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Fünfunddreißigstes Kapitel. Ins Herz getroffen.

Lenz saß draußen bei Annele in der Stube, beide redeten kein Wort; nur das Kind lachte und wollte bald nach dem Licht, bald nach den Augen des Vaters greifen, die starr auf das Kind gerichtet waren. »Gottlob! es ist doch unser Sohn gerettet, wenn wir da sterben müssen,« sagte Lenz. Annele schwieg; die Uhren gingen im Takte fort, und jetzt begann die Spieluhr einen Choral zu spielen. Zum erstenmal begegneten sich wieder die Blicke der beiden. Annele faßte das Kind anders und faltete die Hände über dessen jauchzender Brust.

»Wenn du beten kannst,« sagte Lenz, nachdem der Choral vorüber war, »so mein ich, solltest du auch in dich gehen und bereuen können.«

»Ich habe gegen dich nichts zu bereuen, und was ich zu bereuen habe, das sage ich nur Gott. Ich habe mit dir nichts gewollt, als was gut und rechtschaffen ist.«

»Und ich?«

»Du auch, soweit du eben kannst; ich bin gerechter gegen dich, als du gegen mich; du willst mich nicht dazu kommen lassen, daß ich was erwerbe.«

»Und deine entsetzlichen Worte?«

»Pah. Worte machen einem kein Loch in den Kopf.«

Lenz bat und beschwor sie, doch jetzt wenigstens vor dem Ohm gut und friedlich zu sein. Wie aus dem Traum entgegnete Annele: »Der Ohm und der Rabe da draußen, die sagen mir, daß wir jetzt sterben müssen.«

»Du bist doch sonst nicht abergläubisch; das wäre schrecklich, für dich am meisten. Du hast ja die Schrift und das Vermächtnis in den Sturm hinausgeschleudert und ihn gerufen, daß er kommen soll.«

Annele gab keine Antwort, und Lenz erhob sich nach einer Weile und sagte, er wolle sich durch die Höhlung, darin der Ohm gelegen, weiter durchgraben; wenn er nur bis zum Berg käme, dann könne er hinauf und Hilfe bringen. Annele hatte schon die Hand ausgestreckt, um ihn zurückzuhalten. Wenn der Schnee sich senkt und Lenz verschüttet wird, sie und Petrowitsch haben nicht Kraft, ihn wieder herauszuscharren. Sie hatte schon die Hand ausgestreckt, um ihn zurückzuhalten, aber sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und ließ ihn gehen. Er kam nach kurzer Weile wieder und sagte, der Schnee sei so locker, daß jede Höhlung gleich wieder einsinke, und es sei zu fürchten, daß es draußen unaufhörlich fortschneie. Er schaufelte nun den Schnee, den er beim Ausscharren des Ohms ins Haus gebracht, wieder hinaus und schob einen Schrank vor den Hauseingang, wo durch die zertrümmerte Thür immer mehr Schnee eindrang.

Er mußte sich umkleiden und sein Sonntagsgewand anziehen, es war sein Hochzeitskleid, das er anzog.

Heute vor fünf Jahren, sagte er wie für sich, sind viel Schlitten vor dem Löwen gestanden; wenn nur die Gäste von damals alle da wären, um uns auszugraben!

Petrowitsch war nach kurzem Schlafe in der Kammer erwacht, aber er hielt sich ruhig. Er besann sich mit Gelassenheit auf alles, was geschehen war. Eilen hilft hier nichts und Klagen auch nichts. Er hatte gestern sein ganzes vergangenes Leben noch einmal auferweckt, er hatte in kurzem Zeitraum alles noch einmal gelebt, und jetzt ist's am Ende. Das sagte er sich mit Ruhe. Wie er sich aber zu denen da draußen in der Stube verhalten solle, darüber konnte er lange nicht einig werden. Endlich rief er Lenz und verlangte seine Kleider, er wolle aufstehen. Lenz sagte, es sei kalt in der Stube und man könne nicht heizen, auch seien die Kleider naß. Petrowitsch aber verlangte dennoch aufzustehen und fragte: »Hast du nicht einen guten Schlafrock?«

»Wohl, ich habe einen, ich habe noch den von meinem seligen Vater. Wollt Ihr ihn anziehen?

»Wenn du keinen andern hast, gib her,« sagte Petrowitsch zornig, innerlich aber war's ihm wehmütig, ja fast bang, den Rock seines Bruders anzuziehen.

»Ihr sehet meinem Vater jetzt ganz gleich!« rief Lenz, »ganz ähnlich, nur ein wenig kleiner.«

»Ich habe eine harte Jugend gehabt, sonst wäre ich auch größer,« sagte Petrowitsch und schaute, als er in die Stube kam, in den Spiegel. Der Rabe schrie in der Küche, Petrowitsch erschrak und befahl Lenz gebieterisch, den Raben totzuschlagen. Lenz erklärte, daß er das nicht könne, und jetzt war Friede zu stiften zwischen Büble und der Hauskatze. Büble jammerte noch lange, er schien hart getroffen; die Katze wurde in die Küche gesperrt, das war doppelt gut, denn der Rabe war fortan still. Petrowitsch verlangte noch mehr von dem Kirschbranntwein, und Lenz erzählte, daß gottlob noch drei Flaschen da seien, die seien mindestens zwölf Jahre alt, die seien noch von seiner Mutter. Petrowitsch bereitete mit heißem Wasser und Zucker einen guten Grog. Er wurde gesprächsam und rief: »Es wäre doch gar zu toll! Habe meinen Körper durch die ganze Welt geschleppt, und jetzt soll ich daheim im elterlichen Haus zerquetscht werden. Geschieht mir recht; warum habe ich das dumme Heimweh nicht bezwingen können! Ja, Heimweh!« Er lachte laut auf und fuhr fort: »Mein Leben ist versichert, was hilft mir's jetzt? Und wißt ihr, wer uns da begraben hat? Der Ehrenmann, der dicke Löwenwirt, hat den Wald da über uns verfressen.«

»Leider Gottes, er begrabt damit sein Kind und Kindeskind,« setzte Lenz hinzu.

»Und ihr seid beide nicht wert, meinen Vater zu nennen!« schrie Annele mit gellender Stimme. »Mein Vater hat Unglück gehabt, aber schlecht ist er nicht, und wenn ihr noch so ein Wort sagt, zünde ich das Haus an.«

»Du bist verrückt!« rief Petrowitsch; »sollen wir ihm dafür danken, daß er uns den kleinen Schneeballen da auf den Kopf geworfen hat? Aber sei ruhig, Annele, komm her, setz' dich zu mir und gib mir die Hand. Annele! Ich will dir was sagen, ich hab' dich auch für nicht brav gehalten, aber jetzt bist du brav; das ist recht, das gefällt mir von dir, daß du nichts auf deinen Vater kommen lassest. Es gibt wenige, die bei einem aushalten, wenn man nichts mehr hat. O, wie hab' ich dich so lieb! heißt's, so lange man Geld im Beutel hat. Das ist brav von dir.« Annele schaute nur einmal auf zu Lenz, und er schlug den Blick nieder. Petrowitsch fuhr fort: »Es ist vielleicht gut, daß wir so bei einander sitzen, noch die Stunde; wer weiß, wie bald wir sterben müssen! und jetzt muß alles rein und klar heraus; Lenz, rück' auch ein bißchen näher. Ich glaube, du hast gewollt, deine Frau soll dich im Unglück trösten, und gerade, weil du unzufrieden gewesen bist mit dir und dir selber hast kein Lob gehen können, hast du von andern Lob erwartet, statt daß du ihr hättest Hilfe leisten sollen, dem stolzen Löwen-Annele. Ja, du bist stolz, schüttle den Kopf nicht. Stolz ist eine gute Sache, wenn nur der Lenz ein bißchen mehr hätte; ja, wart' nur, es kommt schon auch noch an dich.«

»Ja!« rief Annele, »er hat mich belogen, er hat mir eingeredet, er habe die Bürgschaft für den Faller gekündigt, und es ist doch nicht wahr.«

»Ich habe dir nichts gesagt, ich bin deinem beständigen Drängen nur ausgewichen.«

»Wie gesagt, die Reihe kommt auch an dich. Jetzt sag' mir nur eins, Annele,« fuhr Petrowitsch fort, »aber auf Ehre und Gewissen: hast du gewußt, wie du den Lenz geheiratet hast, daß dein Vater nichts mehr hat?«

»Soll ich's ganz ehrlich sagen?«

»Ja.«

»Nun denn, ich schwöre es vor Gott, daß es so gewesen ist: Ich hab' gewußt, daß mein Vater kein reicher Mann mehr ist, aber für vermögend habe ich ihn immer noch gehalten. Ich hab' den Lenz gern gehabt, wie wir noch reich gewesen sind; damals hat meine Mutter nichts davon wissen wollen. Meine Mutter hat mit uns immer hoch hinaus gewollt, und daneben hat sie mich auch nicht zu einer Schwiegermutter ins Haus geben wollen.«

»Du für dich wärst also zu meiner Mutter gegangen, wenn sie noch gelebt hätte, und der Pilgrim hat ja gesagt, das hättest du nie gethan?«

»Wenn er das gesagt hat, hat er die Wahrheit gesagt. Ich habe als Mädchen manches unnütze Wort gesprochen, um groß zu thun, und weil die Leute über Keckheiten lachen.«

Lenz schaute Annele groß an. Aber Petrowitsch sagte: »Rede jetzt nichts mehr drein, bis ich dich frage. Ihr beide habt einander betrogen und euch selbst betrogen. Ihr habt euch beide eingeredet, es sei lauter Liebe und Zärtlichkeit, warum ihr euch heiratet, und eigentlich hat jedes vom andern geglaubt, es sei reich, und wie sich gezeigt hat, daß das nicht ist, da ist der Grimmzorn und die Einbildung auf einmal mit einander im Herzen aufgestiegen. Sag', Lenz, hast du nicht geglaubt, das Annele sei reich?«

»Ja, das habe ich geglaubt. Aber, Ohm, daß mich das Elend verzehrt, daß mir das Herz blutet und das Hirn brennt, das stammt nicht davon her. Ich habe nicht danach gefragt, aber ich hab's geglaubt, daß der Löwenwirt reich sei.«

»Und du, Annele?«

»Ich nicht. Und wenn ihr beide mich mitten voneinander reißt, es ist nicht wahr.«

»Gut, du bist doch nicht ganz heraus, aber das wirst du doch gestehen: ihr seid beide im selben Spital krank. Du, Lenz, bist auf deine Gutheit und auf deine Gescheitheit eingebildet. Ist das auch nicht wahr, Annele?«

»Ich habe mir nichts auf meine Gescheitheit eingebildet, aber ich bin doch gescheiter und erfahrener als er und weiß mir eher zu helfen. Und wenn er mir nachgegeben und wir ein Wirtshaus angeschafft hätten, säßen wir jetzt nicht da im Elend, vielleicht im Tod.«

»Und wie hast du ihn dazu bringen wollen, daß er dir nachgibt?«

»Ich habe ihm gezeigt, daß er der Garnichts ist, der Stiftlessucher. Ich leugne nichts. Ich habe ihn mitten voneinander entzweigebrochen und ihm gesagt, was mir in den Mund gekommen ist, und je weher es ihm gethan hat, desto lieber ist mir's gewesen.«

»Annele, glaubst du an die Hölle?«

»Ich muß, ich hab' sie ja vor mir, ich bin in der Gewalt von euch beiden, ärger kann's drüben keine Hölle geben. Ihr beide könnt mich jetzt quälen, wie ihr wollt, ich kann mich nicht wehren, ich bin eine schwache Frau!«

»Schwache Frau?« schrie Petrowitsch. Seine Stimme war ungewöhnlich stark. »Schwache Frau? Das ist das Rechte. Widerspenstig bleiben, daß man die Wand hinauf möchte vor Verzweiflung, einem Gift ins Herz spritzen, daß man toll wird, und nachher heißt's: Ich bin eine schwache Frau!«

»Ich könnte lügen,« fuhr Annele fort, »und euch jetzt alles versprechen, aber ich will nicht; lieber lasse ich mich zerreißen, ehe ich einen Punkt von meinem Recht nachgebe. Alles, was ich gesagt habe, ist wahr; daß ich's giftig gesagt habe, ist auch wahr.«

»So? Alles ist wahr?« schrie Lenz leichenblaß. »Denk nur an eines! Du hast gesagt, meine Gutthaten seien nur ein Deckmantel für meine Faulheit, und du hast gesagt, ich hätte meine Mutter schlecht behandelt. Meine Mutter! Wie wird dir's sein, wenn wir jetzt in einer Stunde vielleicht vor sie treten?«

Annele schwieg; Petrowitsch schärfte sich lange die Lippen mit den Zähnen, er konnte nicht reden, endlich sagte er: »Annele, wenn er dich erdrosselt hätte auf das Wort, er wäre geköpft worden, aber er würde vor Gott unschuldig befunden. Ja, du Wirtstöchterle mit deinem Wirtsstubenmäulchen, du bist gewitzigt, du hast gewiß auch von schuftigen, hängenswerten Fuhrknechten gehört, daß sie den Pferden, wenn sie nicht schnell genug laufen, brennenden Zunder ins Ohr legen – du hast dem Lenz solche Worte wie brennenden Zunder ins Ohr gelegt und hast ihn rasend gemacht. Da meine Hand, Lenz, du bist ein Blickbettler, du gehst herum und bittest jeden: Sieh mich gut an, gib mir ein gutes Wort; das ist armselig. Aber solche Strafe hast du nicht verdient, du hast's nicht verdient, daß ein Teufel dich verrückt macht. Das Kind her! Du bist nicht wert, ein unschuldiges Kind auf dem Arm zu haben.«

Er entriß ihr das Kind; das Kind schrie laut, aber Lenz trat dazwischen und sagte: »Nicht so, Ohm. Nicht so. Annele, hör mich gut an, ich will gut mit dir reden. Annele, wir stehen da vor dem offenen Grab . . .«

»Weh!« rief Annele und bedeckte das Gesicht, und Lenz fuhr fort: »Auch du stehst vor deinem offenen Grab . . .«

Annele gab keine Antwort mehr, sie sank leblos auf den Boden.


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