschallte der Gesang der Gemeinde, und jetzt war's still, jetzt predigt der Pfarrer, man hört eine einzelne Menschenstimme nicht so weit. Petrowitsch saß auf seinem Stuhl und hielt die Hände ineinander, und es war fast, als predige ihm jemand, und plötzlich erhob er sich und sagte fast laut: »Es ist gut, den Menschen den Meister zu zeigen; aber es schmeckt doch auch gut, verehrt zu werden. – Nein, das ist nicht viel wert – aber den Menschen einmal die Augen ausreißen, daß sie sagen: beim Blitz, das hätten wir nicht geglaubt! ja, ja, das schmeckt doch.«

Seit vielen Jahren hatte sich Petrowitsch nicht so schnell angekleidet wie heute. Sonst war das Ankleiden, wie überhaupt alles, was er zu thun hatte, eine gemächliche Arbeit, bei der man ein schönes Stündchen verbringt; heute war er schnell fertig. Petrowitsch hatte seinen Pelz angezogen, er hatte den feinsten Pelz weit und breit; er war nicht umsonst so lange in Rußland gewesen. Die alte Haushälterin hatte ihn doch noch vor wenig Minuten im Schlafrock gesehen, sie sah ihn staunend an, sie durfte aber nichts reden, wenn er sie nicht zuerst ansprach. Mit seinem goldknaufigen Stocke, an dem aber eine sehr spitzige Zwinge war, ging Petrowitsch durch das Dorf und richtig den Berg hinauf. Kein Mensch war auf dem Wege, keiner sah aus dem Fenster, es wunderte sich niemand, ihn zu solch ungewöhnlicher Zeit und bei so schlechtem Wetter außer dem Hause zu sehen. Nur Büble bellte laut für die ganze Menschheit: Mein Herr geht einen Weg, einen Weg, es glaubt's kein Mensch! Ich hätt's selber nicht geglaubt. – So bellte er bald einem Raben zu, der beschaulich auf einer Hecke saß und mit tiefem Sinnen betrachtete, wie der Schnee schmolz; bald bellte Büble es ganz für sich hin, und je tiefer der Schnee war, um so höher, wie emporgeschnellt, hüpfte Büble auf seinen überflüssigen Abschweifungen bergauf und bergab. Und dann schaute er seinen Herrn wieder an, wie wenn er sagen wollte: Uns zwei versteht keine Menschenseele, nur du und ich, wir kennen uns.

»Ich gebe meine Ruhe mit hin, wenn ich's thue,« sagte Petrowitsch vor sich hin, »aber wenn ich's nicht thue, habe ich auch keine Ruhe, und es ist doch besser, ich habe Dank davon. Und ein einfältiger, guter, ehrlicher Mensch ist er doch, gerade wie sein Vater gewesen ist; ja, ja.«

Petrowitsch kam bis vor das Haus des Lenz. Die Hausthür war verschlossen, Büble stand schon auf der Schwelle, und in diesem Augenblick – Petrowitsch hatte fast schon die Thürklinke in der Hand – sank er zu Boden. Er lag unterm Schnee. Das hat man davon, wenn man sich um einen andern Menschen annimmt, war sein erster Gedanke beim Niederstürzen. Bald aber hatte er keine Gedanken mehr.


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