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Zweites Kapitel. Der Leidtragende und sein Gefährte.

Vom Dorfe aus führt ein schmaler Fußweg nach einem »einzecht« stehenden strohgedeckten Hause, nur ein kleines Stück des Daches, da, wo der Schornstein angebracht ist, ist mit Ziegeln gedeckt. Man sieht das Haus erst, wenn man eine gute Viertelstunde aufwärts geschritten ist. Der Weg führt hinter der Kirche vorbei, zuerst zwischen Hecken, dann frei durch die Matten, wo man das Rauschen des Fichtenwaldes hört, der den ganzen steilen Berg bedeckt. Hinter diesem Berge – Spannreute genannt – türmen sich wieder andre empor; der Vorberg ist aber so steil, daß man eben jetzt die Garben von den Feldern auf der Hochebene nur auf Schlitten thalwärts bringen kann.

Auf dem Fußweg zwischen den Hecken gingen jetzt zwei Männer hintereinander; der Vorausschreitende war ein kleiner alter Mann, äußerst wohlhäbig gekleidet. Er trug einen Krückstock in der Hand, zur Vorsicht hatte er noch die Troddel an dem Stocke um das Handgelenk geschlungen. Der Alte hatte aber noch einen festen Schritt, er bewegte sein Gesicht, das aus lauter Runzeln zu bestehen schien, auf und nieder, denn er schmatzte an einem Stückchen weißen Zuckers und nahm von Zeit zu Zeit immer wieder ein Stück aus der Tasche. Die rötlichblonden Brauen des Alten standen aufgeborstet, fast wagrecht, und kluge, hellblaue Augen lugten darunter hervor. Der junge Mann, der hinter dem Alten dreinschritt, war groß und schlank, er trug einen langschoßigen blauen Rock und hatte den Trauerflor um Hut und Arm. Er hatte das Gesicht zur Erde gekehrt und schüttelte bisweilen den Kopf. Jetzt richtete er sich auf, ein hellfarbiges Gesicht mit blondem Barte zeigte sich, die Augenlider über den blauen Augen waren gerötet.

»Ohm,« sagte er jetzt stehenbleibend, seine Stimme klang heiser.

Der Zuckerschmatzende wandte sich um.

»Ohm, es ist genug. Ich danke Euch vielmal, der Weg ist weit, und ich möcht' allein heim.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht, aber es ist mir so –«

»Nein, kehr' lieber mit mir um.«

»Ohm, es thut mir leid, daß ich Euch nicht folgen kann, aber ich kann nicht, ich kann jetzt nicht ins Wirtshaus gehen; ich habe keinen Hunger und keinen Durst. Ich kann mir's auch nicht denken, wann ich je wieder essen oder trinken soll. Es thut mir leid, daß Ihr jetzt wegen meiner den weiten Weg macht.«

»Nein, nein, ich gehe mit dir, ich bin nicht so hartherzig, wie dir deine Mutter eingeredet hat.«

»Meine Mutter hat mir gar nichts eingeredet von Euch, sie hat ihr Leben lang nur Gutes von den Menschen gesprochen und besonders von Verwandten, da hat sie's gar nicht hören können, wenn eines das oder das hätte sagen wollen. Sie hat's so im Sprichwort gehabt: Schind' ich meine Nase, schänd' ich mein Angesicht.«

»Ja, ja, sie hat viel Sprichwörter gehabt; in der ganzen Gegend heißt's ja immer: So und so hat die Lenz-Marie gesagt. Man soll Toten nur Gutes nachsagen, und ihr kann man ja auch nichts Böses nachsagen.«

Der junge Mann sah den Alten von der Seite traurig an. Wenn der auch was Gutes sagte, war's doch immer so, daß er einem dabei einen Druck ins Genick gab.

»Ja, Ohm,« fuhr der junge Mann fort, »wie oft hat sie's in den letzten Tagen noch gesagt, und das hat mir im Herzen so weh gethan: Lenz, hat sie gesagt, ich sterb' dir sechs Jahre zu spät. Mit fünfundzwanzig Jahren hättest du heiraten müssen, und jetzt wird's dir immer schwerer, und du hast dich so an mich gewöhnt, und das kann nicht so bleiben. . . . Ich hab' ihr das nicht ausreden können, und das ist das einzige, was ihr den Tod schwer gemacht hat.«

»Und sie hat recht gehabt,« sagte der Zuckerschmatzende, »sie ist gutmütig gewesen, freilich auch eigenwillig, aber das geht niemand was an. Aber mit ihrer Gutmütigkeit hat sie dich verdorben. Du bist verwöhnt. Ich hab's dir eigentlich jetzt nicht sagen wollen, es hat Zeit, wenn ich dir das ein andermal vorstelle. Jetzt aber folge mir und thue nicht so kindisch. Du thust ja, wie wenn du nicht mehr wüßtest, wo aus noch ein. Das ist der Lauf der Welt, daß deine Mutter vor dir sterben muß, und Vorwürfe, daß du sie nicht gut behandelt hast, hast du dir ja auch keine zu machen.«

»Nein, gottlob nicht!«

»Gut, so zeig dich jetzt als Mann und laß das Heulen und Weinen. Du hast ja da auf dem Kirchhof geweint, so habe ich mein Leben lang nicht weinen gesehen.«

»Ja, Ohm, ich kann's nicht sagen, wie mir's war. Ich habe um meine Mutter geweint, aber auch um mich. Wie da unser Liederkranz gesungen hat, unsre Lieder, die ich selber mitsinge, und ich bin dabei, stumm und tot, da war mir's, wie wenn ich schon selber tot wäre, und sie singen mir ins Grab, und ich kann nicht einstimmen –«

»Du bist« – sagte der Alte, er wollte etwas hinzusetzen, aber er verschluckte es und schritt fürbaß; nur der kleine Hund, der vorausging, schaute in das Gesicht des Alten, und der Hund schüttelte den Kopf; solche Mienen hatte er an seinem Herrn noch nie gesehen.

Nach einer Weile hielt der Alte von selbst an und sagte: »Ich kehr' meinetwegen da um. Nur noch eins. Nimm dir jetzt niemand ins Haus von Anverwandten deiner Mutter, das du nachher fortschicken mußt. Sie vergessen dir alles Gute, was du ihnen gethan, und sind bös, weil das nicht ewig so fortgehen kann. Und schenk jetzt auch nichts weg, mag kommen, wer will. Wenn du was wegschenken willst, laß zuerst ein paar Wochen ins Land gehen. Nimm die Schlüssel zu dir, wenn du heimkommst. So, jetzt behüt dich Gott und sei ein Mann!«

»Behüt's Gott, Ohm!« sagte der junge Mann und schritt voran, seinem Hause zu. Er hielt den Blick noch immer zur Erde geheftet, aber er wußte doch bei jedem Schritt, wo er war; er kannte jeden Stein am Wege. Als er vor dem Hause stand, war's ihm, als könne er nicht über die Schwelle.

Was ist da schon alles aus und ein gegangen, und was wird da noch werden?! Man muß es tragen. –

Die alte Magd saß in der Küche auf dem feuerlosen Herde, sie hielt sich die Schürze vor das Gesicht, und als der junge Mann vorüberging, sagte sie schluchzend: »Bist du's, Lenz? Grüß' Gott!«

In der Stube war es so leer, und doch war alles noch da: die Werkbank mit den fünf Einschnitten für die gleiche Zahl Arbeiter an den ununterbrochen aneinander gereihten Fenstern, das Werkzeug hing in Riemen und Haken die Wände entlang, die Uhren tickten, die Turteltauben girrten, und doch ist alles so leer, so ausgestorben und öde; der Armstuhl stand da wie mit geöffneten Armen und wartete . . . Lenz stützte sich auf die Lehne und weinte bitterlich. Jetzt richtete er sich auf und wollte nach der Kammer. »Es ist nicht wahr, daß du nicht mehr da bist,« sagte er fast laut – er erschrak vor seiner eigenen Stimme und setzte sich ermattet in den Stuhl, wo die Mutter so oft gesessen.

Endlich faßte er Mut und ging in die verlassene Kammer.

»Ich meine, ich müßte dir noch etwas nachschicken können, du hättest was vergessen!« sagte er wieder, und mit einem stillen Schauer öffnete er den Schrank der Mutter, in den er nie gesehen; es war ihm fast wie ein Frevel, daß er es wagte, und doch that er's. Vielleicht hat sie dir noch ein Zeichen, ein Wort hinterlassen. Er fand die Einbände (Patengeschenke) seiner verstorbenen Geschwister, jedes mit Namen genannt, und auch seine eigenen Einbände; daneben einige alte Denkmünzen, den Konfirmandenschein der Mutter, ihren Brautkranz, verdorrt, aber wohl eingewickelt, ihre Granatenschnur, und in einem besondern Kästchen, fünffach in seines Papier gewickelt, ein sammetartiges, weißes Pflänzchen und dabei ein Papier, beschrieben von der Mutter Hand. Der Sohn las zuerst leise, dann, als wollte er die Worte der Mutter auch hören, las er halblaut: »Das ist ein Pflänzchen Edelweiß –«

»Es ist Essen da!« rief plötzlich eine Stimme durch die geöffnete Kammerthür.

Lenz schrak zusammen, als hörte er eine Geisterstimme, und doch hatte nur die alte Franzl gerufen.

»Ich komme gleich,« antwortete Lenz, drückte die Kammerthür schnell zu, verriegelte sie, wickelte alles wieder behutsam ein und kam endlich in die Stube. Er sah nichts mehr davon, wie Franzl den Kopf schüttelte über die Geheimthuerei.


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